16.05.2003

Geordneter Nachkrieg

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Geordneter Nachkrieg

Im Irak zeigt sich erneut, dass es leichter sein kann, einen Krieg zu gewinnen, als die komplexen Probleme einer Nachkriegsordnung zu bewältigen. Historisch kam bei der Stabilisierung von Staaten nach einem militärischen Konflikt immer wieder das Protektoratsmodell zum Zuge. Dass eine treuhänderische Verwaltung nicht unbedingt zum Ziel führt, zeigt die Entwicklung in Bosnien-Herzegowina und im Kosovo. Hier war das Protektoratsmodell der letzte Ausweg, weil das Selbstbestimmungsrecht durch die ethnischen Konflikte diskreditiert war. Doch die Oberhoheit einer „wohlwollenden“ fremden Macht kann zu einem „Abhängigkeitssyndrom“ führen, das die soziale Reintegration eher behindert. Und sie kann nationalistische Gefühle wiederaufleben lassen, die sich gegen die Schutzherrn wenden. Gelingt es diesen nicht, ein allgemeines Staatsbürgerbewusstsein zu fördern, wird jedes Protektorat am Ende scheitern.

Von CATHERINE SAMARY *

TROTZ heftiger Protestkundgebungen gegen die neue amerikanische Ordnung sind die USA offenbar entschlossen, den Irak zu einem Protektorat zu machen. Und obwohl eine sehr große Mehrheit von Staaten – darunter auch einige Verbündete der USA – die Einschaltung der Vereinten Nationen fordert, will Präsident Bush in Bagdad eine US-amerikanische Führung etablieren, drapiert mit ein paar einheimischen Kollaborateuren.

Viel Neues ist den Neokonservativen, die seit Anfang 2001 im Weißen Haus das Sagen haben, darüber hinaus nicht eingefallen. Die Vereinigten Staaten hatten sich nie nach Art der europäischen Mächte Kolonien zugelegt, um dadurch Aufstieg und Glanz zu ermöglichen; aber als sie um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert eigene Territorien eroberten, hatten sie keinerlei Bedenken, diese unter direkte Kontrolle zu stellen. Das galt zunächst für Kuba und die Philippinen, dann für Haiti und die Dominikanische Republik und schließlich für Nicaragua und Panama. Am Ende des Zweiten Weltkriegs besannen sich die USA und ihre westlichen Verbündeten auf das politische Mittel des Protektorats, um in Deutschland und Japan den Übergang zu einem demokratischen System abzusichern. Weniger bekannt ist, dass damals in Washington erwogen wurde, auch Frankreich zum Protektorat zu machen, was äußerst demütigend gewesen wäre.

Dass die Idee des Protektorats gerade in den 1990er-Jahren wieder aufkam, war kein Zufall: Mit dem Sieg der USA im Kalten Krieg ging eine Ära zu Ende, in der zahllose nationale und regionale Krisen zur Kraftprobe geraten mussten – zwischen der einzigen wirklichen Supermacht USA und der Sowjetunion, die mangels anderer „Groß-“Machtattribute nur auf ihre militärische Stärke setzen konnte. Dabei kam es immer wieder zu „einvernehmlichen Absprachen“ und zur Aufteilung von Einflusssphären – auf dem Rücken der betroffenen Völker. Doch auch diese bipolare Welt musste auf den starken Druck der nationalen und sozialen Befreiungsbewegungen Rücksicht nehmen. Also sicherten sich die großen Mächte zur relativen Stabilisierung von Staaten und zur „Eindämmung“ von Konflikten die Unterstützung solcher (oftmals diktatorischen) Machthaber, die bereit waren, sich auf eine Logik der Entwicklung einzulassen.

