14.03.2008

Geheimsache Tschernobyl

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Geheimsache Tschernobyl

Strahlenschäden sind für die WHO tabu von Alison Katz

Die Protokolle der UN-Konferenzen zum Thema Tschernobyl, die 1995 in Genf und 2001 in Kiew stattfanden, wurden nie veröffentlicht. Das Gegenteil behauptete noch im Juni letzten Jahres WHO-Sprecher Gregory Hartl. Selbst als Journalisten nachhakten, hielt man an dem Lügenmärchen fest. Lediglich die Zusammenfassungen der in Kiew gehaltenen Vorträge – sowie zwölf von mehreren hundert der in Genf eingereichten Redemanuskripte – wurden der Öffentlichkeit zugänglich gemacht.

Seit dem 26. April 2007, dem 21. Jahrestag von Tschernobyl, werden die Angestellten der Weltgesundheitsbehörde jeden Morgen von Demonstranten empfangen. Deren Plakate verweisen darauf, dass rund um Tschernobyl eine Million Kinder an den Folgen der radioaktiven Verseuchung erkrankt sind.1 Die Mahnwachen organisiert die internationale Initiative „For an Independent WHO“. Sie bezichtigt die WHO der Komplizenschaft bei der Vertuschung der Folgen des Reaktorunglücks sowie der unterlassenen Hilfeleistung für die betroffene Bevölkerung.

Die Initiative fordert, Artikel 1, Paragraf 2 im Abkommen zwischen der WHO und der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEO)2 zu revidieren. Nach dieser Bestimmung muss die WHO, bevor sie im Nuklearbereich „ein Forschungsprogramm oder eine Maßnahme einleitet“, die Internationale Atomenergiebehörde (IAEO) konsultieren, um die betreffende Frage „einvernehmlich zu regeln“.

Eine Änderung dieses Artikels soll auf der Weltgesundheitsversammlung3 im kommenden Mai durchgesetzt werden.4 Die Initiative argumentiert, dass die WHO von der IAEO unabhängig sein muss, wenn sie die Fakten, auf deren Basis man geeignete Therapien für die Opfer der radioaktiven Verseuchung entwickeln könnte, wissenschaftlich und unvoreingenommen bewerten soll.

Die IAEO verfolgt gemäß ihrer Statuten das Ziel, „die Nutzung der Atomenergie für Frieden, Gesundheit und Wohlstand in der ganzen Welt zu fördern und zu verbreiten“. Tatsächlich ist sie eine Lobbyorganisation (mit militärischer Dimension), die in der Gesundheits- und Wissenschaftspolitik gar nicht erst mitreden sollte.

Einige Beispiele können zeigen, warum. So konnte die IAEO mit ihrem Veto von der WHO bereits geplante Konferenzen zum Thema Radioaktivität und Gesundheit verhindern. Die WHO wiederum hat die grotesken Mortalitäts- und Morbiditätsstatistiken abgesegnet, mit denen die Atomagentur nach Tschernobyl belegen wollte, dass es nur 56 Tote und 4 000 Fälle von Schilddrüsenkrebs gegeben habe.5

Die WHO an der kurzen Leine der Atombehörde

Die Leugnung von Strahlenkrankheiten führt unausweichlich zu Versorgungsmängeln. Weltweit leben neun Millionen Menschen in stark radioaktiv verseuchten Gebieten. Seit 22 Jahren nehmen sie kontaminierte Nahrungsmittel zu sich, mit den bekannten Folgen.6 Doch die Befürworter der Kernenergie betrachten jede Untersuchung über die schädlichen Auswirkungen ionisierender Strahlung nur als wirtschaftliches Risiko, das man um jeden Preis verhindern muss.

Entsprechend tauchten in der Studie, die 1991 von den Gesundheitsministerien der Ukraine, Weißrusslands und der Russischen Föderation gefordert wurde, Forschungen über mögliche Schädigungen des menschlichen Erbguts gar nicht erst auf. Obgleich diese Länder ihren Forschungsantrag bei der WHO gestellt hatten, lag die Federführung des Projekts am Ende bei der Atombehörde. Und die setzte andere Prioritäten, etwa mit einer Studie zur Entwicklung von Karies.

