17.01.2003

Der Aufstieg des Lumpenmilitariats

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Der Aufstieg des Lumpenmilitariats

DER Aufstand in der Elfenbeinküste erklärt sich in erster Linie aus dem Zerfall einer Armee, die sich der Loyalität der unteren Ränge nicht mehr sicher ist. In mehreren afrikanischen Staaten begann der Zerfallsprozess damit, dass das militärische Personal in peripheren Regionen von der Zentralregierung nicht mehr besoldet wurde. Im Extremfall wie in Liberia und Sierra Leone, zerfällt die Armee in rivalisierende Gangs, die ein materielles Interesse an der Auslöschung aller staatlichen Strukturen haben. So weit ist es in der Elfenbeinküste noch nicht. Aber auch hier ist angesichts der ökonomische Krise militärische Rebellion zu einer der wenigen attraktiven Einkommensquellen geworden.

Von ANATOLE AYISSI *

Die ersten Anzeichen der aktuellen Krise in der Elfenbeinküste waren bereits 1991 wahrzunehmen. Nachdem eine Untersuchungskommission das brutale Vorgehen der Armee gegen Studenten auf dem Campus der Universität Yopougon kritisiert hatte, erklärte Staatspräsident Houphouët-Boigny bei einer Pressekonferenz, eine Bestrafung der Militärs komme überhaupt nicht in Frage. „Ich kann meine Armee nicht bestrafen“, rief der sichtlich aufgebrachte Oberbefehlshaber der Ivorischen Nationalen Streitkräfte (Fanci). „Wollen Sie, dass sich meine Truppen gegen mich wenden? Es wird keine Sanktionen geben.“ Houphouët-Boigny war damals schon krank und nicht mehr der Jüngste – und politisch machtlos.1

In vielen afrikanischen Staaten war seit der Unabhängigkeit das Verhältnis von Regierung und Bevölkerung zu den Streitkräften durch die gefährliche Illusion bestimmt, die Armee könne allein durch ihre Waffen eine solide Grundlage für Frieden und politische Stabilität gewährleisten. Bei ernsten innenpolitischen Krisen sollte das Militär, als die „einzige organisierte Kraft“ in einem zerfallenden Staat, das Recht zur Intervention haben, wenn es um die Rettung der Nation gehe.

Auch Oberst Joseph Desiré Mobutu rechtfertigte 1965 seinen Militärputsch in Kongo-Zaire als ein „notwendiges Übel, […] einen richtigen, vertretbaren, begründeten und angemessenen Schritt“. Als 1991 General Sani Abacha die Demokratisierungsbestrebungen in Nigeria gewaltsam niederschlug, diente das angeblich nur dem Ziel, dem Land eine „entschlossene“ und „humane“ Regierung zu geben. Auch der pensionierte Gefreite Foday Sankoh, der 1991 in Sierra Leone einen blutigen Aufstand anführte, wollte angeblich nur das Land „vor einem überlebten und korrupten Regime erretten“.2 Auf ähnliche Rechtfertigungen für den Eingriff des Militärs in die politische Machtstruktur griffen viele der anderen „Heilsbringer“ in Uniform zurück: so etwa Idi Amin Dada in Uganda, Jean-Bédel Bokassa in Zentralafrika, Mengistu Hailé Mariam in Äthiopien, Samuel Doe in Liberia und noch andere mehr.

Alles fauler Zauber. Seit den frühen 1990er-Jahren war nicht zu übersehen, dass der Pakt zwischen Politikern und Soldaten nicht dazu taugte, die Herrschaft fragwürdiger Regime dauerhaft zu stabilisieren. Es zeigte sich auch, dass auf Truppen, die nicht mehr ihren ursprünglichen Auftrag erfüllten, sondern nur noch den jeweiligen Machthabern dienten, kein Verlass mehr war. Jederzeit konnten sie sich gegen ihre Dienstherren erheben. Fast überall auf dem Kontinent haben Militärs Tod und Schrecken verbreitet: in Liberia, Sierra Leone. Ruanda, Zaire, Kongo, Zentralafrika – um nur die schlimmsten Beispiele zu nennen. Und zuletzt erreichte diese Entwicklung auch Länder wie die Elfenbeinküste, die lange als Paradebeispiel für Frieden und Stabilität gegolten hatte.