Diese Situation änderte sich grundlegend, als die Sowjetunion und der „Ostblock“ zerfielen und die im Westen in den 1980er-Jahren vollzogene neoliberale Wende endgültig besiegelt war. Allenthalben setzten sich die Prinzipien von Markt und Gewinn durch. Die Politik der Privatisierungen und die Aufgabe des Prinzips, das Wohlstandsgefälle zwischen reichen und ärmeren Regionen auszugleichen, verstärkte die soziale und regionale Ausgrenzung und führte immer häufiger zu blutigen ethnischen Konflikten. Jugoslawien ist das klassische Beispiel für diese Entwicklung. Manche Staaten der Dritten Welt erlebten einen vollständigen Zusammenbruch, weil sie von keiner Seite mehr Zuwendungen erhielten: Von Moskau und den Ostblockstaaten waren sie nur unterstützt worden, um sie im sozialistischen Lager zu halten, von Washington nur, um den sowjetischen Einfluss einzudämmen. So gab es Staaten (wie Somalia), die schlicht und einfach aufhörten zu existieren.

Der Westen reagierte auf diese Probleme in manchen Fällen mit medienwirksamen Hilfsaktionen (wie bei der katastrophal gescheiterten Intervention der USA in Somalia 1993), in anderen mit völliger Gleichgültigkeit – dann nämlich, wenn ein Konflikt für die Region wie für die Welt insgesamt ein lediglich begrenztes „Störpotenzial“ darstellte. In anderen regionalen Konflikten, die in Washington als zweitrangig gelten, durfte die UN ein Protektorat einrichten, wie etwa im Fall von Osttimor.

Doch in immer mehr Fällen – Kosovo, Afghanistan und neuerdings Irak – griffen die USA nach einem militärischen Sieg streng durch, um die nachhaltige Wirkung ihrer Aktion zu garantieren. Wie stark sie sich dabei engagieren, hängt von der jeweiligen strategischen Bedeutung der Region ab. Im Kosovo haben sie die Verantwortung so schnell wie möglich an die Europäische Union übertragen, wobei allerdings etliche neue Nato-Stützpunkte eingerichtet wurden. In Afghanistan übertrugen sie die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung der International Security Assistance Force (Isaf) unter Führung der Nato, während sie die militärischen Einsätze gegen die Reste von al-Qaida und Taliban in eigener Regie fortführen. Im Irak dagegen sind sie offenbar entschlossen, in allen wirtschaftlichen, militärischen und politischen Fragen die Zügel selbst in der Hand zu behalten.

Protektorate entstehen also unter ganz unterschiedlichen und veränderlichen Bedingungen. Aber die entscheidende Frage lautet immer: Wer kontrolliert wen? Und dabei ergibt sich, wie Noam Chomsky betont, in jedem Fall ein „offener Widerspruch zwischen den Regeln der internationalen Gemeinschaft, wie sie in der Charta der Vereinten Nationen niedergelegt sind, und den Rechten, die von der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte verbürgt werden“1 . Dem Prinzip der staatlichen Souveränität, das jede Einmischung in innere Angelegenheiten ausschließt, steht das Recht der Völker auf Hilfe von außen, selbst gegen die eigenen Machthaber, entgegen. Dieses „Interventionsrecht“ wurde durch das geopolitische Chaos2 der 1990er-Jahre, als sich die Großmächte dem Vorwurf ausgesetzt sahen, die neuen „Unruhen“ verschuldet, aber die Bevölkerung im Stich gelassen zu haben, scheinbar legitimiert.

So hieß es bei den internationalen Protesten gegen die ethnischen Säuberungen in Bosnien immer wieder, es werde wohl nur deshalb nicht interveniert, weil „es dort kein Öl gibt“, also nur Menschen und Kulturgüter zu schützen seien – anders als im Irak 1990–1991. Am Ende führte die Empörung gegen die zynische Praxis eines interessengeleiteten Eingreifens zu der – ziemlich naiven – Forderung nach einer militärischen Intervention aus „humanitären“ Gründen.