Dieser Interessenkonflikt hatte für hunderttausende Menschen fatale Konsequenzen, wie unabhängige Wissenschaftler und Institutionen aufgezeigt haben.7 Dabei sind die schlimmsten Folgen noch gar nicht abzusehen, da sich die radioaktiven Isotope erst nach und nach in den inneren Organen anreichern und die Schäden am menschlichen Genom erst bei künftigen Generationen sichtbar werden.

Hunderte epidemiologischer Studien, die in der Ukraine, Weißrussland und der Russischen Föderation durchgeführt wurden, ermittelten eine signifikante Erhöhung von Krebserkrankungen jeden Typs (mit tausenden von Todesfällen), einen Anstieg der Kinder- und perinatalen Sterblichkeit sowie eine große Zahl von Spontanaborten. Hinzu kommt eine wachsende Zahl von Deformationen und genetischen Anomalien, Störungen der geistigen Entwicklung, neuropsychologischen Erkrankungen, Fällen von Blindheit, Erkrankungen der Atemwege, des Herz-Kreislauf-Systems, des Magen-Darm-Trakts, der Harnwege sowie Stoffwechselkrankheiten.8

Doch wer wird diesen Studien Glauben schenken? Vier Monate nach Tschernobyl erklärte der Leiter für Reaktorsicherheit der IAEO, Morris Rosen: „Selbst wenn jedes Jahr ein solcher Unfall passieren würde, wäre die Kernenergie für mich weiterhin eine günstige Energiequelle“.9 Wenn die Öffentlichkeit über die wahren Folgen der Katastrophe von 1986 Bescheid wüsste, wären alle Debatten über die Atomenergie blitzschnell beendet. Deshalb hat die WHO Angst vor den Kindern von Tschernobyl.

Jahrzehntelang haben die Lobbys der Tabakindustrie, der Agrar- und Petrochemie die Umsetzung von Gesundheits- und Umweltschutzmaßnahmen blockiert, die ihre Profite bedroht hätten. Doch die Atomlobby ist noch mächtiger: Sie hat die Regierungen der Atomstaaten hinter sich, insbesondere die USA, Großbritannien und Frankreich, sowie mächtige staatenübergreifende Organisationen. Diese staatlich gesponserte militärisch-industrielle Lobby bringt unentwegt eine Unzahl falscher Informationen in Umlauf.

Korrumpierte Wissenschaftler sind selbst in den angesehensten Universitäten und Forschungseinrichtungen anzutreffen. In einem Leitartikel der britischen medizinischen Fachzeitschrift The Lancet werden die Universitäten als „regelrechte Unternehmen“ bezeichnet, „die ihre Entdeckungen eigennützig in bare Münze umwandeln, statt ihren Status als unabhängige Forschungseinrichtungen zu verteidigen“.10 Die von wissenschaftlichen Kapazitäten unterschriebenen Expertisen über die „Sicherheit“ von Nuklearanlagen werden häufig von der Atomlobby selbst in Auftrag gegeben oder finanziert oder beides.

Bekanntlich wurde auch der Treibhauseffekt von Wissenschaftlern geleugnet, die sich von Konzernen kaufen ließen. Aber während die für den Klimawandel verantwortlichen Emissionen (theoretisch) noch begrenzt werden können, ist das bei den nuklearen Abfällen der Atomenergie nicht mehr möglich. Selbst wenn man ab morgen alle Formen atomarer Nutzung einstellen würde – ihre Hinterlassenschaften würden das Leben auf der Erde trotzdem noch jahrtausendelang beeinflussen.

Die „Wissenschaft“, die Informationen über Atomenergie im Allgemeinen und über die Katastrophe von Tschernobyl im Besonderen liefert, ist bei der Frage nach dem Gesundheitsrisiko zugleich Richter und Partei. Sämtliche mit Atomenergie befassten Institutionen einschließlich internationaler Organisationen wie Euratom oder bestimmter UNO-Einrichtungen funktionieren wie eine „inzestuöse, nach außen abgeschlossene Familie“.11

Die Fehlleistungen dieser Pseudowissenschaft und ihrer Methoden reichen von der unverblümten Übertreibung bis zum subtilen Betrug.12 In der ersten Phase, gleich nach dem Unfall von Tschernobyl, ging es um die Fälschung und Zurückhaltung von Daten. Radioaktivitätsmessungen und Untersuchungen über Krebserkrankungen fanden einfach nicht statt. Unabhängige Forscher und Institutionen, die die Folgen der nuklearen Verseuchung aufdeckten, wurden attackiert und ihre Studien zensiert.