Die Staaten Afrikas leiden an ihren Armeen, und die Armeen sind Opfer der Staaten geworden.3 Ansehen und Glaubwürdigkeit des afrikanischen Soldatenstandes haben schweren Schaden genommen, weil dieser seinen patriotischen Sinn verloren hat und weil ihm der „Korpsgeist“ abhanden gekommen ist. Ein Oberst spricht von einem Auflösungsprozess4 , der letztlich zu einer „Armee ohne Herz und ohne Seele“ führen müsse, wie es ein junger Leutnant formuliert.5

Das wichtigste moralische Kapital von Streitkräften ist ihr „Korpsgeist“, der im Kampf entsteht und sich im Kampf bewährt. Während einer militärischen Aktion liegt das Leben jedes Soldaten, gleich welchen Rangs, welcher ethnischen oder religiösen Zugehörigkeit, im wahrsten Sinne des Wortes in der Hand seiner Kameraden. Eine zerstrittene und disziplinlose Armee wird zur Gefahr für sich selbst, für den Staat und die Bürger, die sie schützen sollte. In vielen afrikanischen Staaten sind die Streitkräfte nur noch dem Namen nach „national“, tatsächlich herrscht in ihrem Inneren ein Clan- und Kastengeist.

Eine Armee der „Paladine“ kann eine führende Rolle vor allem in den Regimen erlangen, die durch ein „Bündnis“6 von Militär und Staat eine Art Verschwörung der Reichen darstellen. Hier bedient sich die politische Macht der Armee, und dafür bereichert sich diese mit Hilfe der Macht.7 An der Spitze dieser Herrschaftspyramide thronen feiste Lebemänner in Uniform, eine Clique hoher Militärs, die – durch Betrügereien reich geworden und verbürgerlicht – mit der Zeit unabsetzbar und unangreifbar geworden sind.

Bestimmte Personen und manche Truppenteile können so durch die Kumpanei von Politik und Militär zu bevorzugten Nutznießern des „Systems“ aufsteigen, doch der allgemeine Zustand der afrikanischer Streitkräfte ist zumeist höchst beklagenswert. Deshalb findet sich in den unteren militärischen Rängen noch eine andere Armee: das Heer der Marginalisierten, der einfachen Soldaten, arm und elend wie Bettler – Bettler in einer Welt, wo die Gewinner ihren Reichtum und ihre Macht schamlos zur Schau stellen.

Tagsüber Soldaten, in der Nacht Gangster

SO wurde vor acht Jahren von der Insel Annobon in Äquatorial-Guinea berichtet: „Die Insel ist so arm, dass die dort seit einigen Monaten stationierten zwanzig Soldaten alle Katzen geschlachtet haben. Die Folge war, dass sich die Ratten vermehrten und die Ernte auffraßen. Das Elend brachte die Bevölkerung dazu, an den (bedauernswerten) Militärs Rache zu nehmen.“8 Auch der Verfall der zairischen Streitkräfte, der zum unrühmlichen Ende der Mobutu-Herrschaft führte, macht deutlich, wie solche Zwei-Klassen-Armeen entstehen, die „gespalten, von Gegensätzen und Ungleichheit geprägt“ sind. Hier wird „bei der Rekrutierung und erst recht bei der Versorgung von Soldaten“ zumeist nach dem Prinzip der „ethnisch-politischen Zugehörigkeiten“ verfahren, um die Truppe gefügig und bei der Stange zu halten.9 So ist auch der aktuelle bewaffnete Konflikt in der Elfenbeinküste durch die Meuterei einiger hundert Soldaten ausgelöst worden, die General Robert Gueï „für persönliche Zwecke“ rekrutiert hatte.

Unter den Verlierern in diesem Spiel, den schlecht bezahlten, ausgegrenzten und diskriminierten Truppen, finden sich nicht wenige, die sich bereit finden, ihre Rolle als ehrliche Hungerleider in Uniform gegen den weniger ehrenhaften, aber viel einträglicheren Job des Söldners einzutauschen. Der entsetzliche Bürgerkrieg in Sierra Leone hat auch die Wortschöpfung „Sobel“ (soldier und rebel) hervorgebracht – als Bezeichnung für Männer, die sich tagsüber als Soldaten und nachts als Rebellen oder Gangster betätigen.

Gerät der normale Staatsbürger ins Elend, wird er lediglich zum sozialen Problemfall. Dagegen kann der verelendete Soldat als Mann in Waffen zum politischen Problem werden, zu einer Gefahr für den Bestand eines Regimes, ja für Frieden und Stabilität einer ganzen Gesellschaft. Deshalb ist die Verelendung der Streitkräfte so extrem gefährlich. In der Zentralafrikanischen Republik forderten die rebellierenden Soldaten im Frühjahr 2002 in ihrer Eigenschaft als Familienoberhäupter vor allem eine gesicherte Besoldung. Doch die zentralafrikanische Armee „steckte so tief in der politisch-militärischen Krise, dass dieses Aufbegehren rasch erstickt wurde“.10 Seit Herbst 2002 werden das Regime von Präsident Ange-Félix Patassé und das ganze Land erneut von heftigen Unruhen erschüttert.

