17.01.2003

Russland, Europa und die Hegemonie der USA

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Russland, Europa und die Hegemonie der USA

AUF dem Nato-Gipfel im November in Prag trat die mit dem 11. September 2001 veränderte Weltlage deutlich zutage. Bei der ersten Zusammenkunft des Militärbündnisses in einem Land des ehemaligen Warschauer Pakts wurde ausgerechnet die Aufnahme dreier ehemaliger Sowjetrepubliken beschlossen. Für die USA bot sich überdies die Gelegenheit, ihre Vormachtstellung gegenüber den europäischen Verbündeten zu bekräftigen. Davon vermag auch das Gezerre mit Deutschland und Frankreich in der Irakfrage nicht abzulenken.

Von GILBERT ACHCAR *

Der Gegensatz zwischen dem jüngsten Gipfeltreffen des Nordatlantischen Verteidigungsbündnisses am 21./22. November 2002 in Prag und dem Nato-Treffen zum 50-jährigen Bestehen der Organisation am 23./24. April 1999 in Washington hätte deutlicher kaum sein können. 1999 waren die Nato-Streitkräfte im Kosovo gerade dabei, sich in den ersten größeren Krieg seit Gründung der Organisation zu verstricken. Die Beziehungen der Allianz zu Russland waren gespannt wie seit dem Ende der Sowjetunion nicht mehr, und innerhalb des amerikanischen Establishments stritt man laut darüber, wie die Politik des Westens gegenüber Moskau in Zukunft aussehen solle.

Bereits das grundsätzliche Ja zum Nato-Beitritt von Polen, Ungarn und der Tschechischen Republik auf dem Gipfel von Madrid im Juli 1997 hatte hitzige Diskussionen zur Folge gehabt. Die Stimmen, die schon damals gewarnt hatten, Moskau könne das als Herausforderung interpretieren oder sich womöglich kalt gestellt fühlen, sahen sich angesichts der unnachgiebigen Haltung des Kreml in Sachen Kosovo in ihren Warnungen bestätigt. Der Washingtoner Gipfel feierte denn auch den Abschluss des Beitrittsverfahrens für die drei ehemaligen Mitglieder des Warschauer Pakts, ohne weitere Kandidaturen in Betracht zu ziehen – obwohl erklärte Russlandgegner wie Zbigniew Brzezinski sich dafür stark gemacht hatten.

Die Attentate vom 11. September 2001 haben die weltpolitische Lage in zweierlei Hinsicht verändert. Zum einen verschafften sie der neuen US-Administration unter George W. Bush die unverhoffte Legitimation für einen rückhaltlosen militärischen Interventionismus, wie ihn die USA seit Vietnam nicht mehr praktiziert hatten. Erstmals seit dem Ende des Kalten Krieges bot sich der neuen Regierung in Washington mit dem „Krieg gegen den Terrorismus“ wieder ein glaubwürdiger ideologischer Aufhänger, mit dem sie wie in den Jahren des „antikommunistischen Kampfes“ von 1945 bis zum Vietnamdebakel abermals eine groß angelegte Militärkampagne rechtfertigen konnte.

Zum anderen veranlasste der 11. September den russischen Staatspräsidenten Wladimir Putin angesichts der festgefahrenen Situation in Tschetschenien zu einer politischen Neubestimmung. Der Kreml-Chef gab dem erhöhten Druck aus Washington nach, machte gute Miene zum bösen Spiel, suchte aus seiner kooperativen Haltung politischen Profit zu schlagen und verzichtete auf jeden Versuch, die durch die Attentate ausgelöste US-Offensive einzudämmen.1

Das markanteste Ergebnis dieser beiden Entwicklungen war, dass die Vereinigten Staaten die „rote Linie“ überschritten, die Boris Jelzin zur Verteidigung seiner eigenen Einflusssphäre gezogen hatte. Jede militärische Stationierung jenseits dieser Linie – die entlang der Grenzen der ehemaligen Sowjetunion verlief – würde als Casus Belli erachtet, wurde in den 1990er-Jahren in Moskau gewarnt. Heute sieht sich der Kreml vor vollendete Tatsachen gestellt. Im Gefolge des Afghanistankrieges errichteten die Vereinigten Staaten in Usbekistan und Kirgisistan offenkundig auf Dauer angelegte Militärbasen, sie erwirkten die Nutzung militärischer Einrichtungen in Tadschikistan und Kasachstan und streckten ihre Fühler bis nach Georgien aus.

Im Vergleich zur Stationierung von US- Streitkräften in der ehemaligen Sowjetunion wirkte der in Prag beschlossene Nato-Beitritt der ehemaligen Warschauer-Pakt-Staaten Rumänien, Bulgarien und Slowakei und des exjugoslawischen Bundesstaats Slowenien nur noch wie ein Routinevorgang. Und die bis gestern noch höchst umstrittene Nato-Integration der drei ehemaligen Sowjetrepubliken Litauen, Lettland, Estland wurde – bis auf einige spontane Kommentare – praktisch ungerührt zur Kenntnis genommen.2 Damit ist der gesamte Planet nunmehr von einem ein Netz aus Militärbasen und von den USA geführten Allianzen umspannt.