Daniel Bensaïd spricht deshalb von einer neuen „Ära der Schutzmächte“: „Wir können heute zusehen, wie sich im Rahmen der Globalisierung des Handels ein neues System von Protektoraten herausbildet – mit lokalen Statthaltern und Prokonsuln. Gelegentlich erfüllt diese monetäre, wirtschaftliche und militärische Oberaufsicht alle Kriterien einer neokolonialen Mandatsherrschaft. Die kleinen Länder mögen formell unabhängig bleiben, aber sie laufen Gefahr, nur noch die Rolle von Bauern auf dem geostrategischen Schachbrett zu spielen.“3

Wenn die Bildung immer neuer Kleinstaaten für selbstverständlich gehalten wird, tragen die so genannten ethnischen Konflikte dazu bei, das Prinzip der Selbstbestimmung zu diskreditieren, da es als automatisches Recht jedes – ethnisch definierten – Volks auf einen eigenen Staat aufgefasst wird. Wenn dann die Völker nicht aus eigener Kraft ihre sozialen, politischen und kulturellen Grundrechte vertreten können, nehmen sich die Großmächte heraus, über Gestalt und Führungspersonal eines Staates zu befinden.4

Umso wichtiger erscheint es, eine genaue Bestandsaufnahme der bereits existierenden „Protektorate“ vorzunehmen. Wie sieht das Mandat in jedem einzelnen Fall aus? Welche Bedingungen gelten für seine Umsetzung? Gibt es dafür Kontrollinstanzen? Nur durch kritische und unvoreingenommene Betrachtung lässt sich verhindern, dass am Ende eine verantwortungslose Gleichgültigkeit (wie im Fall von Ruanda) übrig bleibt oder eine naive Gutgläubigkeit angesichts vermeintlich „sinnvoller“5 humanitärer Interventionen, die letztlich die Situation nur verschlimmern. Trotz mancher Gemeinsamkeiten ist der Irak eben nicht Afghanistan, und mit dem Kosovo oder Bosnien ist er schon gar nicht zu vergleichen.

Das Dayton-Abkommen von 1995 und die UN-Sicherheitsrats-Resolution 1244 vom Juni 1999 führten zwar zur Einstellung der Kämpfe in Bosnien-Herzegowina und im Kosovo, aber die Kombattanten stehen sich immer noch unversöhnlich gegenüber. Die dort entstandenen Quasiprotektorate sind nur Konstrukte. In ihrem Inneren bestehen die alten Widersprüche fort, was erklärt, warum es immer wieder zu Verstößen gegen die Verträge kommt und die internationale Präsenz in beiden Gebieten wie auch die aufwendigen Hilfsmaßnahmen nicht die erhoffte Wirkung zeigten. Weder innenpolitisch noch wirtschaftlich haben sich die erwünschten Erfolge eingestellt.

Um eine Ausweitung des Nato-Mandats zu begründen, wird immer wieder behauptet, die Nato-Sicherheitspolitik habe weit bessere Ergebnisse aufzuweisen als die der Vereinten Nationen. Das ist freilich eine Fehleinschätzung, die daraus resultiert, dass die Nato ihre Truppen erst nach einem gesicherten Waffenstillstand nach Bosnien schickte, während die Blauhelme der UNO noch während des Konfliktgeschehens eingesetzt wurden und dabei nur über ein (vollkommen abwegiges) „Mandat zur Friedenssicherung“ und ein begrenztes „Recht auf Selbstverteidigung“ verfügten.

Die USA hielten sich aus der Jugoslawienkrise zunächst heraus. Der Konflikt erschien ihnen strategisch eher unbedeutend – was sie nicht hinderte, die Gegner der serbischen Streitkräfte (die kroatische Armee und die Milizen in Sarajevo, ab 1999 auch die albanische UÇK, die Befreiungsarmee des Kosovo) zu beraten und mit Waffen zu versorgen. Die Nato wurde in zwei Fällen zur Einsatzreserve aus der Luft aufgewertet: als „bewaffneter Arm der UNO“ vor dem Dayton-Vertrag von 1995 und erneut im Krieg gegen Jugoslawien von März bis Juni 1999, dieses Mal aber ohne UN-Mandat.

