13.06.2008

DNA-Tests für die Freiheit

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DNA-Tests für die Freiheit

Mit 17 Jahren wurde Ryan Matthews im US-Bundesstaat Louisiana des Raubmordes an einem 43-jährigen Ladenbesitzer in Bridge City angeklagt. Das war 1999, zwei Jahre nach der Tat. Matthews und der ebenfalls angeklagte Travis Hayes wurden für schuldig befunden, weil Augenzeugen die beiden schwarzen Jugendlichen nur wenige Stunden nach der Tat identifiziert hatten. Matthews wurde zum Tode verurteilt, Hayes zu lebenslanger Haft. Die Anwälte der beiden legten Berufung ein und ließen im Jahr 2000 DNA-Analysen durchführen. Diese Tests bewiesen nicht nur die Unschuld von Matthews und Hayes, sondern überführten auch den wahren Mörder. Matthews kam 2004 frei. Hayes musste bis 2006 auf seine Entlassung warten.

Earl Washington wurde 1984 im US-Bundesstaat Virginia wegen Vergewaltigung und Mord zum Tode verurteilt. Im Polizeigewahrsam gestand der 22-jährige, leicht geistig behinderte Mann mehrere Verbrechen. 1993 bewies eine DNA-Analyse, dass das beim Opfer gefundene Sperma nicht von ihm stammte. Im Januar 1994 wurde das Todesurteil in eine lebenslängliche Haftstrafe umgewandelt. Nach weiteren Tests im Jahr 2000 kam Washington am 12. Januar 2001 endlich frei.

Solche Fälle haben das New Yorker Innocence Project1 bekannt gemacht. Seit Gründung des Vereins im Jahr 1992 ist es seinen Mitarbeitern gelungen, 216 zu Unrecht Verdächtigte und Verurteilte mittels DNA-Analysen aus dem Gefängnis zu holen. Dank dieser Erfolge ist die breite Zustimmung zur Todesstrafe in der US-Öffentlichkeit etwas gebröckelt. Aber in Justizkreisen besteht weiterhin wenig Bereitschaft, Hinrichtungen grundsätzlich infrage zu stellen. Fehlurteile werden daher nur bei gröbstem Versagen der Behörden oder Gerichte aufgehoben, und nur angesichts unwiderlegbarer Beweise wie Gentests.

In den USA ist der Rückgriff auf DNA-Analysen nach rechtskräftigen Urteilen prinzipiell zulässig. Diese sind jedoch an Bedingungen geknüpft, die nichts mit dem Testverfahren und seiner Zuverlässigkeit zu tun haben.

Erstens müssen die am Tatort gewonnenen Beweismittel von kompetenten Fachleuten analysiert worden sein. Zweitens müssen die Beweismittel und Spuren so aufbewahrt sein, dass sie auch nach längerer Zeit noch verwendbar sind. Das setzt aber voraus, dass die Justizbehörden das Material über die Urteilsbegründung und den gesamten Instanzenweg hinaus archivieren. Drittens muss ein Richter bereit sein, den Fall neu aufzurollen, sich also mit dem Staatsanwalt anzulegen, der die Verurteilung erwirkt hat. Und er muss die Durchführung oder Wiederholung einer DNA-Analyse anordnen.

Diese Bedingungen sind nicht überall erfüllt. Im Bezirk Houston, Texas, etwa sind Akten und Beweismittel auch mehrere Jahre nach dem Urteilsspruch noch verfügbar. In Harris County, ebenfalls in Texas, kann es dagegen vorkommen, dass Gerichtsakten von Ratten angenagt oder durch Feuchtigkeit zerstört wurden.2 In diesem Bezirk kommt es übrigens zu mehr Todesurteilen als irgendwo sonst in den USA.

DNA-Analysen haben hohe Beweiskraft, werden aber nicht immer korrekt durchgeführt. 2007 wurden in Houston 3 500 Gerichtsgutachten aus den Jahren 1980 bis 2005 untersucht, darunter auch 35 Gentests.3 In seinem Abschlussbericht erhob der Sachverständige Michael Bromwich nachträglich schwere Vorwürfe gegen das betreffende kriminaltechnische Labor, dass bereits 2002 im Zuge einer früheren Anhörung aufgelöst worden war. Bromwich untersuchte 18 Fälle, in denen Angeklagte unter anderem auf Grund von DNA-Tests zum Tode verurteilt wurden. In vier Fällen stellte er Mängel fest, die von schlecht ausgebildeten Laboranten über dubiose Verfahren bis zu veralteten, aus Geldmangel nicht ersetzten Geräten reichten. In seinem Bericht ging Bromwich aber nicht so weit, die Todesurteile anzuzweifeln.

Unterdessen befreite das Innocence Project mithilfe korrekter Gentests 31 unschuldig Verurteilte in Texas, 28 in Ilinois, 23 im Staat New York und 9 in Oklahoma. Diese Menschen saßen bis zu ihrer Entlassung durchschnittlich 12 Jahre im Gefängnis. Inzwischen verwehren nur noch acht Bundesstaaten die DNA-basierte Revision von Urteilen, die vor Einführung dieser Tests ergingen.4 Insgesamt betreibt das Innocence Project derzeit 160 Gerichtsverfahren. Bei den ehrenamtlichen Helfern des Vereins gehen allein im Staat New York jedes Jahr 2 000 Hilfeersuchen ein.

Für Gegner der Todesstrafe ist der DNA-Test trotz aller Vorteile ein zweischneidiges Schwert. Denn er kann nicht nur zweifelsfrei entlasten, sondern auch belasten, und er bekräftigt damit in den Augen vieler US-Amerikaner sogar noch die Legitimität der Todesstrafe. Dank der Gentests, so die Behauptung, lasse sich die Hinrichtung Unschuldiger künftig ausschließen.

Marie Agnès Combesque

Fußnoten: 1 www.innocenceproject.org. 2 The Economist, London, 19. bis 25. April 2008. 3 Michael R. Bromwich, „Final Report of the Independent Investigator for the Huston Police Department Crime Laboratory and Property Room“, 13. Juni 2007: www.hplabinvestigation.org. 4 Solomon Moore, „Exoneration Using DNA Brings Change in Legal System“, New York Times, 1. Okto- ber 2007. Die acht Staaten sind: Alabama, Alaska, Massachusetts, Mississippi, Oklahoma, South Carolina, South Dakota und Wyoming. 5 Amy Harmon, „Lawyers Fight DNA Samples Gained on Sly“, New York Times, 3. April 2008.

Aus dem Französischen von Herwig Engelmann Marie Agnès Combesque ist Menschenrechtsaktivistin und Autorin (zusammen mit Ibrahim Warde, „Mythologies américaines“, Paris, Le Félin, 2002).

Le Monde diplomatique vom 13.06.2008, von Marie Agnès Combesque