11.04.2008

Die Erfindung der Menschenrechte

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Die Erfindung der Menschenrechte

Vom Kampfbegriff zum Universalwerkzeug von François Jullien

Der Westen dringt auf die Einhaltung der Menschenrechte, erklärt sie für allgemeingültig und meint deshalb auch, sie anderen aufdrängen zu dürfen. Dabei tritt völlig in den Hintergrund, dass diese Rechte in einer besonderen historischen Situation entstanden sind. Man pocht darauf, dass alle Völker sich ausnahmslos und uneingeschränkt zu ihnen bekennen sollten, und muss doch konstatieren, dass sie vielerorts ignoriert oder infrage gestellt werden.

Wie nahezu chaotisch es zuging, als die universellen Menschenrechte formuliert wurden, ist gut dokumentiert: Die berühmte Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte der französischen Nationalversammlung vom 26. August 1789 etwa hatte vielfältige und zum Teil sogar unvereinbare Vorläufer. Sie war Gegenstand endloser Verhandlungen und Kompromisse und ist letztlich eine Zusammenstellung von Fragmenten unterschiedlichster Herkunft – ein Begriff von hier, ein Satz von da, so wurden ihre Artikel immer wieder von Neuem aufgenommen, zerlegt, umgeschrieben.1 Ihre Verfasser selbst hielten sie für „unfertig“ und äußerten sich entsprechend. „Wir haben vermutlich den denkbar schlechtesten Entwurf angenommen“2 , klagt einer von ihnen am Abend der Verabschiedung. Inzwischen jedoch ist jeder Bezug auf diesen Ursprung getilgt. Und aus Angst vor schärferen Kontroversen wird aus dem Menschenrechtsdiskurs alles ausgeklammert, was nach konkreten Interessenlagen aussieht. Mit dem Ergebnis, dass dieser mit heißer Nadel verfasste Text, der bei allem Enthusiasmus stellenweise auch unaufrichtige Töne enthält, zunehmend abstrakt und auch sakrosankt geworden ist. Er kommt daher wie eine unbefleckte Empfängnis. Als wäre er in voller Rüstung den Häuptern in der Verfassunggebenden Nationalversammlung entsprungen. Er umgibt sich mit einer mythischen Aura – immerhin waltete bei seiner Verkündigung der „Allerhöchste mit seiner schützenden Hand“ – und erhebt Anspruch auf universelle Geltung. Aber ist dieser Anspruch nicht die einzige Möglichkeit, eine bedrohliche Heterogenität zusammenzuhalten – indem er diese einfach ignoriert?

Der Siegeszug der Erklärung der Menschenrechte ist verblüffend. Nachdem alle Spuren von Kontingenz verwischt sind, präsentiert sie sich heute – und zwar zu Recht – in den Dimensionen des Idealen und Notwendigen. Ja, die Erklärung von 1789 begründete eine neue Tradition, die in allen französischen Verfassungen wieder aufgegriffen wurde, ganz zu schweigen von der durch die Vereinten Nationen 1948 verkündeten Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte.

Als es um die Formulierung der Präambel der französischen Verfassung von 1946 ging, sehnte sich mancher sogar nach der Kürze, Erhabenheit und Einfachheit „unseres großen Textes von 1789“, während man „in dem Text von 1946 spürt, dass die einzelnen Artikel unterschiedlicher Herkunft sind und in verschiedenen Sprachen erdacht und hinterher übersetzt worden sind“.3

Eine solche Erklärung, die ständig umgeschrieben werden musste, kann die beanspruchte Universalität jedoch nicht als etwas Gegebenes behaupten, sondern sie höchstens als eine regulative Idee auffassen. Wir sollten uns also immer wieder vergegenwärtigen, dass es sich bei den Menschenrechten im Kontext der europäischen Ideengeschichte um eine zufällige und sonderbare Erfindung handelt. Die Idee der Menschenrechte hat sich erst in der Moderne durchgesetzt. Und sie ist unübersehbar das Ergebnis einer doppelten, genuin westlichen Abstraktion sowohl der Vorstellung von „Rechten“ als auch der vom „Menschen“.