Erst nachdem alle Konfliktparteien ihre Kämpfe vertraglich beendet hatten – einschließlich der beiden Kontrahenten in Mazedonien, die 2001 den Vertrag von Ohrid unterzeichneten –, entsandte die Nato auch Bodentruppen. Nicht zuletzt sollte damit auch die Osterweiterung der Nato durchgesetzt werden, mit der Einrichtung von neuen Militärstützpunkten, darunter auch US-Marinebasen in verschiedenen Ländern.

Insgesamt betrieben die USA eine recht geschickte Realpolitik, die sich den wechselnden Bedingungen anzupassen wusste. Nach vier Jahre dauernden Kämpfen und ethnischen Säuberungen in Bosnien nutzte US-Präsident Clinton das Scheitern der UN-Friedenspläne und der europäischen Vermittlungsbemühungen zu einer diplomatischen Initiative, mit der die Nato ins Spiel kam. 1991 hatte sich der Warschauer Pakt aufgelöst. Der in Dayton ausgehandelte Vertrag6 war ein Ergebnis des Gleichgewichts, das zwischen den Konfliktpartnern herrschte: geladen waren Alija Izetbegović, der Führer der Bosniaken; Slobodan Milošević, der „im Namen aller Serben“ auftrat; und Franjo Tudjman, der „für alle Kroaten“ sprechen sollte.

Die Wahl dieser Gesprächspartner zeigt, welche präjudizierende Bedeutung die Abkommen zwischen Tudjman und Milošević für die ethnische Aufteilung Bosniens7 hatten und wie sich die Großmächte damals die „Stabilisierung“ der Region vorstellten – Tatsachen, die nicht unbedingt geeignet sind, die Anklage beim Den Haager Prozess gegen Milošević zu unterstützen.8 Obwohl die Führer der bosnischen Serben, Radovan Karadžić und Ratko Mladić, nicht nach Dayton eingeladen wurden, war die in dem Abkommen festgeschriebene Serbische Republik (Republika Srpska) eigentlich ihr Werk. Zwar betonte der Vertragstext Ziele wie die Rückkehr der Flüchtlinge und die Stärkung der zentralstaatlichen Einrichtungen Bosnien-Herzegowinas, doch die lokalen Kriegsherren verloren kaum etwas von ihrer Macht und vor allem nicht ihre Truppen.

Für die Bevölkerung bedeuteten die Verträge schon deshalb eine Erleichterung, weil sie das Ende der Kampfhandlungen brachten. Doch zugleich besiegelten sie alle ethnischen Säuberungen und die viel zu grobschlächtigen Regelungen der umstrittensten Territorialkonflikte in der ganzen Region. Kein Wort mehr über das Massaker an der musilimischen Bevölkerung von Srebrenica oder über die Offensive der kroatischen Armee vom Sommer 1995 gegen die Serben in der Krajina. Und auch über den Kosovo-Konflikt enthielt das Dayton-Abkommen nicht ein einziges Wort.

Dieses Schweigen trug zur politischen Radikalisierung unter den Kosovo-Albanern bei. Die Repression, der sie seit Beginn der 1990er-Jahre ausgesetzt waren, hatten sie zunächst mit einem gewaltlosen Boykott der serbischen Institutionen beantwortet, womit sie die Anerkennung ihrer einseitig ausgerufenen „Republik“ unter Führung von Ibrahim Rugova zu erreichen hofften. Diese Unabhängigkeitsbestrebungen waren jetzt dadurch beeinträchtigt, dass sich Milošević in Dayton internationale Rückendeckung verschaffen konnte: Mit der Aufhebung der Sanktionen und den bilateralen Verträgen mit den Nachbarstaaten waren auch die Grenzen Serbiens abgesegnet. Ab diesem Zeitpunkt versuchte die Befreiungsarmee des Kosovo (UÇK) durch gewaltsame Aktionen den Konflikt zu internationalisieren.