Tausende von Untersuchungen, die in den drei am härtesten betroffenen Ländern Ukraine, Weißrussland und Russland entstanden waren, wurden nicht übersetzt. Und bei Fachkonferenzen blieben ganze Forschungsgebiete unberücksichtigt. Das galt zum Beispiel für Untersuchungen zu chronischen, inneren Strahlenschäden durch geringe Dosen, denen nahezu die gesamte Bevölkerung rund um Tschernobyl ausgesetzt war und noch ist.

Ein Krebspatient, der fünf Jahre überlebt, gilt als geheilt

Zur zweiten Sequenz von Fehlleistungen gehören die ausgefallenen Rechenkunststücke von Spezialisten, die eine durchschnittliche Strahlenbelastung der Bevölkerung berechnen und dabei die enormen regionalen Unterschiede unter den Tisch fallen lassen. Dafür gibt es reichlich Beispiele: Studien werden nach zehn Jahren abgeschlossen, damit die Langzeitmortalität und -morbidität nicht mehr erfasst werden muss. Ein Krebspatient, der fünf Jahre überlebt hat, wird als geheilt definiert. Eine Studie beschränkt sich auf Krebs oder erfasst nur die Überlebenden des Super-GAUs oder beschränkt sich auf die drei am meisten betroffenen Länder. Eine andere registriert die Verringerung der Krebserkrankungen bei Kindern, dabei sind diese Kinder inzwischen womöglich als Erwachsene an Krebs erkrankt.

Zwischen 1950 und 1995 ist in den USA die jährliche Rate neuer Krebserkrankungen jeden Typs um 55 Prozent gestiegen, wie das Nationale Krebsinstitut festgestellt hat. Ähnliche Tendenzen wurden auch in Europa und allen industrialisierten Ländern beobachtet. 75 Prozent dieser Neuerkrankungen gehen auf das Konto von Krebsarten, die nicht von Nikotinkonsum herrühren. Aber angeblich ist die erhöhte Krebsrate nur auf die verbesserte Diagnostik oder die insgesamt höhere Lebenserwartung zurückzuführen.13

Natürlich liegt die Zahl der Krebserkrankungen umso höher, je reicher und entwickelter ein Land ist. Aber das ist kein Grund, die augenscheinlichste Ursache – Umweltgifte und chemische und radioaktive Verseuchung – zu ignorieren und stattdessen, wie es die sogenannten Spezialisten tun, den Opfern ihre ungesunden Lebensgewohnheiten vorwerfen.

Heute geht es darum, seriöse wissenschaftliche Erklärungen und wirksame Prävention zu fordern, die bei den realen Ursachen der Krankheit ansetzt. Deshalb rufen Selbsthilfegruppen zum Boykott mächtiger Wohltätigkeitsorganisationen auf, die eng mit der Pharmaindustrie und Medizintechnik verbandelt sind. Krebspatienten versuchen die wahren Verantwortlichen für die Verschleierung der Gefahren der Atomenergie vor Gericht zu ziehen.14 Und Bürgerinitiativen kämpfen dafür, Studien zur Häufigkeit von Kinderkrebs in Auftrag zu geben.15

Die WHO müsste sich vor allem um zwei Dinge kümmern: um das Fehlverhalten von Wissenschaftlern und um die Verflechtung von Industrie, Universitäten und Forschungsinstitutionen. Im Januar 2007 versicherte Margaret Chan bei ihrer Wahl zur Generaldirektorin, eine der Stärken der WHO sei ihre Kompetenz im Gesundheitswesen. „Unsere Direktiven haben absolute Autorität“, erklärte Chan. Das gilt allerdings nicht für den Themenbereich Radioaktivität und Gesundheit, wo die IAEO die absolute Autorität besitzt, ohne über irgendeine Kompetenz in Sachen Gesundheit zu verfügen.