Die so verstandenen Rechte begünstigen das passive Recht – und damit den Anspruch des Subjekts auf Nichtentfremdung – als wesentliche Quelle der Freiheit, sodass die „Pflicht“ immer nur in Abhängigkeit vom „Recht“ aufgefasst werden kann. Der Mensch wird dabei losgelöst von seinen animalischen und kosmischen Lebenszusammenhängen betrachtet, während seine soziale und politische Dimension sich ohnehin als nachträgliches Konstrukt erweist. Nur als Individuum wird der „Mensch“ verabsolutiert, da ja Vereinigungen und Verbände lediglich den Zweck verfolgen sollen, seine „natürlichen und unantastbaren Menschenrechte“ (so Artikel 2 der Erklärung von 1789) zu bewahren.

Der allgemeine Geltungsanspruch ließ sich folglich nur um den Preis der Abstraktion, Loslösung und Verabsolutierung erheben. Doch mit diesen drei zusammenhängenden Operationen zerfällt nun eben das, was wir als Verbindung zwischen dem Menschen und seiner Umwelt – und somit als das Gegenteil von Entfremdung bezeichnen.

Bezeichnenderweise kommt die Familie als minimale Stufe der Integration, nämlich der Vermittlung zwischen Individuum und Gesellschaft, in den Erklärungen von 1789 und 1793 nicht vor. Sie tritt erst 1795 in einer Form in Erscheinung, die – erstaunlich genug – an die „fünf Beziehungen“ des Konfuzianismus erinnert: „Keiner ist guter Bürger, wenn er nicht guter Sohn, guter Vater, guter Bruder, guter Freund, guter Gatte ist.“ In der Allgemeinen Erklärung von 1948 bleibt der Bezug auf „alle Mitglieder der menschlichen Familie“ metaphorisch vage, eine rhetorische Anspielung ohne wirkliche Erklärungskraft.

Der Verzicht auf jegliche religiöse (der „Allerhöchste“ spielt in der Erklärung von 1789 nur eine Zuschauerrolle) und soziale Dimension, die zum Prinzip erhobene Gleichheit und die Loslösung des Menschen von der „Natur“ bedeutet jedoch, dass das Konzept der Menschenrechte aus dem Spektrum des Menschlichen eine Auswahl trifft und Partei ergreift. Für die Optionen, auf die es sich festlegt, gibt es keine Rechtfertigung, jedenfalls keine letztgültige.

Tatsächlich stehen sich hier zwei kulturelle Logiken gegenüber: die der Emanzipation (durch den universellen Geltungsanspruch der Menschenrechte) und die der Integration (ins familiäre, korporative, ethnische, kosmische Herkunftsmilieu). Damit steht die Frage im Raum, ob diese beiden Logiken auch in Zukunft unvereinbar nebeneinander stehen müssen.

Freiheitspathos versus Harmonie

Zum besseren Verständnis hilft es vielleicht, zu erklären, warum das Konzept der Menschenrechte im Denken des klassischen Indien keine Entsprechung hat, oder andersherum formuliert, warum das indische Denken sich gegenüber den Menschenrechten als ziemlich indifferent erweist. Es ist bekannt – und sei es auch nur vage –, dass es in Indien den „Einzelmenschen“ nicht gibt. Das betrifft das Verhältnis zu den anderen Lebewesen: Die Grenze zwischen Mensch und Tier verschwimmt, sobald man an die Wiedergeburt des einen in der Gestalt des anderen glaubt und auch Tieren die Fähigkeit des Verstehens und Erkennens zuspricht. Und es gilt auch für das Verhältnis des Menschen zur Welt: Diese wird nicht als natürliche Ordnung gedacht, von der der Mensch abfallen oder sich lösen könnte. Und schließlich auch nicht im Verhältnis zur Gruppe: Diese ist in ihrem hierarchischen Aufbau die religiös begründete, primäre Realität. Dem Individuum kommt nur eine untergeordnete Stellung zu, die sich auf die irreduzible Psychophysiologie desjenigen beschränkt, der Schmerz oder Lust empfindet.