Dass von den so genannten Übergangsländern einige zugleich der Nato und der Europäischen Union beitraten, ist im Übrigen kein Zufall und wird die Vormachtstellung der USA innerhalb der Nato und ihren Einfluss auf die EU erheblich verstärken. Der zeitliche Ablauf sieht so aus, dass die sieben in Prag kooptierten Länder dem Bündnis ab 2004 angehören werden, wenn die Ratifizierungsverfahrens durch die alten Nato-Mitgliedstaaten abgeschlossen sind. Im selben Jahr werden fünf von ihnen (zusammen mit Polen, Tschechien und Ungarn, die den Nato-Beitritt bereits vollzogen haben) in die EU aufgenommen, während sich Rumänien und Bulgarien noch bis 2007 gedulden müssen. Ab 2007 werden also von 27 EU-Mitgliedstaaten nur noch Österreich, Zypern, Finnland, Irland, Malta und Schweden nicht zur Nato gehören – falls sie sich bis dahin nicht um die Aufnahme in das Militärbündnis bewerben und aufgenommen werden.

Wie die Washington Post vom 5. November 2002 schrieb, zeigten sich die drei Nato-Neulinge von 1999 „als begeisterte Mitglieder und eifrig bemüht, den Vereinigten Staaten zu Gefallen zu sein, nachdem diese ihren Beitritt unterstützt hatten. Die sieben Neumitglieder werden, wie aus Verlautbarungen von Nato-Beamten und Regierungsvertretern der Beitrittsstaaten deutlich wird, entschlossen hinter der Nato stehen und sich als Stütze der Vereinigten Staaten erweisen. ‚Das Gleichgewicht innerhalb der Allianz‘, so ein hoher US-Regierungsbeamter, könnte sich hin zu einer ‚robusteren Nato‘ verschieben und enger an die Politik der Vereinigten Staaten angelehnt sein.“3

Das Gleichgewicht innerhalb der EU wird sich wohl in derselben Weise verlagern. Und dass ein von Washington energisch betriebener EU-Beitritt der Türkei die Gesamtdynamik merklich verstärken würde, liegt auf der Hand.4 Auch in dieser Hinsicht ist der Kontrast zu 1999 augenfällig.

Als nach dem Kosovokrieg auf den EU-Gipfeln von Köln und Helsinki im Juni und Dezember 1999 die Aufstellung einer Schnellen Eingreiftruppe beschlossen wurde, mochte man darin den politischen Willen erblicken, sich von Vormundschaft der USA zu befreien – obgleich dies von Seiten der EU-Regierungen energisch bestritten wurde. Hoch und heilig schworen sie, die EU-Eingreiftruppe sei Ergänzung, nicht Konkurrenz zur Nato. Und in der Tat ist die 60 000 Mann starke Einheit nur für so genannte Petersberg-Missionen5 vorgesehen – Konfliktprävention, friedenerzwingende und friedenerhaltende Maßnahmen, humanitäre Missionen –, Einsatzfelder, die das Weiße Haus und das Pentagon gern den Verbündeten überlassen.6

Konkurrenz oder Ergänzung – die Gretchenfrage

DARIN liegt nun auch der Hauptunterschied zwischen der EU-Eingreiftruppe und ihrem Nato-Pendant NRF (Nato Response Force), für deren Aufstellung auf Betreiben der Vereinigten Staaten in Prag die Grundsatzentscheidung fiel. Zwar soll die vornehmlich aus europäischen Verbänden bestehende Nato-Truppe personell nur ein Drittel so stark sein wie die EU-Eingreiftruppe, doch sind ihrer Mission zunächst keine besonderen Beschränkungen auferlegt. Die künftige NRF fügt sich in die doppelte Neubestimmung des Nato-Auftrags ein, die mit dem Gipfeltreffen von Rom im November 1991 begann. Zum einen hat sich die Nato seither aus einer Defensivallianz in eine Organisation der kollektiven Sicherheit und somit in eine interventionistische Militärorganisation verwandelt.

Zum anderen respektiert sie nicht länger die in Artikel VI des Nato-Vertrags von 1949 festgeschriebene Begrenzung ihres Aktionsradius auf die Nato-Mitgliedstaaten, nach der sich der atlantische Kommandobereich vom Nordpol bis zum Wendekreis des Krebses erstreckt. Wie die Militärintervention auf dem Balkan zeigte, kennt das Einsatzgebiet der Nato eben keine Grenzen mehr.

Während der Aktionsradius der EU-Eingreiftruppe mit 4 000 Kilometer im Umkreis von Brüssel auf Europa und dessen geopolitische Peripherie limitiert ist, finden sich in der Missionsbeschreibung der NRF keine derartigen Einschränkungen. Dies hat George W. Bush mit aller Deutlichkeit hervorgehoben – und die Prager Entscheidungen schon im Vorfeld als „die wichtigsten Nato-Reformen seit 1949“ bezeichnet.

