10.10.2008

Kein Gesetz, kein Parlament

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Kein Gesetz, kein Parlament

Fathiya Barghuti ist Bürgermeisterin von Qarawat Bani Zeid, einer Ortschaft nördlich von Ramallah im Westjordanland. Jedes Mal, wenn sie ihren kommunalen Haushalt dem zuständigen Ministerium vorlegt, muss die Bürgermeisterin lügen: Nach Gesetzeslage dürfte der Haushalt nicht genehmigt werden, wenn er ein Defizit ausweist.

So geht es im Grunde allen Kommunen. Sie sind chronisch pleite und ihre finanzielle Lage hat sich nach 2006 noch verschlimmert, als der internationale Boykott gegen die Hamas-Regierung einsetzte und die Isolierungspolitik Israels die Palästinenser noch härter traf als je zuvor. „Man hat uns versprochen, dass die Gesetze der Realität angepasst würden“, erklärt Fathiya Barghuti. „Aber der Legislativrat [das palästinensische Parlament] ist nicht beschlussfähig, also kann über Änderungen nicht abgestimmt werden.“

In der palästinensischen Innenpolitik gibt es größere Probleme als diese kleinen Notlügen. Keine der beiden existierenden Regierungen ist verfassungsgemäß. Die eine in Gaza wurde abgesetzt, nimmt aber weiterhin ihre Amtsgeschäfte wahr, die andere in Ramallah gilt als Übergangsregierung und hätte längst schon Neuwahlen durchführen müssen. Das Parlament ist allerdings, genau genommen, nicht komplett lahmgelegt: In Gaza tritt es weiterhin zusammen und beschließt mit seiner Mehrheit von Hamas-Abgeordneten neue Gesetze.

Nach der Verfassung sind die 132 Abgeordneten dieses Parlaments – 74 davon stellt die Hamas – die Legislative für Gaza wie für das Westjordanland. Beschlussfähig ist das Parlament allerdings nur, wenn die etwa vierzig Hamas-Abgeordneten aus dem Westjordanland, die in den letzten zwei Jahren von Israel in Haft genommen wurden, durch legale Bevollmächtigte vertreten werden.

In Ramallah gibt es keine Parlamentssitzungen mehr. Die Regierung Fajad hat ein spezielles Amt für Gesetzesvorhaben eingerichtet, und Präsident Abbas regiert mittels Verordnungen, die Gesetzeswirkung haben. Die Nachrichtenagentur Reuters meldete im August 2008, dass seit Juni 2007 über 400 solcher Gesetze und Verordnungen erlassen wurden.1

Palästinensische Juristen und Parlamentsmitglieder sehen in dieser Vermischung von Legislative und Exekutive die Anfänge eines diktatorischen Regimes. Man brauche eine Gesetzgebungsfunktion, um zu regieren, erwidern Regierungsvertreter, und schließlich könne man die betreffenden Gesetze nach Beendigung der Krise wieder aufheben.

Die Lage könnte sich allerdings noch weiter verschlimmern. Im Januar 2009 endet das Mandat von Mahmud Abbas, der 2005 zum Präsidenten gewählt wurde. Und die Hamas hat bereits erklärt, sie werde ihn danach nicht mehr als legitimes Staatsoberhaupt anerkennen. Sie beruft sich dabei auf das Grundgesetz, das höheres Recht ist als das 2005 im Parlament beschlossenen neue Wahlgesetz. Dieses Wahlgesetz sieht vor, dass Parlaments- und Präsidentschaftswahlen gleichzeitig stattfinden und Abbas bis dahin, bis Januar 2010 also amtiert. Damit wurde dessen Amtszeit stillschweigend um ein Jahr verlängert. Ein weiterer Mangel ist, dass die PLO und die Fatah nicht einmal die anstehenden Wahlen innerhalb ihrer Organisationen durchgeführt haben.

Wenn man die legalistische Rhetorik beiseite lässt, läuft es auf immer dasselbe hinaus: Die meisten Palästinenser sehen die Hauptaufgabe der Regierung darin, öffentliche Dienstleistungen zu stellen und dafür Gehälter zu zahlen. Erst wenn die Leute Angst um ihre Gehälter haben, interessieren sie sich für das Problem der Doppelregierung.

Fatah wie Hamas haben demonstriert, dass sie ausschließlich am Machterhalt interessiert sind. Und zwar so sehr, dass ihnen die wachsende Kluft zwischen den beiden Gebieten ziemlich gleichgültig ist, sagen die einfachen Leute (In diesem Jahr hat man sogar die Uhren in Gaza drei Tage früher auf Sommerzeit gestellt als im Westjordanland.). Genauso gleichgültig wie der palästinensische Unabhängigkeitskampf.

Die Hamas ist da keinen Deut besser als die Fatah. Bei den Wahlen hatte sie noch Stimmen aus dem Lager der Fatah erhalten – in der Hoffnung, dass sie anders und besser regiert. Daran glaubt kaum noch jemand. „Die Hamas“, sagt ein Rechtsexperte in Ramallah, „ist die Fatah mit Bart.“ Vetternwirtschaft, Korruption und ungestrafte Übergriffe durch bewaffnete Gruppen sind auch bei der Hamas längst üblich.

Noch schwerwiegender sind jedoch die Vorwürfe, die immer wieder gegen die Regierung in Ramallah laut werden: Sie sei der verlängerte Arm der israelischen Geheimdienste und lasse sich auf endlose „Friedensgespräche“ ein, während Israel unbeirrt den Ausbau der Siedlungen vorantreibt. Diese Regierung beziehe ihre Legitimation nicht vom Volk, sondern aus der Unterstützung des Westens.

Auch die Regierung in Gaza ist zu allem bereit, um an der Macht zu bleiben. Sie will unbedingt zeigen, dass ein islamisches Staats-wesen funktioniert – und sei es nur in einer winzigen, isolierten Enklave. Amira Hass

Fußnote: 1 Adam Entous und Mohammed Assadi, „Palestinian laws get overhauled with little oversight“, 29. 8. 2008, www.reuters.com/article/idUSMAC91755420080829.

Le Monde diplomatique vom 10.10.2008, von Amira Hass