In Indien ist der „Mensch“ so wenig eine für sich bestehende Größe, dass sein Leben und sein Tod in ihrer Bestimmung, sich endlos zu wiederholen, aufgehen und ansonsten ohne Bedeutung sind. Man findet hier folglich weder ein Prinzip der persönlichen Autonomie noch eines der politischen Selbstverfassung, von denen sich Menschenrechte ableiten ließen. Wo das letzte Wort des europäischen Denkens Freiheit lautet, verschreibt sich der Ferne Osten vielmehr der „Harmonie“ – und insofern besteht über den Buddhismus tatsächlich eine Verbindung zwischen Indien und China. Zweifellos bildet eher der „Westen“ eine Ausnahme, indem er mit der Loslösung des Menschen jenen Bruch einführt, der zum Quell der Emanzipation wird.

So erweist sich der Entfaltungsspielraum der Menschenrechte trotz ihres universellen Anspruchs als beschränkt. Wo die Perspektive der Transzendenz vorherrscht und in die Errichtung einer jenseitigen Welt mündet, werden diese Rechte von einer Ordnung aufgesaugt, die sie kosmisch oder theologisch übersteigt. Wo hingegen die Perspektive der Immanenz überwiegt, sind die Menschenrechte nicht imstande, sich vom spontanen Lauf der Welt zu lösen und den Machtverhältnissen zu entwinden.

Der Islam zählt offensichtlich zur ersten Kategorie. Der Koran und die von ihm ausgehende Tradition definieren ein Gesetz göttlichen Ursprungs, das „seine letzte Bestimmung in der Regelung der menschlichen Verhältnisse“ findet.4 Die Angst vor dem Jüngsten Gericht, ein Kernelement des islamischen Glaubens, lässt den Menschenrechten keinen eigenen Entfaltungsraum und verurteilt sie zur Bedeutungslosigkeit.

China gehört in die zweite Kategorie. Das zeigt sich bereits an der chinesischen Übersetzung des Wortes „Menschenrechte“: Ren („Mensch“)-quan. Während „quan“ wörtlich Waage oder Abwiegen bedeutet, dient das Wort andererseits auch zur Bezeichnung der „Macht“ – zumal der politischen (quan-li) – sowie dessen, was wir unter einer „Gelegenheit“ oder einem „Notbehelf“ (quan-bian, quan-mou) verstehen: das, was durch seine Abweichung und seinen Widerstand gegen starre Regeln (jing) verhindert, dass eine Situation ausweglos wird, und dafür sorgt, dass sich die Logik eines begonnenen Prozesses weiterentwickeln kann. Dass diese beiden Bedeutungen in jenem Ausdruck zusammentreffen, der für das Wort „Recht“ in „Menschenrechten“ steht, macht deutlich, welche Verdrehungen hier erforderlich waren – wenngleich dieser fremde Pfropf im modernen China gut gedeiht: Als sie im Frühjahr 1989 die Menschenrechte einklagten, wussten die Studenten auf dem Tiananmen-Platz genauso gut wie die Menschen im Westen, was gemeint war.

