08.04.2004

Demokratieförderung und Partnerschaftspapiere

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Demokratieförderung und Partnerschaftspapiere

DAS Gipfeltreffen der arabischen Staaten, das am 29. März in Tunis stattfinden sollte, wurde auf unbestimmte Zeit verschoben. Der Grund: Man konnte sich auf keine gemeinsame Haltung zu der Idee einigen, die seit Sommer 2003 als „The Greater Middle East Initiative“ herumgeistert. Das in Washington ersonnene Konzept propagiert die „Befreiung“ der Region zwischen Mittelmeer und Pakistan, also westliche Demokratiemodelle plus freie Marktwirtschaft. In der Region selbst stößt die Initiative auf Misstrauen, weil sie im Gefolge der Irakinvasion und von außen aufgedrängt daherkommt. Aber auch die Europäer sind irritiert über eine US-Strategie, die sie als Konkurrenz zu den Initiativen der Europäischen Union wahrnehmen.

Von GILBERT ACHCAR *

Die Regierung von George W. Bush hat den Einmarsch in den Irak vor einem Jahr im Wesentlichen mit drei Argumenten gerechtfertigt. Das erste bezog sich natürlich auf den „Krieg gegen den Terrorismus“, den man nach dem 11. September 2001 ausgerufen hatte. Obwohl es dafür keinerlei Anhaltspunkte gab, präsentierte man Saddam Hussein der US-amerikanischen Öffentlichkeit als Komplizen oder gar Auftraggeber Ussama Bin Ladens. Das zweite Argument bezog sich auf die angebliche Bedrohung durch Massenvernichtungswaffen. Inzwischen weiß man freilich, dass die von den Vereinigten Staaten und Großbritannien veröffentlichten Informationen manipuliert waren. Je mehr diese ersten beiden Argumente in den Hintergrund traten, desto wichtiger wurde der dritte Kriegsgrund: Washington hat versprochen, den Irak zu einer vorbildlichen Demokratie umzubauen, die in der Folge für den gesamten Nahen Osten ein Beispiel abgeben würde.

Mit die eifrigsten Verfechter dieses dritten Arguments waren die im Umkreis des Pentagon tätigen und höchst umtriebigen neokonservativen Freunde der Bush-Administration1 . Doch auch der Präsident persönlich bekundete feierlich seine Absicht, den „demokratischen Werten“ im Nahen Osten zur Geltung zu verhelfen. Bereits am 26. Februar 2003, kurz vor der Irakinvasion, legt er seine Vorstellung zu diesem Thema vor dem American Enterprise Institute dar. Aus dem Personal dieses Thinktanks, der als Hochburg der Neokonservativen und als bedingungsloser Befürworter Israels bekannt ist, hat George W. Bush, wie er stolz bekundete, zwanzig Mitglieder seiner Regierungsmannschaft bezogen.2 Und um keinen Zweifel aufkommen zu lassen, welche Werte er dabei vornehmlich im Auge hatte, schlug er am 9. Mai 2003 vor, „im Lauf der nächsten zehn Jahre eine Freihandelszone zwischen den Vereinigten Staaten und dem Nahen Osten zu schaffen“3 .

Unterstützung fand diese Argumentation bei einigen Fürsprechern der Idee vom „humanitären Krieg“ der Regierung Clinton, die auch unter George W. Bush für eine Politik der starken Hand eintreten. Zu diesem Kreis gehört beispielsweise der kanadische Harvard-Professor und Menschenrechtsexperte Michael Ignatieff, der den eher plumpen Gedankengängen der Bush-Administration mit subtilen Argumenten beizuspringen sucht. In einem viel beachteten Beitrag in der New York Times Anfang vorigen Jahres würdigte er – in illusionsloser Tonlage, die umso überzeugender klingen sollte – die Meriten des „amerikanischen Imperiums“, das in seiner eleganten Schreibe zum „Reich des Guten“ mutierte.

