10.10.2008

Der schöne Mohannad

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Der schöne Mohannad

Eine türkische Fernsehserie wird Beziehungsratgeber in der arabischen Welt von Julian Clec’h

Die Aufregung in den arabischen Medien ist groß: „ ‚Nur‘ verursacht Beziehungskrisen und Scheidungen in der arabischen Welt“ – „Mohannad, der Mann, von dem die Frauen träumen, schafft Probleme ohne Ende!“ Die vom saudischen Sender MBC 4 ausgestrahlte türkische Soap hätte eine der x-beliebigen TV-Serien werden können, die das arabische Satellitenfernsehen am laufenden Band zeigt. Doch „Nur“ ist über den Bildschirm hinausgewachsen und zu einem gesellschaftlichen Phänomen geworden. Manche Leute reden schon von einer sozialen Bewegung.

Die Begeisterung für „Nur“ ergreift alle, quer durch die ganze Bevölkerung: Junge wie Alte, Männer, aber vor allem Frauen wollen um nichts in der Welt eine Folge aus dem bewegten Leben des Ehepaars Nur und Mohannad verpassen. Die Serie verdrängt sogar die Politik als Gesprächsthema. Nach Auskunft von Scheich Walid al-Ibrahim, dem Präsidenten des populären Satellitensenders MBC (Middle Eastern Broadcasting), der die Soap in der gesamten arabischen Welt sendet, lockt „Nur“ allein in dem 28-Millionen-Einwohner-Land Saudi-Arabien täglich 3 bis 4 Millionen Zuschauer vor den Fernseher.

Nach dem Unfall seiner Freundin Nihal stürzt der junge Mohannad in schwere Depressionen. Sein Großvater beschließt daraufhin, ihn mit Nur zu verheiraten, einer jungen Frau vom Land, in die Mohannad als kleiner Junge verliebt war. Das Ehepaar gerät in einen Strudel von ausführlich geschilderten Ereignissen: Entführungen, Verhaftungen, Mordversuche … Angesichts dieses recht konventionellen Szenarios fragt man sich, was dieser Serie, die bei ihrer Ausstrahlung in der Türkei 2005 floppte, in den arabischen Gesellschaften einen solchen Erfolg beschert.

Drei Bestandteile bieten sich als Erklärung an: „Al Atf wa al Romansiyya wa Muhannad“ – Gefühl, Romantik und Mohannad. Über die üblichen Ingredienzien derartiger Fernsehserien hinaus ist die eigentliche Überraschung der männliche Hauptdarsteller, der bereits als „Brad Pitt der arabischen Welt“ gehandelt wird. Der 25-jährige Schauspieler Kivanc Tatlitug, Exmodel und fortan besser bekannt unter dem Namen Mohannad, wurde durch die Soap zum Idol im gesamten arabischen Raum. Neben Mohannads körperlicher Attraktivität – er ist blond, blauäugig, groß und muskulös –, die Frauenherzen höher schlagen lässt, ist es vor allem die Beziehung zu seiner Frau, die das Publikum betört. Denn das Fundament der Ehe von Nur und Mohannad ist Liebe, Sensibilität und Gleichberechtigung.

Die entzückende Nur, gespielt von Songül Öden, ist eine moderne Frau: selbstbewusst, unabhängig und mutig. Die beiden sind ein vorbildliches Paar, das durch Gesprächsbereitschaft, Respekt und die Fähigkeit, einander Zugeständnisse zu machen, verbunden ist. Arabische Frauen, die für Zeitungen zu „Nur“ befragt wurden, äußerten sich einhellig begeistert über die dargestellte Traumbeziehung, die von ihrer eigenen Realität Lichtjahre entfernt ist.

Mohannad ist der perfekte Ehemann, einer, den jede Frau gern an ihrer Seite hätte. Eine junge Saudi-Araberin erklärte gegenüber der Washington Post: „Dieses Paar verkörpert die romantische Liebe, die es in unserer Kultur nicht gibt. Natürlich ist sie etwas übertrieben dargestellt, aber es ist gut, dass die Männer diese Art von Liebe mal vorgeführt bekommen, wenn auch nur im Fernsehen.“ Immer mehr Frauen verlangen von ihren Männern, sich ein Beispiel an Mohannad zu nehmen.

Erstaunlicherweise ist die Soap aber auch bei Männern beliebt, und manch einer findet das Verhalten des Filmhelden gegenüber seiner Ehefrau vorbildlich. Hamdan, ein 24-jähriger verheirateter Taxifahrer aus dem Jemen, stellt fest: „In unserer Kultur steht der Mann über der Frau. Und in dieser Serie sieht man, wie beide Zugeständnisse machen, damit die Ehe funktioniert.“ „Nur“ ist fast so etwas wie ein Beziehungsratgeber geworden.