Ideologische Kategorien des Fortschritts

Womöglich beziehen die Menschenrechte ihren universalen Geltungsanspruch ja aus dem Umstand, dass sich der westliche Lebensstil, so wie er aus der Entwicklung von Wissenschaft und Kapitalismus hervorgegangen ist, inzwischen dem gesamten Rest der Welt aufdrängt und dass wir uns keiner anderen sozialen oder politischen Ideologie mehr verschreiben wollen oder können als einer, die sich im Einklang mit diesen Transformationen befindet. Oder verdankt sich diese Legitimität nicht doch eher dem tatsächlichen historischen Fortschritt, den das Denken und die Entwicklung der Wissenschaft in Europa Anfang des 17. Jahrhunderts absolviert hat? Abgesehen davon, dass eine solche Rechtfertigung, zumindest implizit, einen Angriff auf alle anderen Kulturen bedeuten würde, muss sie sich auch den Vorwurf des stumpfen Ethnozentrismus gefallen lassen: Denn wie anders als innerhalb von ideologisch festgelegten Kategorien will man einen derartigen Fortschritt je messen?

Dieser Einwand zeigt, dass jede ideologische Rechtfertigung der Allgemeingültigkeit der Menschenrechte ein auswegloses Unterfangen ist. Statt ihr Konzept zu verwässern und sie durch Abschwächungen kulturübergreifend akzeptabel zu gestalten, sollte man den umgekehrten Weg gehen: nämlich auf ihre Wirkung als Konzept bauen, wodurch sie an Operativität und Radikalität zugleich gewinnen würden. Denn auf der einen Seite ist es allein die den Menschenrechten zugrunde liegende Abstraktion, die sie aus ihrem ursprünglichen Kontext herauslöst und für andere Kulturen vermittelbar macht. Mit anderen Worten: Über die Menschenrechte wird heute nicht bloß deshalb debattiert, weil der Westen sie in dem Moment verkündete, als er den Gipfel seiner Macht erreicht hatte und sie für seine imperialistischen Methoden nutzen konnte, sondern auch, weil ihr abstrakter Charakter sie isolierbar und damit intellektuell handhabbar, leichthin identifizierbar und übermittelbar macht: zu einem privilegierten Gegenstand – oder Werkzeug – der Kommunikation. Die „Harmonie“ beispielsweise ließe sich kaum zu einem derartigen international und interkulturell verhandelbaren Streitobjekt machen.5

Auf der anderen Seite bedeutet gerade ihre konzeptuelle Radikalität – sozusagen ihr nackter Kern –, dass sich die Menschenrechte des Menschlichen auf seiner elementarsten Ebene annehmen, der der Existenz, die unter einer einzigen Bedingung gefasst wird: als Mensch geboren zu sein. So gesehen geht es weniger um das Individuum als um den schieren Umstand, dass Belange des Menschen berührt sind. Wobei „des Menschen“ hier nicht als Genitivus possessivus (im Sinne dessen, was Besitz des Menschen ist), sondern als Genitivus partitivus zu verstehen ist: Sobald der Mensch betroffen ist, tritt ein a priori unantastbares Seinmüssen in Erscheinung.

Konnte eine solche Radikalität aber nur anhand der Menschenrechte und nur innerhalb des europäischen Denkrahmens entwickelt werden? Nehmen wir das chinesische Beispiel, in dem jemand plötzlich sieht, dass ein Kind gleich in einen Brunnen fallen wird, und erschrocken nach ihm greift, um es festzuhalten (und zwar nicht, weil er in einer besonderen Beziehung zu den Eltern des Kindes stünde oder weil er sich verdient machen will oder einen Vorwurf fürchtet): Dieser Griff, diese Bewegung unterläuft uns, sie ist eine reine Reaktion; wir können sie nicht sein lassen. Für den chinesischen Philosophen Menzius6 „ist kein Mensch, wer nicht ein solches Mitleidsbewusstsein hat“. Wer seinen Arm nicht nach dem Kind ausstreckt, ist „kein Mensch“.