Nach Ignatieff sind die Vereinigten Staaten „ein Imperium light, ein Weltreich, das seine Vollendung in freier Marktwirtschaft, Menschenrechten und Demokratie findet, durchgesetzt von der einschüchterndsten Militärmacht aller Zeiten“4 . Ignatieff schloss sein umfängliches Plädoyer mit der Behauptung: „Für das Imperium spricht, dass es in einem Land wie dem Irak die letzte Hoffnung auf Demokratie und Stabilität verkörpert.“ Im Rückblick weiß man, wie grundfalsch diese Einschätzung war.5

Während sich „liberale“ Intellektuelle (was im US-amerikanischen Sinne „progressiv“ bedeutet) in derart „idealistischen“ Lobeshymnen ergingen, stieß das Ansinnen der Bush-Administration, der muslimischen Welt im Allgemeinen und dem Irak im Besonderen die Demokratie zu bringen, bei den „Realisten“ auf heftige Kritik. Adam Garfinkle, Chefredaktuer von The National Interest, der wichtigsten Theorie-Zeitschrift der realistischen Schule, warnte bereits im Herbst 2002 vor der Naivität dieser Sichtweise.

Garfinkel bezog sich in seinem Beitrag auf das „Paradox der Demokratie“, formuliert von Samuel Huntington, dem Harvard-Politikwissenschaftler und Mitbegründer der Zeitschrift Foreign Affairs. Nach dieser Theorie kann es in manchen Regionen vorkommen, dass demokratische Verhältnisse gerade den Kräften in die Hände spielen, die dem Westen, dem Musterschüler der Demokratie, feindlich gesinnt sind. Dieses Paradox lasse sich, so Garfinkle, gerade in der muslimischen Welt aufzeigen, also in der US-feindlichsten Region überhaupt.

Des Weiteren wies Garfinkle darauf hin, dass in der arabischen Welt demokratische Verhältnisse nur um den Preis geschaffen werden können, „dass entweder ein grundlegender Wandel in der Haltung der Vereinigten Staaten gegenüber den undemokratischen Führungseliten in Saudi-Arabien, Ägypten, Jordanien und anderen Ländern stattfindet oder aber die diplomatische Heuchelei zum Dauerzustand wird“6 .

Diese Heuchelei ist die Bevölkerung der muslimischen Welt seit langem gewohnt, und deshalb werden die Demokratieversprechen Washingtons in der Region nur noch mit einer Mischung aus Ungläubigkeit und Spott zur Kenntnis genommen. Darauf weisen die aufrechten Verfechter der Demokratie in den USA auch immer wieder hin. So kritisierte Thomas Carothers vom „Carnegie Endowment for International Peace“ vor gut einem Jahr die „Persönlichkeitsverdoppelung“ des US-Präsidenten: „Der ‚Realpolitiker Bush‘ pflegt in einigen Teilen der Welt herzliche Beziehungen zu ‚befreundeten Tyrannen‘, während der ‚Neo-Reaganianer Bush‘ in tönenden Appellen eine neuen energischen Feldzug für Demokratie im Nahen Osten fordert.“7

In einem Aufsatz über die Strategie der USA wies Sherle Schwenninger, der stellvertretende Leiter des Programms Weltwirtschaftspolitik an der „New America Foundation“, darauf hin, dass „die amerikanische Politik in den letzten drei Jahrzehnten in ihrem Kern genau gegen die Demokratisierung und Selbstbestimmung der arabischen Welt gerichtet war“. Denn alle US-Präsidenten verfolgten eine Strategie, mit der die Entfremdung der arabischen Bevölkerung gegenüber den Vereinigten Staaten immer weiter vertieft wurde: „Finanzierung der Verteidigungsanstrengungen Israels und Förderung einer ganz bestimmten Art von Friedensprozess“, dazu „die Unterstützung der proamerikanischen Regierungen in Ägypten und Jordanien“ und „die Herausbildung enger Bündnisbeziehungen zu den Herrscherfamilien der Erdölstaaten am Persischen Golf, insbesondere zum saudischen Königshaus“. Schwenninger kommt zu dem Schluss: „Die Besetzung des Irak hat die Legitimationsprobleme der USA zusätzlich verschärft. Bei den meisten Völkern der Region hat sich der Eindruck verfestigt, dass die Vereinigten Staaten mehr am Erdöl und an ihrer militärischen Vormachtstellung interessiert sind als am Wohlergehen des irakischen Volks.“8