Auch bei den Aufständen von Truppenteilen in der Elfenbeinküste, im Dezember 1999 und im September 2002, ging es ursprünglich nicht um die politische Ordnung, sondern um „ständische“ Forderungen wie Gehälter, Zulagen, bessere Kasernen, Beförderungen. Wie soll es weitergehen mit diesen heruntergekommenen, verelendeten und unkontrollierbar gewordenen afrikanischen Armeen, unter Verhältnissen, die so zerrüttet sind, dass „für die von ethnischen Spannungen und wirtschaftlichen Krisen geschwächten Regime schon einfache Forderungen nach Versorgung zur Bedrohung werden“?11

Die Elfenbeinküste erweist sich als Schulbeispiel für die Zersplitterung von Armee und Sicherheitskräften und ihre fortschreitende Verwandlung in ein „Lumpenmilitariat“, also „eine Klasse kaum organisierter Soldaten, halber Analphabeten und Bauerntölpel“, die immer stärker „ihren Anteil an Macht und Einfluss zu fordern“ beginnt.12 Während der kurzen Militärherrschaft unter General Gueï war der zunehmende Einfluss der „jungen Leute“ nicht zu übersehen. Einige dieser Offiziere der unteren Ränge machten durch Plünderungen, Überfälle, willkürliche Schnellverfahren vor Militärgerichten, Massenhinrichtungen und andere kriminelle Übergriffe von sich reden. Und sie ließen sich weder von den Politikern noch von der Militärführung stoppen. Liberia unter dem jungen Unteroffizier Samuel Doe und Sierra Leone unter dem jugendlichen Hauptmann Valentine Strasser sind weitere Beispiele.

In vielen afrikanischen Armeen ist der nächste Schritt für solche Elemente der offene Übergang zum kriminellen Bandenwesen. In Friedenszeiten machen die Gangster in Uniform ihre Gesetze selbst: als Bandenführer oder als Komplizen von Verbrechern, denen sie gegen Beteiligung an der Beute aus Überfällen ihre Waffen „leihen“. Die Uniformen dienen als Tarnung und Schutz vor Strafverfolgung. In Zeiten des Krieges äußert sich diese „Gangsterisierung“ in der Entstehung von Clans und Fraktionen innerhalb der verschiedenen Abteilungen der Streitkräfte.

Dass diese Gruppen ganz nach dem Vorbild des organisierten Verbrechens operieren, wird auch an ihren Symbolen und Kriegsnamen deutlich. Die „West Side Boys“ in Sierra Leone zum Beispiel wird man zweifellos eher für eine berüchtigte Gang in Los Angeles als für „Freiheitskämpfer“ halten, die „für das Wohl der Menschen in Sierra Leone“ kämpfen. Ähnliches gilt für die „Cosa Nostra“ und „Camorra“ in der Elfenbeinküste oder die gefürchteten „Ninjas“ und „Cobras“ im Kongo. Diese Etiketten werden mit Bedacht gewählt, man kennt die Szenarien, hat sie selbst erlebt oder Filmen abgeguckt, in denen sich Capos, Paten und andere Bosse mit offener Gewalt und Mord gegen die bestehende Ordnung wenden. Die Wahl solcher Vorbilder sagt im Grunde alles über Ziele und Vorstellungen dieser Gruppierungen im Militär.

In der Praxis bedeutet das zumeist Mord, Raub, Vergewaltigung, Plünderung und Zerstörung. Aber die Verbrechen bringen zugleich zum Ausdruck, dass Soldaten es satt haben, benachteiligt und ausgestoßen zu werden (wie in Zaire in den 1990er-Jahren), dass sie sich Geltung verschaffen wollen in einem System, das sich anmaßt, sie zu verachten (wie in der Elfenbeinküste 1999), oder dass sie sich die nötigen Mittel beschaffen müssen, um ihre neu gewonnene Macht über Leben und Tod von Menschen und Dinge zu festigen (wie in Sierra Leone und Liberia in den 1990er-Jahren).

Im Falle Zaires war die schrittweise Korrumpierung der Streitkräfte ein Prozess, der länger als 25 Jahre dauerte. Schon zwei Jahrzehnte vor dem brutalen Ende, das 1997 eintrat, machte eine offizielle Denkschrift auf die „beinahe endlose Liste der Verfehlungen“ zairischer Soldaten aufmerksam. Das Dokument, das sogar mit einem Vorwort von Marschall Mobutu versehen war, enthielt Belege für „Diebstahl, Unterschlagung, Urkundenfälschung, Erpressung, willkürliche Verhaftungen, häufige Entfernung von der Truppe, mangelnde Disziplin“. Aber es wurde einfach ad acta gelegt – die Machthaber hatten zu viel Furcht davor, „ihre Armee gegen sich aufzubringen“13 .