Statt von einer ideologisch bestimmten und damit einseitigen Definition des Menschen auszugehen, bringt Menzius das ins Spiel – und zwar tut auch er es im Modus des Negativen, eines Versagens, das unerträglich wäre –, was als spontane Reaktion der „Menschlichkeit“ universelle Geltung beanspruchen darf. Es handelt sich hierbei also nicht um etwas, das „verallgemeinerbar“ wäre, weil es eine wahre Aussage ist; universalisierbar ist vielmehr, dass sich der Impuls, das Kind nicht in den Brunnen fallen zu lassen, nicht unterdrücken lässt. Und dieser Aufschrei, den man ausstößt (dieser Arm, den man ausstreckt), wenn man ein Kind in einen Brunnen fallen sieht, ist auch ohne jegliche Interpretation oder kulturelle Vermittlung ersichtlich, es ist ein – „basaler“ – Aufschrei des menschlichen Gemeinsinns. Mit anderen Worten: Die Unterschiedlichkeit der Kulturen und den Umstand in Rechnung zu stellen, dass diese uns zwingt, das Ungedachte in unserem eigenen Denken aufzuspüren, bedeutet nicht, dass wir den Anspruch auf das Gemeinsame aufgeben müssten.

Das Verallgemeinerungspotenzial der Menschenrechte hängt viel stärker an dieser zweiten Eigenschaft. Denn ihre negative Dimension, also wogegen sie sich richten, ist unendlich viel größer als ihre positive Dimension – die Frage, was sie sicherstellen sollen. So umstritten ihr positiver Gehalt ist, mitsamt seinem Kult des Individuums und seinen gesellschaftsvertraglichen Beziehungen, seiner Konstruktion des „privaten Glücks“ als letztem Zweck und so weiter, so wenig die Menschenrechte also beanspruchen können, eine verbindliche Lebenslehre darzustellen, so sehr eignen sie sich umgekehrt jedoch als ein unvergleichliches Instrument, um nein zu sagen und zu protestieren: um eine Grenze des Untragbaren zu markieren und sie zum Ausgangspunkt des Widerstands zu machen.

Als ein Werkzeug, das immer wieder anders zusammengesetzt werden kann und zugleich kulturübergreifend ist – sobald es einen aus dem konkreten Kontext herauslösbaren, „entblößten“ Protest allein im Namen des Geborenseins erlaubt –, benennen die Menschenrechte genau dieses „im Namen von etwas“ als die letzte Zuflucht, die ohne sie namenlos und folglich ohne Interventionsmöglichkeiten und Widerstandspotenzial bliebe. Diese negative, Widerstand ermöglichende Funktion hebt sie nun aber über die positive Dimension ihres Begriffs hinaus und trifft mit der grundsätzlichsten Bestimmung von Universalität zusammen: nämlich der, in jede abschließende, selbstzufriedene Totalität eine Bresche zu schlagen und neuer Hoffnung Nahrung zu geben.

Das Unbedingte als Bündnispartner

Wer immer sich wo auch immer auf die Menschenrechte beruft, ist nicht deswegen schon ein Anhänger westlicher Ideologien (sofern er sie überhaupt kennt). Sondern er beruft sich auf sie als das letzte, von Hand zu Hand gehende und für jeden künftigen Kampf bereitstehende Argument oder Instrument, weniger um eine neuartige Opposition zu schmieden – die sich doch wieder dem Verdacht aussetzt, gemeinsame Sache mit dem Partner-Gegner zu machen –, als vielmehr um sich in einer radikalen Weise zu verweigern.

Während Opposition immer auf den jeweiligen Kontext ausgerichtet und daher vielgestaltig ist, kündigt Verweigerung in einer einzigartigen Geste zunächst die Solidarität mit dem auf, was sie ablehnt. Schlagartig öffnet sie die Perspektive auf das Unbedingte, indem sie nackt hervortreten lässt, was ich oben als den äußersten Begriff des menschlichen Gemeinsinns angeführt habe. Folglich können die Menschenrechte gerade in ihrer negativen Dimension diese Universalität der Verweigerung exemplarisch zum Ausdruck bringen.