Ist damit zu rechnen, dass die Mitgliedstaaten der WHO Widerstand leisten werden? The Lancet meint: „Die Regierungen haben auf nationaler und regionaler Ebene immer wieder ihre Pflicht vernachlässigt, die Interessen ihrer Bevölkerung über den Profit zu stellen“.16 Es ist höchste Zeit, endlich unabhängige und zuverlässige Untersuchungen über die gesundheitlichen Folgen der zivilen und militärischen Nutzung von Atomenergie zuzulassen. Und deren Ergebnisse dann auch ohne Einschränkungen zu veröffentlichen.

Fußnoten: 1 Siehe Charaf Abdessemed, „Les antinucléaires font le piquet devant l’OMS“, Geneva Home Information, 6./7. Juni 2007. 2 Die 1957 gegründete autonome Organisation unter dem Dach der UN dient als internationales Forum zur Überwachung und Koordination der friedlichen Nutzung der Atomenergie. Das WHO-IAEO-Abkommen ist seit Mai 1959 in Kraft. 3 Das wichtigste Gremium der WHO, in dem die 193 Mitgliedstaaten vertreten sind, entscheidet über die langfristige Politik. 4 Siehe den internationaler Aufruf im Internet: www.independentwho.info. 5 „The Chernobyl Forum, Chernobyl’s Legacy. Health, Environmental and Socio-Economic Impacts. 2003–2005“, IAEA/WHO/UNDP/FAO/ UNEP/UN-OCHA/UNSCEAR/WB, Wien, April 2006; www.iaea.org/Publications/Booklets/Cher nobyl/chernobyl.pdf. 6 Michel Fernex, „La santé: état des lieux vingt ans après“, in: Galia Ackerman, Guillaume Grandazzi und Frédérick Lermarchand, „Les silences de Tchernobyl“, Paris (Autrement) 2006. 7 Pierpaolo Mittica, Rosalie Bertell, Naomi Rosenblum und Wladimir Tchertkoff, „Chernobyl: The Hidden Legacy“, London (Trolley Ltd) 2007. 8 Alex Rosen, „Effects of the Chernobyl Catastrophe – Literature Review“, Januar 2006; www.ippnw. org/ResourceLibrary/Chernobyl20Rosen.pdf. 9 Le Monde, 28. August 1986. 10 „The Tightening Grip of Big Pharma“, in: The Lancet, 14. April 2001, Bd. 357, Nr. 9 263, S. 1 141. 11 Rosalie Bertell, „No Immediate Danger? Prognosis for a Radioactive Earth“, Toronto (Women’s Press) 1985. 12 Siehe etwa Chris Busby, „Wolves of Water: A Study Constructed from Atomic Radiation, Morality, Epidemiology, Science, Bias, Philosophy and Death“, Aberystwith (Green Audit) 2006. Wladimir Tchertkoff, „Le crime de Tchernobyl: le goulag nucléaire“, Arles (Actes Sud) 2006. Permanent People’s Tribunal, International Medical Commission on Chernobyl, „Chernobyl. Environmental, Health and Human Rights Implications“, Wien, 12.–15. April 1996. 13 Samuel Epstein, „Cancer-Gate. How to Win the Losing Cancer War“, New York (Baywood) 2005. 14 So wurde in Frankreich im Rahmen des Falls Tschernobyl/Schilddrüsenkrebs ein Verfahren wegen schwerer Täuschung gegen Professor Pierre Pellerin, den damaligen Direktor der zentralen Strahlenschutzbehörde, eingeleitet. 15 Seit Jahren wird zwar eine Verbindung zwischen atomaren Anlagen und infantiler Leukämie vermutet, etwa im Umkreis der norddeutschen Atomkraftwerke Brunsbüttel und Krümmel. Doch erst seit kurzem gibt es eine vom Bundesamt für Strahlenschutz veröffentlichte Kinderkrebsstudie. Siehe dazu Süddeutsche Zeitung vom 1., 26. und 28. Februar 2008. 16 The Lancet, siehe Anmerkung 10.

Aus dem Französischen von Sabine Jainski Alison Katz vom „Centre Europe – Tiers Monde“ (Cetim) in Genf arbeitete 18 Jahre für die Weltgesundheitsorganisation (WHO).

Le Monde diplomatique vom 14.03.2008, von Alison Katz