Nachdem sie das Auseinanderbrechen des alten Bundesstaats Jugoslawien abgesegnet hatten, war den Großmächten daran gelegen, die separatistischen Bewegungen im Kosovo wie in Bosnien einzudämmen, weil man ein Übergreifen auch auf Mazedonien befürchtete. An dieser Politik hat sich bis heute nichts geändert. Bei der Konferenz von Rambouillet im Frühjahr 1999 wurde eine Autonomieregelung für das Kosovo vorgeschlagen, die Serbien akzeptierte – mit Ausnahme der Forderung, seine Truppen aus der Provinz abzuziehen. Die albanische Seite lehnte den Autonomieplan rundweg ab. Aus dieser festgefahrenen Situation wusste die damalige US-Außenministerin Madeleine Albright Kapital zu schlagen: Mit Billigung der UÇK verpflichtete sie die Europäische Union auf ein Eingreifen im Rahmen des Nato-Bündnisses. Die UNO war damit aus dem Spiel. Die darauf folgende Bombardierung Belgrads sollte eigentlich die Entsendung von Nato-Truppen ins Kosovo vorbereiten. Um dafür auch die Zustimmung der Albaner zu gewinnen, versprach Washington, zu gegebener Zeit die Möglichkeit einer Volksabstimmung über die Selbstständigkeit „in Betracht zu ziehen“.

Von den Verhandlungen, die zur Beendigung des Krieges führten, blieben die Albaner ausgeschlossen, obwohl sie 80 Prozent der Bevölkerung des Kosovo stellen. In der UN-Resolution 1244, die der jugoslawische Präsident akzeptierte, war denn auch die Unverletzlichkeit der Grenzen der Bundesrepublik Jugoslawien (BRJ) festgeschrieben. Unterdessen übernahm im Kosovo eine Mission der Vereinten Nationen (Unmik) unter dem Schutz der Nato-Truppen die Übergangsverwaltung, als Währung wurde die D-Mark eingeführt. Die als Befreier begrüßten Nato-Kontingente sorgten tatsächlich dafür, dass hunderttausende vertriebene Albaner zurückkehren konnten. Die Nato galt auch als Garant einer künftigen Unabhängigkeit, nicht zuletzt, weil sich die Beziehungen Serbiens zu den Großmächten verschlechterten. Zugleich glaubten manche albanischen Gruppen, die Demokratie „herbeibomben“ zu können – extreme politische Konflikte waren die Folge, nicht nur mit den Serben, sondern auch mit Albanern, die im Verdacht standen, mit diesen verhandeln zu wollen.9 Natürlich konnten die etwa 40 000 Nato-Soldaten weder die damit einsetzende neue Welle ethnischer Säuberungen verhindern (von der zehntausende Serben und Roma betroffen waren), noch etwas gegen den halb politisch, halb mafios geführten Bürgerkrieg innerhalb der albanischen Gemeinschaft unternehmen. Zur gleichen Zeit versuchte man in Bosnien-Herzegowina zu kaschieren, dass die militärische Präsenz (die eigentlich nur für ein Jahr geplant war) im Grunde nichts bewirkt hatte, indem man die ursprüngliche Implementation Force (Ifor) zur Umsetzung der Dayton-Verträge in eine dauerhaft stationierte Stabilization Force (SFOR) verwandelte.