Scheidungsgrund: Zu viel Romantik im Fernsehen

Freilich hat die Begeisterung für „Nur“ und der Kult, den manche Frauen um den schönen Mohannad veranstalten, bereits zu Spannungen und Zerwürfnissen in den Familien geführt – ein gefundenes Fressen für die arabische Presse. In Saudi-Arabien, Syrien, Bahrain oder auch im Jemen hat man inzwischen aufgehört, die Scheidungsfälle zu zählen, die mit der Serie in Verbindung gebracht werden. Es heißt, der Bildungsausschuss des jordanischen Parlaments habe das Thema „Nur“ auf die Tagesordnung gesetzt, um eine Strategie gegen diese „unislamische Kultur“ zu entwickeln. In Saudi-Arabien wird von einer Frau erzählt, die bei einer Trauerfeier der trauernden Familie ihre Anteilnahme erklärt und sich dann erkundigt habe, wo der Fernseher stehe, damit sie die tägliche Folge nicht verpasse.

Romantik ist nicht der einzige Trumpf, mit dem die Serie aufwarten kann. Auch die kulturelle Nähe der Protagonisten zum arabischen Publikum trägt erheblich zum Erfolg von „Nur“ bei. „Maria, Mercedes: Mit solchen Namen kann ich nichts anfangen“, sagt Dania Nugali, ein Teenager aus Saudi-Arabien, und bezieht sich damit auf die Heldinnen der lateinamerikanischen Serien, die der Sender MBC zuvor ausstrahlte. Sie fügt hinzu: „Bei den mexikanischen Serien komme ich mir immer vor, als säße ich im arabischen Literaturunterricht. Bei ‚Nur‘ hingegen habe ich das Gefühl, dass ich mir echte Unterhaltung anschaue.“1 Tatsächlich sind die mexikanischen und argentinischen Serien ins Hocharabische synchronisiert, während die Synchronstimmen der türkischen Soap im syrischen Dialekt sprechen.

Die Entscheidung, „Nur“ in der gesprochenen Sprache Syriens synchronisieren zu lassen, geht aber nicht allein auf die bessere Verständlichkeit für das Massenpublikum zurück. Syrische Produktionsfirmen brachten in den 1990er-Jahren einen neuen Typ von Fernsehserien auf den Markt, der lange Zeit von den Ägyptern beherrscht wurde. Mit ihrem ausgefeilteren Stil und der subtileren Handlungsführung kamen diese Serien bei den Zuschauern besser an als die „ewigen ägyptischen Soaps über Liebe und Rache“2 .

Den Gipfel des Erfolgs erreichten die syrischen Produktionen mit der Serie „Bab Al Hara“ (Das Tor zur Nachbarschaft), die den Triumphzug von „Nur“ indirekt vorbereitet hat. Die begeisterten „Bab Al Hara“-Fans gewöhnten sich allmählich so sehr an das gesprochene Syrisch, dass schließlich zwischen den syrischen Fernsehzuschauern und denen in der gesamten arabischen Welt ein engeres Verhältnis entstand. „Nur“ war für die Zuschauer eine freudige Wiederbegegnung mit der liebgewonnene Sprache von „Bab Al Hara“, was die Akzeptanz der türkischen Seifenoper sehr erleichterte.

Natürlich steht dem arabischen Publikum eine türkische Fernsehserie kulturell näher als eine lateinamerikanische. „Nur“ spielt in einem muslimischen Land und erzählt die Geschichte einer muslimischen Familie. Gezeigt wird eine Lebensweise, eine Mentalität, ein System von Werten und Bräuchen, die den Menschen von Istanbul bis Sanaa vertraut sind. Die Bedeutung der Familie in Gesellschaften, wo üblicherweise mehrere Generationen unter einem Dach leben, der Respekt gegenüber den Älteren, die von den Eltern arrangierten Ehen, all diese kulturellen Traditionen klingen in „Nur“ an.

Während die gemeinsame muslimische Kultur die Identifikation der arabischen Fernsehzuschauer mit den Protagonisten der türkischen Soap erleichtert, erregen die Unterschiede zwischen den arabischen Ländern und der Abstand zu der deutlich säkulareren türkischen Gesellschaft den Zorn von arabischen Konservativen. Zwar befolgt die reizende Nur die Fastenregeln im Ramadan, aber in der Serie kommt einiges vor, was die Hüter der islamischen Moral nur schockieren kann: Alkoholkonsum und vorehelicher Geschlechtsverkehr zum Beispiel. Dieses Gemisch aus Identifikation und Faszination durch das andere verleiht der Serie „Nur“ ihre besondere Wirkung und versetzt die religiösen Autoritäten in Angst und Schrecken.