Dies erfordert allerdings, dass wir unsere gewohnten Begriffe ein wenig „verzerren“. Wir sollten nicht länger in arroganter Weise auf der Allgemeingültigkeit der Menschenrechte pochen und ihre kulturelle Prägung außer Acht lassen (womit sie freilich dem Untergang geweiht wären). Aber wir sollten uns auch nicht in den Schmollwinkel der beleidigten Theorie zurückziehen und auf diese Waffe des Widerstands und Protests verzichten, die an jedem Fleck unseres Planeten zum Einsatz kommen kann (weshalb es für die Menschenrechte bis heute kein Äquivalent und keinen möglichen Ersatz gibt). Besser wäre es, wenn wir Mehrdeutigkeiten zuließen – und mit dem Begriff der Universalisierung zwei Dinge zum Ausdruck brächten, nämlich dass erstens Universalität etwas ist, das einem ständigen Veränderungsprozess unterliegt, und dass es sich dabei zweitens nicht um eine passive Eigenschaft handelt, sondern um einen Wegbereiter, ein Vermittlungsinstrument.

Dann wären die allgemeinen Menschenrechte nicht länger dem (theoretischen) Wissen zuzuordnen, sondern dem Bereich des (praktischen) Handelns: Man beruft sich auf sie, um eine gegebene Situation direkt zu beeinflussen. Zudem würden nicht mehr Wahrheitsfragen ihren Geltungsbereich definieren, sondern konkrete Hilfsangebote. Das Universelle, das darin zum Vorschein kommt, erhebt nicht irgendeinen Anspruch, sondern bewirkt etwas, und sein Wert bemisst sich an der Stärke des erzielten Effekts. Die prinzipielle Frage, ob die Menschenrechte universalisierbar, ob sie als wahre Aussage auf alle Kulturen der Welt anwendbar sind, könnte man dann getrost mit Nein beantworten. Denn es kommt vielmehr auf den verallgemeinerbaren Effekt an. Dieser dient als das Unbedingte, in dessen Namen ein Kampf a priori gerecht und Widerstand legitim ist.

Fußnoten: 1 Vgl. „Les Déclarations des droits de l’homme de 1789“, hg. von Christine Fauré, Paris (Payot) 1988; vgl. auch Marcel Gauchet, „La Révolution des droits de l’homme“, Paris (Gallimard) 1989. 2 Adrien Duquesnoy, Abgeordneter von Bar-le-Duc, zit. nach Christine Fauré, „Les Déclarations“, S. 16. 3 Georges Vedel, zit. nach Christine Fauré, „Les Déclarations“, S. 17. Die Präambel der Verfassung von 1946 (die unter anderem eine Erklärung der sozialen Rechte einschließlich des Rechts auf Arbeit enthält) wird in der derzeit geltenden Verfassung vom 4. Oktober 1958 bekräftigt. 4 Sami A. Aldeeb Abu-Salieh, „Les Musulmans face aux droits de l’homme“, Bochum (Verlag Dr. Dieter Winkler) 1994, S. 14. 5 Die Machthaber in Peking berufen sich, wann immer der Westen Menschenrechtsverletzungen in China anprangert, auf das auf Konfuzius zurückgehende Konzept der „Harmonie“. Wie die chinesische Presse in den letzten Monaten mehrfach betonte, werden die Olympischen Spiele diesen Wertekonflikt zuspitzen. 6 Lateinischer Name von Meng Zi (Meng Tzu) (zirka 372–289 v. Chr.).

Aus dem Französischen von Michael Adrian François Jullien, Philosoph und Sinologe, ist seit 1987 Professor für ostasiatische Sprachen und Kulturen an der Universität Paris VII. Er ist Autor unter anderem von „Der Umweg über China. Ein Ortswechsel des Denkens“, Berlin (Merve) 2002, und „Dialog über die Moral. Menzius und die Philosophie der Aufklärung“, Berlin (Merve) 2003.

Le Monde diplomatique vom 11.04.2008, von François Jullien