In Bosnien wie im Kosovo hatte die Strategie, sich durch Truppenreduzierung aus dem Konflikt herauszuziehen, lediglich zur Folge, dass die Ordnungsfunktionen an die lokalen Kräfte übergingen – und damit vornehmlich an die alten ultranationalistischen Milizen, die inzwischen als Polizeitruppen auftraten. Es scheint aber keinen anderen Weg zu geben, um vom Protektoratsstatus wieder zu rechtsstaatlichen Verhältnissen zu kommen – vorausgesetzt, die sozioökonomischen Bedingungen lassen überhaupt eine Hoffnung auf politische Stabilisierung zu. Derzeit sieht es danach leider nicht aus.

Protektorat mit Abhängigkeitssyndrom

ACHT Jahre nach Dayton leben in Bosnien drei Viertel der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze und 40 Prozent der Erwerbsbevölkerung sind arbeitslos – im Kosovo sogar mehr als 60 Prozent. Die Lage ist durch Armut, Ungewissheit über die Dauer der internationalen Präsenz und geringes Vertrauen in die Institutionen gekennzeichnet, aber auch durch zunehmende Korruption und Kriminalität. Überall ist eine Art „Abhängigkeitssyndrom“ entstanden, das als typische Folge des Protektorats zu sehen ist. „Die internationalen Organisationen […] sind Teil des Problems, nicht seiner Lösung“, meint der Wirtschaftswissenschaftler Zarko Papić. Denn sie haben ein Interesse, „ihre eigenen Positionen zu erhalten und auszubauen“10 . Zugleich wird jeder Fahrer oder Übersetzer, der für eine internationale Organisation arbeitet, weit über dem „normalen“ Lohnniveau bezahlt – sofern man dieses Niveau normal nennen kann.

Das Scheitern der internationalen Missionen hat jedoch auch mit den neoliberalen Prinzipien zu tun, die ihrer Präsenz zugrunde liegt. Diese schreiben vor, dass man „nicht in Staatsbetriebe investiert, selbst wenn sie Gewinn abwerfen könnten“11 . Die Abkommen von Dayton und von Rambouillet, aber auch die Assoziierungsverträge mit der Europäischen Union und die „Hilfsprogramme“ sehen die Durchsetzung der Marktwirtschaft vor, was stets mit Privatisierungen gleichgesetzt wurde. Damit war der Abbau der sozialen Sicherungssysteme programmiert, ohne dass diese durch etwas anderes ersetzt wurden – es sei denn durch Korruption. Der neue Leiter der Zentralbank, eingesetzt vom Internationalen Währungsfonds (IWF), tritt für eine Hochzinspolitik ein, die jede Modernisierung der Betriebe verhindert. An die Stelle staatlicher Subventionen sollen langfristig direkte Auslandsinvestitionen treten.

Das alles ist aber keineswegs gesichert, solange nicht klar ist, wie denn überhaupt die Rolle des Staates bei der Regelung von Eigentumsfragen aussehen wird. Dieses Problem besteht in allen Nachfolgestaaten des alten Jugoslawien, besonders drastisch zeigt es sich in Bosnien, das zwar als territoriale „Einheit“ gilt, aber in Wahrheit nur ein unstabiles, aus ethnischen Fragmenten bestehendes Gebilde ist. Ebenso schwierig ist die Lage im Kosovo, dessen künftiger Status ungeklärt bleibt: Hier verhindert Belgrad alle Privatisierungen unter Berufung auf die UN-Resolution 1244. Auch die Frage der Rückgabe von Eigentum an die Vertriebenen aus Bosnien-Herzegowina bleibt ungeklärt. Fast eine Million Flüchtlinge wissen also nicht, was sie nach der Rückkehr erwarten würde.12

Angesichts dieser chaotischen Verhältnisse scheint es verständlich, dass sich die Menschen nur noch auf ihre lokalen Gemeinschaften verlassen. Das Ergebnis ist die Verfestigung der nationalistischen Ansprüche wie auch der territorialen Neuordnung; aber in Bosnien drückt sich darin auch eine Art Widerstand gegen die Arroganz der internationalen Mächte aus, die sich wie Besatzer aufführen und die Demokratie von oben einführen wollen – etwa im Widerstand gegen einen Hohen Kommissar, der gewählte Volksvertreter absetzt und bestimmt, welche Kandidaten genehm sind und welche nicht.13