In seiner Prager Rede erklärte Bush: „Da den Nato-Mitgliedstaaten viele Gefahren von außerhalb Europas drohen, müssen die Nato-Streitkräfte so organisiert werden, dass sie auch außerhalb Europas operieren können. Als Bedarf an einer raschen Entsendung von Streitkräften nach Afghanistan bestand, waren die Möglichkeiten der Nato beschränkt. […] Die Vereinigten Staaten schlagen die Schaffung einer Nato-Eingreiftruppe aus gut ausgerüsteten und schnell einsatzbereiten Land-, Luft-, und Seestreitkräften vor, die von den alten und neuen Nato-Verbündeten zur Verfügung gestellt werden. Die Truppe soll in kürzester Zeit überall einsatzbereit sein, wo wir sie brauchen.“7

Der Afghanistankrieg war für die Nato-Verbündeten in der Tat eine Demütigung. Als sie am 12. September 2001 erstmalig seit 1949 den den Eintritt des Beistandsfall nach Artikel V des Nordatlantik-Vertrages erklärten, ignorierte Washington das gemeinsame Hilfsangebot hochmütig und lud die Verbündeten selektiv ein, sich dem Bedarf des US-Oberkommandos entsprechend am Afghanistanfeldzug zu beteiligen. Diese Demütigung im Verein mit dem „Unilateralismus“ des US-Präsidenten und der Falken in seiner Administration weckten bei den anderen Nato-Mitgliedern die Befürchtung, auch die Allianz könnte in den Augen Washingtons ausgedient haben.

Die Bush-Administration beutete dieses Gefühl aus und drängte auf die Schaffung der NRF.8 Mit ihrer geringen Mannschaftsstärke entspricht Letztere durchaus dem Bedarf des Pentagon und seinem Konzept der „spezialisierten Nischen“. Demnach sollen die europäischen Staaten die US-Streitkräfte jeweils in Bereichen unterstützen, in denen sie über besondere Fähigkeiten verfügen. Unter diesem Blickwinkel können sogar die ehemaligen Mitglieder des Warschauer Pakts von großem Nutzen sein, etwa die Tschechische Republik, die sich zu Zeiten des Kalten Kriegs auf die Verteidigung gegen atomare, biologische und chemische Militärschläge spezialisiert hat. Ihre spezielle Kompetenz auf diesem Feld stößt im Pentagon auf großes Interesse.9

Nun kann Washington sich bei der EU revanchieren und behaupten, die NRF sei ja nur als Ergänzung der EU-Eingreiftruppe gedacht. Faktisch war der Prager Gipfel jedoch eine entscheidende Etappe, um die europäischen Nato-Mitglieder, die in der EU die überwiegende Mehrheit bilden, in Hilfstruppen der US-Streitkräfte zu verwandeln und dem imperialen Expansionsstreben der Vereinigten Staaten den Weg zu ebnen.

dt. Bodo Schulze

* Dozent an der Universität Paris-VIII (Saint-Denis), Autor von „Le Choc des barbaries. Terrorismes et désordre mondial“, Brüssel (Complexe) 2002.

Fußnoten: 1 Dazu Gilbert Achcar „Machtdreieck Washington, Moskau und Peking“, Le Monde diplomatique, Dezember 2001. 2 Wie bei der vorhergehenden Osterweiterung hielt die Nato für Moskau bereits im Vorfeld ein Trostpflaster in Form einer Überarbeitung des Nato-Russland-Rats bereit. Die erweiterte Vertragsfassung wurde im Mai 2002 in Rom unterzeichnet und sieht vor allem effektivere Absprachen bei der Terrorbekämpung vor. 3 Robert Kaiser u. Keith Richburg, „Nato Looking Ahead to a Mission Makeover“, Washington Post, 5. November 2002. 4 In diesem Fall wären Island und Norwegen die einzigen europäischen Nato-Mitglieder, die nicht zur EU gehören. 5 Auf dem Petersberg tagte 1992 der Rat der Westeuropäischen Union, der diese Missionsbeschreibung ausarbeitete. 6 Die Schnelle Eingreiftruppe ist somit auf die Nutzung der logistischen und Planungsressourcen der Nato angewiesen. Die Vereinbarung zwischen EU und der Türkei auf dem Kopenhagener Gipfel im Dezember 2002 hat den Widerstand Ankaras gegen eine solche Nutzung beseitigt, der seinerzeit verhindert hat, dass die Schnelle Eingreiftruppe in der Balkanregion aktiv werden konnte. 7 George W. Bush, „Rede am 20. November in Prag“. 8 Die Schaffung einer Nato-Eingreiftruppe geht auf einen Vorschlag von US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld auf dem Treffen der Nato-Verteidigungsminister im September 2002 in Warschau zurück. 9 Keith B. Richburg, „Czechs Become Model for New Nato“, Washington Post, 3. November 2002.

Le Monde diplomatique vom 17.01.2003, von GILBERT ACHCAR