Auch der Türkeitourismus profitiert von Nur

Die kulturelle Nähe zwischen Arabern und Türken macht es den Zuschauern leichter, sich in die Helden einzufühlen, erst recht seit die Helden zu Idolen geworden sind. Nun fangen die Fernsehzuschauer an, sich zu fragen, worin die Unterschiede zwischen ihnen selbst und den Figuren der Serie bestehen. Eine junge Frau aus Saudi-Arabien fasst die Angst der orthodoxen Muslime zusammen: „Wenn junge ‚Nur‘-Fans Muslime sehen, die eine voreheliche Beziehung haben oder uneheliche Kinder in die Welt setzen, dann ist das viel gefährlicher, als wenn sie einen Westler sehen, der so etwas macht.“ Islah Jad, Professorin an der Universität Bir Zeit im Westjordanland, bringt es auf den Punkt: „Diese Serie zeigt, dass es Muslime gibt, die anders leben.“3 Kein Wunder, dass sich von Hebron bis Riad mit der wachsenden Beliebtheit von „Nur“ flammende Strafpredigten und unerbittliche Fatwas häufen: „Ungesund“ sei die Serie, „den Prinzipien und Werten islamischer Gesellschaften zuwiderlaufend“ und „dekadent“.

Die Religionshüter sind aber nicht die Einzigen, die „Nur“ kritisieren. Anderen ist die Begeisterung für eine türkische Produktion eher aus politischen Gründen suspekt. Dem Journalisten Sameh Asi zum Beispiel, dessen Beitrag für das palästinensische Internetnachrichtenportal al-Watan die rhetorische Frage stellt: „Ist es den türkischen Fernsehserien gelungen, das Bild der Türken in der arabischen Welt zu verbessern?“4 Der Autor legt seinen Landsleuten „arabischer Nation“ nahe, sich mit der Vergangenheit der türkisch-arabischen Beziehungen zu befassen. „Wer in die Geschichte zurückgeht, wird feststellen, dass die Türken während des Osmanischen Reichs für den zivilisatorischen und technologischen Rückstand der Araber verantwortlich waren.“

Zum Ärger der arabischen „Nur“-Gegner jeglicher Couleur hat sich die Seifenoper auch zu einem erstklassigen Promoter für den türkischen Tourismus entwickelt. Nach Angaben eines türkischen Diplomaten ist die Zahl der saudi-arabischen Touristen in der Türkei von 40 000 im letzten Jahr auf 100 000 in diesem Jahr angestiegen.5 Im türkischen Konsulat in Sanaa macht man die gleiche Erfahrung: „Mehrmals am Tag kommen Jemeniten, die nach Istanbul reisen wollen, um die Schauplätze von ‚Nur‘ zu besichtigen und vielleicht sogar einen Blick auf Mohannad zu erhaschen.“ Und der Leiter eines Reisebüros, ebenfalls in Sanaa, bestätigt: „Erst gestern habe ich eine Türkeireise für eine Familie organisiert, und natürlich hat die TV-Serie bei der Wahl des Urlaubsziels eine große Rolle gespielt.“ Die türkische Tourismusindustrie wusste sich die „Nur“-Begeisterung zunutze zu machen: Das fiktive Zuhause von Mohannad, eine Villa am Ufer des Bosporus, wurde von Reiseveranstaltern gemietet und in ein Museum verwandelt.

Für Ende August haben vorausschauende Programmplaner die Ausstrahlung von „Nur“ nach 200 Folgen wegen des bevorstehenden Ramadan unterbrochen. Im Fastenmonat werden in der arabischen Welt ausschließlich eigene Fernsehserien gezeigt. Die sind dafür bekannt, dass sie gesellschaftliche Probleme in humorvollem Ton und stets vorsichtig im Hinblick auf die Zensur behandeln. Zunehmend thematisieren sie auch die Situation der Frauen. Mehrere Serienprojekte wurden vorerst verschoben, weil sie noch als zu avantgardistisch gelten. „Der Start dieser neuen Serien wäre jetzt sicher verfrüht gewesen“, heißt es im Blog von Gonzales-Quijano, einem Dozenten für moderne arabische Literatur. „Aber es liegt in der Logik des Publikumsgeschmacks, nach dem sich ja die Werbung richtet, dass sich zum nächsten Ramadan oder schon früher immer mehr TV-Produktionen mit der Realität der Frauen in der arabischen Welt beschäftigen werden.“6 Dem hat vermutlich „Nur“ den Boden bereitet.

Fußnoten: 1 Farah al-Sweel, „Turkish soap opera flop takes Arab world by storm“, Reuters, 27. Juli 2008. 2 Siehe Yves Gonzales-Quijano, „Télévisions de ramadan (3/3). Géopolitique du feuilleton et questions de femme“, culturepolitiquearabe.blogspot.com. Siehe auch Dina El-Khawaga und Alain Roussillon, „ ‚Denver‘ in Ägypten“, Le Monde diplomatique, Mai 1995. 3 „ ‚Un-islamic‘ Turkish soap opera all the rage in West Bank, Gaza“, Associates Press, 27. Juli 2008. 4 pulpit.alwatanvoice.com/print.php?id= 134860, 28. Mai 2008. 5 Faiza Saleh Ambah, „A subversive Soap roils Saudi Arabia“, The Washington Post, 3. August 2008. 6 Siehe Anmerkung 2.

Aus dem Französischen von Uta Rüenauver

Julian Clec’h ist französischer Kulturattaché in Sanaa, Jemen.

Le Monde diplomatique vom 10.10.2008, von Julian Clec'h