08.02.2008

Am Busen der Natur

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Am Busen der Natur

Wer ein Häuschen im Grünen baut, macht kaputt, was er sucht von Augustin Berque

Im Oktober 2000 fand in Philadelphia eine große Konferenz über menschliche Siedlungsweisen statt. Einer der Redner war der in Dallas lehrende Geograf Brian J. L. Berry, der in seinen Ausführungen über die USA den sonderbaren Terminus „E-Urbanisierung“ benutzte. Laut Berry verläuft die Computerrevolution exakt nach dem Muster des American Creed, des amerikanischen Mythos. Dieser finde sich bereits in den „Letters from an American Farmer“ von Hector Saint John de Crèvecoeur (1782)1 . Darin erklärt der Autor das typisch Amerikanische durch eine Verbindung mehrerer Merkmale: erstens der Lust am Neuen, zweitens des Wunsches, der Natur nah zu sein, drittens des Schmelztiegels, aus dem die amerikanische „neue Rasse“ entstehen soll, und viertens des Gefühls fürs Schicksalshafte.

Nach Berry wurde die durch dieses Paradigma angestoßene Zersiedelung später, in der Zeit der Schwerindustrie, vorübergehend abgebremst, weil diese räumliche Konzentration erforderte. Durch das Automobil jedoch habe dann die Metropolisierung begonnen und mit ihr die Auflösung der städtischen Zentren. Siedlungen wurden aufgelockert, und es entwickelten sich individuelle, aber zunehmend stereotype Interaktionsformen. Dies begünstigt Distanzbeziehungen, wie sie der zum motorisierten Individualverkehr gehörende Raumverbrauch mit sich bringt.

Der Cyperspace konkretisiert sich in der E-Urbanisierung, und beide haben laut Berry diese Tendenz deutlich verstärkt. Dank Internet ist es fortan möglich, in der Natur zu wohnen und, ohne in der Stadt arbeiten oder einkaufen zu müssen, alles von zu Hause aus zu erledigen. Gemäß der Logik des von Crèvecoeur formulierten Paradigmas verwirklicht das Internet durch die Abschaffung der Stadt das Wesen der Amerikanität.

In Europa bildet das Ideal der Stadt bis zu einem gewissen Grad noch eine Art Gegenmodell. Als Berry gefragt wurde, was seiner Meinung nach in den USA dem Ideal von Stadt entspreche und zur letzten Form der Zersiedelung, der E-Urbanisierung, geführt habe, antwortete er nach kurzem Überlegen: „die Natur“.

Ich unterrichtete damals an einer japanischen Universität und beschäftigte mich mit der Anwendung der Informatik im menschlichen Lebensraum. Bei einer Diskussion hatten meine Studenten von Idealvorstellungen gesprochen, die denen Berrys sehr nahekamen. Mit einem kleinen Unterschied: Für sie erklärte sich der Wunsch, in der Natur zu leben, aus der japanischen Mentalität, die stets über die technologischen Veränderungen hinausgelangen, sie transzendieren will. Aber in der Vorstellung, der Mensch finde den Ausdruck seiner Authentizität in der Natur, stimmen der amerikanische Mythos und sein japanisches Äquivalent durchaus überein.

Es ist indes erstaunlich, dass in beiden Ländern eine Zersiedelung zu beobachten ist, die auf die Natur keinerlei Rücksicht nimmt, die Belastung der Umwelt erhöht und letztlich das zerstört, was doch angeblich gesucht wird. Das lässt sich durch das „Gleichnis vom Tofu-Lieferanten“ veranschaulichen: Man stelle sich eine traditionelle, relativ kompakte Stadt vor der Verbreitung des Automobils vor. Hundert Einwohner kaufen ihren Tofu zu Fuß in einem Laden an der Ecke. Jetzt stelle man sich eine zersiedelte Wohngegend vor. Die hundert Einwohner leben jeder für sich in einem Haus, abgeschieden am Ende einer kleinen Straße, mitten in der Landschaft. Und jeder bestellt seinen Tofu im Internet. Es sind hundert Fahrten nötig, um hundert Tofu-Bestellungen in hundert Straßen auszuliefern. Was ist ökologischer, die kompakte Stadt oder die diffuse Siedlung?

Urbanisten und Geografen haben schon vor einiger Zeit nachgewiesen und durch Zahlen belegt, dass eine zersiedelte Wohngegend viel teurer ist als eine Stadt. Aber was sie auch vorbrachten, man hielt ihnen stets das durch Umfrageergebnisse untermauerte Totschlagargument entgegen: Drei Viertel der Menschen wollen nun mal in einem eigenen Haus leben. Und der Markt hat unmissverständlich entschieden: Während des letzten Drittels des 20. Jahrhunderts hat sich das Phänomen der Zersiedlung in allen reichen Ländern ausgebreitet. Da es direkt mit der Nutzung des Automobils zusammenhängt, zeigte sich das Phänomen zuerst in den USA. Der amerikanische Urbanist Melvin Webber machte 1964 als Erster darauf aufmerksam. Laut Webber ist an die Stelle der Stadt von einst, die vom Land deutlich abgegrenzt und unterschieden war, etwas getreten, das er als „Stadtraum“ bezeichnete.2

Diese Form der Urbanisierung ist nicht zu verwechseln mit der rasanten Zunahme von Megacitys, wie sie gegenwärtig die armen Länder erleben.