Im Unterschied zu seinem Vorgänger zeigt der jetzige Amtsinhaber, Lord Ashdown, größere Neigungen, sich mit den nationalistischen Fraktionen zu arrangieren, so wie es zu Beginn des Protektorats gedacht war. In diesem Gebiet anstelle ethno-nationalistischer Identitäten ein „allgemeines Staatsbürgerbewusstsein“ zu etablieren scheint ohnehin ein hoffnungsloses Unterfangen, solange es keine Möglichkeiten gibt, den Bürgern ohne Ansehen ihrer nationalen Zugehörigkeit persönlichen und sozialen Schutz zu bieten. Seit Vojislav Koštunica jugoslawischer Staatspräsident wurde, mehrten sich Befürchtungen, dass die bosnischen Serben sich abspalten könnten. Und mit der Umwandlung Jugoslawiens in die Union von Serbien und Montenegro ist auch die Frage nach dem künftigen Status des Kosovo wieder offen.

Bislang haben die USA wie die Europäische Union alle Diskussionen um diese Probleme entschlossen vertagt.14 Zuletzt ergriff der im März 2003 ermordete serbische Ministerpräsident Zoran Djindjić die Initiative: Unter Verweis auf die Unmöglichkeit, die Serben im Kosovo zu schützen, solange die Albaner sich weigern, der Rückkehr serbischer Truppen zuzustimmen (die in der UN-Resolution 1244 vorgesehen ist), schlug er eine Lösung nach dem Muster Zyperns vor – ein ethnisch geteiltes „Kosovo-Metohia“. Ein Teil der Provinz sollte bei Serbien bleiben, der andere unabhängig werden oder sich an Albanien anschließen.

Kurz nachdem in Serbien wegen der Ermordung von Djindjić der Ausnahmezustand ausgerufen worden war, reagierte Hashim Thaci, der frühere Untergrundführer der UÇK, auf den internationalen Druck und schlug ein Moratorium in der Frage der Unabhängigkeit vor.15 Es bleibt allerdings offen, ob neue Gruppierungen wie die „Albanische Nationalarmee“ (AKSh), die bereits eine „Frühjahrsoffensive“ zur „Wiedervereinigung des albanischen Territoriums“ angekündigt hat, diesen Kurswechsel mit vollziehen werden. Michael Steiner, derzeitiger Leiter der Unmik-Mission, erklärte vor kurzem, man wolle den Institutionen im Kosovo bald eine Reihe wichtiger Zuständigkeiten übertragen. Aber damit läuft man Gefahr, das Protektorat auf unbestimmte Zeit zu verlängern, ohne zur Stabilität in der Region beizutragen.

In Bosnien wie im Kosovo fällt die Bilanz der Protektoratsherrschaft also keinesfalls positiv aus. Das soll nicht heißen, dass Protektorate grundsätzlich abzulehnen sind. Nur unter dem Schutz der UNO konnte das kleine Volk der Timoresen, das von 1975 bis 1999 gnadenlos unterdrückt wurde und einen Genozid erleben musste, der ein Drittel der Bevölkerung vernichtete, dem Terror der Armee und der Milizen Indonesiens entkommen und schließlich durch eine Volksabstimmung die Unabhängigkeit erreichen und stabilisieren. Am 20. Mai 2002, nach einem zweieinhalb Jahre währendem UN-Protektorat, wurde in Osttimor der Staat Timor Loro Sa‘e ausgerufen. Präsident der neuen Republik ist Xanana Gusmão, der langjährige Führer des Widerstands. Er hatte in den von der UNO organisierten Wahlen 83 Prozent der Stimmen erhalten.16

Man darf dieses Beispiel natürlich nicht ohne weiteres verallgemeinern. In Osttimor wurde ein Protektorat errichtet, weil die internationale Gemeinschaft es ebenso wünschte wie die Bevölkerung vor Ort. Und die UN-Verwalter waren nicht bereit, die Verbrechen der früheren Besatzungsmacht zu ignorieren: Sie verurteilten diese Taten offen und eindeutig.