Diese Laxheit hat langfristig die schwerwiegende Konsequenz, dass sich die Grenzen zwischen Gut und Böse auflösen. Wo der Unterschied zwischen Erlaubtem und Verbotenem verschwindet, entsteht eine zerrüttete Welt, in der keine Werte mehr gelten. Als 1993 ein Putsch die kurze Regierungszeit des Melchio Ndadayé beendete, glaubte der erste demokratisch gewählte Präsident Burundis, an die patriotischen Gefühle der aufständischen Soldaten appellieren zu können. „Meine teuren Soldaten“, flehte er die Männer an, die ihn zu ermorden hatten, „geben Sie Ihren Gedanken und Wünschen Ausdruck. Denken Sie an Ihr Land, an Ihre Familien, vergießen Sie kein Blut …“ – „Ist uns scheißegal“, sollen die Bewaffneten gesagt haben, bevor sie ihn umbrachten.14

Wo die alten Normen nicht beachtet werden, hat auch das Völkerrecht keine Gültigkeit mehr: Unter dem liberianischen Militärmachthaber Samuel Doe verübten „Regierungstruppen“ in Monrovia ein Massaker an unbewaffneten Zivilisten – in einer Kirche, auf der deutlich sichtbar die Fahne des Roten Kreuzes gehisst war.

Aber es wäre falsch, die Schuld allein bei den kriminell werdenden Soldaten zu suchen. Die meisten afrikanischen Staaten haben die Armee, die sie verdienen und die sie sich geschaffen haben. Das gesamte politische System müsste im Grunde reformiert werden. In zivilen wie militärischen Kreisen beginnt allmählich ein Bewusstsein darüber zu entstehen, wie sehr durch die aktuelle Entwicklung Sicherheit und Frieden gefährdet sind. Und in einigen Ländern, etwa in Mali, in Südafrika und in Mosambik, begreift man mittlerweile die Reform der Sicherheitskräfte als bedeutende Aufgabe und entscheidenden Bestandteil einer umfassenden Erneuerung von Staat und Gesellschaft.

Vielleicht gibt es für die Armeen Afrikas doch noch eine Hoffnung.

dt. Edgar Peinelt

* UN-Institut für Abrüstungsforschung (Unidir), Genf.

Fußnoten: 1 Grébalé Gavier T., „Intrigues politiques de 1990 à 1993“, Abidjan (SNEPCI) 2001, S. 70–71. 2 Anatole Ayissi und Robin-Edward Poulton, „Bound to Cooperate: Conflict, Peace and People in Sierra Leone“, New York/Genf (UN) 2000, S. 3. 3 Monique Mas, „Armee et pouvoir aux sud du Sahara“, L‘Afrique, November/Dezember 1997. 4 Colonel Kisukula Abeli Meitho, „La désintegration de l‘armée congolaise“, Paris (L‘Harmattan) 2001. 5 Lieutenant Pierre Yambuya Lotika Kibesi, „Autopsie d‘une armée sans coeur ni âme“, Rom 1996. 6 Dominique Bangoura, „Les armées africaines“, Paris (Cheam) 1992, S. 43. 7 Siehe „Armées africaines, assasins de la démocratie: tu m‘engraisse, je te protège“ Génération (Yaundé), Nr. 71, 10. bis 16. Juni 1996. 8 Muriel Pompone, „La Guinée Equatoriale sous la botte d‘un clan“, Le Monde diplomatique, Juli 1994 9 Dominique Bangoura, „Etat et sécurité: des idéologies sécuritaires à l‘insécurité ou l‘incapacité de l‘Etat à assurer ses fonctions de défense et de sécurité“, Vortrag auf einem Kolloquium zu Thema „L‘Etat en Afrique: indigenisation et modernité“, organisiert vom französischen Außenministerium und der Agence de Coopération Culturelle et Technique, Paris 18. bis 19. Mai 1995. 10 Monique Mas, a. a. O., S. 10. 11 Jean-Phillipe Rémy, „Que faire des armées africaines“, L‘Autre Afrique (Paris), 17. bis 23. Dezember 1997. 12 Ali A. Mazrui, „The Lumpen Proletariat and the Lumpen Militariat: African Soldiers as a New Political Class“, Political Studies, London, Vol. XXI, Nr. 1, März 1973. 13 Zit. n. Jean-Pierre Langellier, „Zaire, l‘effondrement d‘un regime“, Le Monde, 19. März 1997. 14 Colette Braeckman, Terreur africaine, Paris (Fayard) 1996, S. 159. Hervorhebung des Autors.

Le Monde diplomatique vom 17.01.2003, von ANATOLE AYISSI