08.02.2008

Kain und Abel, Stadt und Land

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Kain und Abel, Stadt und Land

Orient wie Okzident kennen gleichermaßen die Sehnsucht nach einer Zeit, in der die Früchte der Natur ohne den Einsatz von Arbeit zu haben waren: Es ist das Goldene Zeitalter bei Hesiod, der Garten Eden in der Genesis, die Große Gemeinschaft (datong) bei Konfuzius. In diesen glücklichen Zeiten gab es keine Stadt, denn sie ist das Wahrzeichen der menschlichen Arbeit und der Ort, an dem diese die Natur am meisten verändert hat. In der Bibel ist sie ein Ort des Verhängnisses. Ihre Verurteilung findet sich auch bei Konfuzius, wo die Stadt mit ihren Wassergräben Zeichen einer heillosen Absonderung und Dekadenz ist.

Doch sind es im Osten wie im Westen die Städte, die sich Macht verschafft und Geschichte geschrieben haben. Vor allem haben sie „die Natur“ definiert. Es funktioniert nach dem Prinzip „Grotte des Pan“: Um Pan dafür zu danken, dass er ihnen in der Schlacht von Marathon geholfen und „Panik“ unter den Persern ausgelöst hatte, trugen die Athener 490 v. Chr. die Statue des arkadischen Hirtengottes auf die Akropolis und stellten sie in einer Grotte auf. In Arkadien für Pan errichtete man ihm, wie den anderen Göttern, Tempel.

Die Grotte drückte aus, was Pan von nun an tatsächlich symbolisieren sollte: „die Natur“. Diesen Begriff kannten die Hirten nicht, Städter haben ihn erfunden.

Die Stadt beschränkte sich nicht nur darauf, den Bauern „die Natur“ zu entwenden, obwohl diese doch a priori viel eher sagen könnten, was sie ist, schließlich arbeiten sie unmittelbar mit und in ihr. Indem die Stadt diese Arbeit ignoriert, hat sie das Land in „Natur“ verwandelt. Es erscheint in den Augen des gebildeten Städters als „die Natur“, obgleich es Produkt tausender von Jahren Arbeit ist.

Im Chinesischen bedeutet das Schriftzeichen für „Land“ auch „wild“. Von den hohen Stadtmauern aus scheinen Land und Natur tatsächlich ineinander überzugehen: Gemeinsam ist ihnen die Nichturbanität.

Dasselbe Phänomen im Okzident. Für Hesiod bescherte der Boden im Goldenen Zeitalter „immer von selbst“ (automatê) Früchte.1 Vergil aktualisiert den Mythos: „die vollkommen gerechte Erde“ (also: die Natur) „von selbst […] aus dem Boden lässt leichten Unterhalt“.2

In alldem steckt dieselbe Logik: Von der Stadt aus ist von der bäuerlichen Arbeit nichts zu sehen. Sie ist ausgeschlossen, nach „draußen“ (lat.: foris), verbannt von der herrschenden Klasse, die vor ihr „die Tür verschließt“ und die Augen gleich mit.

Diese Logik wird besser verständlich, wenn man sie auf die „Theorie der Freizeitklasse“ von Thorstein Veblen bezieht.3 Denn es ist in der Tat die müßige Oberschicht, die über mehr als zwei Jahrtausende die bis heute wirksamen Repräsentationen der „Natur“ konstruiert hat. Sie hat das Land zum Inbegriff der außerhalb von den Mauern der geschäftigen Stadt verorteten Nichtarbeit gemacht.

Diese Verzauberung zeigt sich besonders anschaulich während der entscheidenden Phase, der Erfindung der Landschaft durch die Mandarine der sechs Dynastien im China des 4. Jahrhunderts. Was bis dahin das Lebensumfeld der Bauern ausmachte, wurde nun Gegenstand des ästhetischen Genusses für diejenigen, die das Land nicht zu bewirtschaften hatten. Das ästhetische Vergnügen verlangt, wie der erste Landschaftsdichter Xie Lingyun (385 bis 433) wusste, „Geschmack“ (shang), zu dem die Bauerntölpel nicht fähig sind. Dieselben Mandarine erfanden die Ermitage auf dem Lande.

Ebendieser Geschmack hat auch den Petit Trianon in Versailles hervorgebracht, wo Marie Antoinette Schäferin spielte. Er hat Cézanne zu der Äußerung veranlasst, die Bauern aus der Region Aix würden den Berg Sainte-Victoire vor ihrer Nase gar nicht wahrnehmen.

Wir Liebhaber der „Natur“ sind allesamt Nachfahren des Xie Lingyun, der sich als Einsamer vor der Landschaft sah – wie der Wanderer von Caspar David Friedrich –, obwohl ihn ein Heer von Bediensteten begleitete.4 Wir haben dieses Prinzip sogar noch erweitert: mit unseren Maschinen. Genau das zeigt sich im riesigen ökologischen Fußabdruck unseres Lebensstils.

Fußnoten: 1 Hesiod, „Werke und Tage“, Leipzig 1938, Vers 117 f. 2 Vergil, „Georgica“, München 1957, Zweites Buch, S. 458–460. 3 Thorstein Veblen, „Theorie der feinen Leute“, Frankfurt am Main (Fischer) 1996. 4 Obi Kôichi, „Sha Reiun. Kodoku no sansui shijin“ („Xie Lingyun, der einsame Dichter der Landschaft“), Tokio (Kyûko shoin) 1983.

Le Monde diplomatique vom 08.02.2008