Die Bewohner des zersiedelten städtischen Umlands sind soziologisch gesehen Städter, aber sie suchen ein ländliches Wohnumfeld. Deshalb fliehen sie aus der Stadt, endgültig oder nur vorübergehend an Wochenenden. Im Gegensatz dazu verlassen in den armen Ländern die Menschen das Land, um in der Stadt zu leben, wie sie es einst auch in den heute wohlhabenden Ländern taten.

Zwischen diesen beiden theoretischen Polen gibt es zahlreiche Formen. Historisch geht die Vorstadt dem zersiedelten städtischen Umland voraus. Seit diesem Stadium entwickelt sich die Situation von Land zu Land verschieden. Grob gesprochen lässt sich ein „ozeanischer“ Typus, bei dem tendenziell eher die Reichen vom Zentrum entfernt leben, von einem „kontinentalen“ Typus unterscheiden, bei dem eher die armen Leute außerhalb der Stadt leben. Die angelsächsische Welt und Japan gehören dem ozeanischen Typus an, Frankreich dem kontinentalen.

In den Großstädten hat sich die Entwicklung neuerdings weiter verkompliziert, seit aufgrund der zunehmenden Verbürgerlichung die Bodenspekulation zugenommen hat und die Wohnungs- und Mietpreise für die Mittelschichten unerschwinglich geworden sind.3 In Japan beispielsweise entstehen im Zuge der Stadtsanierung in den Innenstadtvierteln vermehrt Hochhäuser, sogenannte manshon, deren Wohnungen teuer verkauft werden.

In den reichen Ländern gibt es weltweit die Tendenz zur Zersiedelung aller Gebiete. Das bedeutet, dass eine vom Typus her städtische Bevölkerung dazu neigt, sich auf dem Land niederzulassen und an die Stelle der früheren Landbewohner zu treten. Welche Gründe auch immer zu der Entscheidung führen, mehr oder weniger weit vom Zentrum entfernt Wohnraum zu erwerben – als Hauptmotiv dieser Bewegung offenbart sich stets der Wunsch, näher an der Natur zu leben.

Nun ist freilich für einen durchschnittlichen Amerikaner „die Natur“ nicht dasselbe wie für einen durchschnittlichen Japaner.4 Das Verständnis von „der Natur“ hängt nicht zuletzt vom jeweiligen Milieu und der Geschichte ab. Im Phänomen der Zersiedelung jedoch zeigt sich eine Annäherung der Lebensweisen. Wie kam es also dazu, dass die wohlhabenden Gesellschaften das Leben im eigenen Häuschen in größtmöglicher Nähe zur Natur zum Ideal erhoben (siehe Kasten)?

Von ihren frühesten mythologischen Ausformungen bis zu den gegenwärtigen Begründungen erstreckt sich die Geschichte dieses Ideals über drei Jahrtausende. Heute mündet sie in einem unhaltbaren Paradox: Die Suche nach „der Natur“ (im Sinne von Landschaft) zerstört ihren eigenen Gegenstand: die Natur (im Sinne von Ökosystem und Biosphäre). Das an das Automobil gekoppelte Eigenheim ist tatsächlich zum Leitmotiv eines Lebensstils geworden, dessen riesiger ökologischer Fußabdruck5 langfristig zu einer unhaltbaren Überbeanspruchung der natürlichen Ressourcen führt.

Die städtebaulichen Implikationen der Frage erscheinen völlig klar. Kurz gesagt: Der ökologische Fußabdruck fällt beim Wohnen in einem Mehrfamilienhaus und der Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel wesentlich kleiner aus.6 Und umgekehrt: Die Zersiedelung des städtischen Umlands verschwendet das ökologische Kapital der Menschheit, und das ist letztlich selbstmörderisch.

Fußnoten: 1 Den englischen Vornamen hatte sich der Franzose Michel-Guillaume Jean de Crèvecoeur (1735 bis 1813) zugelegt, als er sich 1759, nach der Eroberung Quebecs durch die Engländer, in New York niederließ. 2 Melvin Webber, „The Urban Place and the Non-Place Urban Realm“, in: ders. et al., „Explorations in Urban Structure“, Philadelphia (University of Pennsylvania Press) 1964, S. 19–41. 3 Siehe François Ruffin, „Stadt von morgen“, Le Monde diplomatique, Februar 2007. 4 Man vergleiche etwa Max Oelschlaeger, „The Idea of Wilderness. From Prehistory to the Age of Ecology“, New Haven (Yale University Press) 1991 sowie Augustin Berque, „Le Sauvage et l’artifice. Les Japonais devant la nature“, Paris (Gallimard) 1986. 5 Die von den Ökosystemen benötigte Fläche zur Erneuerung der von uns verbrauchten Ressourcen: Der ökologische Fußabdruck der Menschen übersteigt heute die Biokapazität der Erde um mehr als ein Drittel. 6 Eine häufig zitierte Studie von Peter Newman und Jeff Kenworthy vergleicht den Treibstoffverbrauch in 32 reichen Städten und zeigt, dass dieser umgekehrt proportional zur Bevölkerungsdichte ist: maximal in Houston, minimal in Hongkong, siehe etwa Libération, 12./13. Januar 2007, S. 34.

Aus dem Französischen von Uta Rüenauver Augustin Berque ist Geograf und Orientalist an der École des hautes études en sciences sociales (EHSS). Derzeit betreut er das internationale Forschungsprojekt „L’habitat insoutenable – Unsustainability in human settlements“. Auf Deutsch erschien von ihm: „Japan und der Westen“, Frankfurt am Main (Fischer) 1986.

Le Monde diplomatique vom 08.02.2008, von Augustin Berque