Außerdem war das Protektorat allein den Vereinten Nationen übertragen worden. Nachdem die Volksabstimmung ein klares Votum für die Unabhängigkeit ergeben hatte, war die begrenzte Dauer der Zwangsverwaltung mit der Abhaltung demokratischer Parlamentswahlen beendet. Tatsächlich wurden unter diesem Protektorat alle entscheidenden Probleme erfolgreich angepackt, was den Timoresen die besten Zukunftschancen eröffnet. Gegen eine solche Form von Protektorat hätte sicherlich auch das irakische Volk nichts einzuwenden.

deutsch von Edgar Peinelt

* Autorin (mit Jean-Arnaut Dérens) von „Conflits yougoslaves de A à Z“, Paris (L‘Atelier) 2000.

Fußnoten: 1 Noam Chomsky, „Bombing and Human Rights: Behind the Rethoric“, in: Ken Coates (Hg.), „Ethical Imperialism“, The Spokesman 65, Nottingham (The Russell Press Ltd.) 1999. 2 Siehe Ignacio Ramonet, „Die neuen Herren der Welt“, Zürich (Rotpunkt) 1998. 3 Daniel Bensaïd, „Contes et légendes de la guerre éthique“, Paris (Textuel) 1999. 4 Siehe Barbara Delcourt und Olivier Corte, „Ex-Yougoslavie: droit international, politique et idéologies“, Universität Brüssel (Bruylant) 1998. 5 Mary Kaldor, „A Benign Imperialism“, Prospect (London), April 1999. 6 Siehe Ivo H. Daalder, „Getting to Dayton – The Making of America‘s Bosnia Policy“, Washington (Brooking Institution Press) 2000. 7 Siehe Diane Masson, „L‘Utilisation de la guerre dans la construction des systèmes politiques en Serbie et Croatie, 1989–1995“ und Marina Glamocak, „La transition guerrière yougoslave“, beide Titel: Paris (L‘Harmattan) 2002. Eine andere Sichtweise bei Diana Johnstone, „Fool‘s Crusade“, London (Pluto) 2002. 8 Siehe Xavier Bougarel „Vom richtigen Gebrauch des Rechts“, Le Monde diplomatique, April 2002. 9 Siehe Jean-Arnault Dérens, „Albaner unter sich“, Le Monde diplomatique, März 2000. 10 Zarko Papic in: Christophe Solioz und Svebor André Dizvarevic (Hg.), „La Bosnie-Herzégovine – Enjeux de la transition“, Paris (L‘Harmattan) 2003, S. 57–81. 11 Siehe Dragoljub Stojanov, ebd., S. 103. 12 Siehe den Bericht des Helsinki-Komitees zur Lage der Menschenrechte in Bosnien-Herzegowina. (www.bh-hchr.org) 13 Seit dem 14. März 2001 ist der Hohe Kommissar nicht mehr der UNO, sondern der Europäischen Gemeinschaft unterstellt. Er verfügt über das Vorrecht, in die Zusammensetzung gewählter Körperschaften einzugreifen und Gesetze zu erlassen. 14 Siehe „International Crisis Group“, Balkans Report Nr. 24, London, 24. März 2002. 15 Nähere Informationen zu allen Problemen der Region finden sich im Courrier des Balkans; www.balkans.eu.org 16 Siehe dazu Any Bourrier „Vergebung und Pragmatismus“, Le Monde diplomatique, Juni 2002.

Le Monde diplomatique vom 16.05.2003, von CATHERINE SAMARY