Die Welt in den Augen des Prokonsuls

JE deutlicher wurde, dass im Irak keine Massenvernichtungswaffen zu finden sind, und je mehr Misstrauen, wenn nicht gar offene Feindseligkeit die irakische Bevölkerung den USA entgegenbrachte, desto mehr sah sich George W. Bush genötigt, seine Argumentationslinie in Sachen Demokratie weiter auszubauen.

Zu diesem Zweck hielt er am 6. November vorigen Jahres eine programmatische Rede vor Mitgliedern des „National Endowment for Democracy“. Aus diesem Anlass war die 1983 auf Anregung der Reagan-Administration gegründete Stiftung in den Räumlichkeiten der US-Handelskammer zu Gast. Im Mittelpunkt der Bush-Rede stand die Demokratie in der muslimischen Welt. Dabei demonstrierte der Präsident seinen höchst flexiblen Umgang mit dem Begriff Demokratie, äußerte er sich doch höchst zufrieden mit den Autokraten vieler arabischer Staaten – namentlich Marokko, Bahrein, Oman, Katar, Jemen, Kuwait, Jordanien. Und er nannte sogar die saudische Monarchie – während er zugleich die palästinensischen Führer geißelte, „die jede demokratische Reform blockieren und unterlaufen“9 .

Einige Tage später begann im Irak ein Tauziehen zwischen dem „Prokonsul Paul Bremer“ – wie der britische Economist ihn nennt – und dessen irakischen Mitarbeitern auf der einen Seite und Großajatollah al-Husseini al-Sistani, der wichtigsten geistlichen Autorität der irakischen Schiiten, auf der anderen Seite. Damit entwickelte sich ein – im Huntington’schen Sinne – äußerst paradoxes Tauziehen, denn der Ajatollah forderte allgemeine Wahlen zu einer verfassunggebenden Versammlung, deren Verfassungsentwurf ebenfalls einer allgemeinen Abstimmung zu unterwerfen sei. Die Besatzungsmacht dagegen erklärte die kurz- oder mittelfristig angesetzten Wahlen für unmöglich, um die formelle Übergabe der Regierungsgeschäfte an eine von Washington ernannte Regierung zu rechtfertigen. Im Zuge dieser Konfrontation gelang es Ajatollah al-Sistani, gestützt auf die Massendemonstrationen seiner Anhänger, eine Vermittlungsmission der Vereinten Nationen zu erwirken, die mit der Zusage endete, die Wahlen gegen Ende dieses Jahres abzuhalten.

In dieser dem demokratischen Image der Bush-Administration nicht sehr zuträglichen Situation beschloss man in Washington, erneut die Initiative zu ergreifen. Damit wollte man wohl auch den schlechten Umfragewerten entgegenwirken, die nur neun Monate vor den Präsidentschaftswahlen für Aufregung sorgen. Am 13. Februar dieses Jahres veröffentlichte die in London erscheinende arabischsprachige liberale Tageszeitung al-Hayat ein Arbeitspapier mit dem Titel „G-8 Greater Middle East Partnership“10 , das Washington in Vorbereitung des G-8-Gipfels im amerikanischen Seal Island, Georgia, (8. bis 10. Juni) an die „Sherpas“ der G-8-Regierungschefs verteilen ließ.

Das Dokument stützt sich in weiten Teilen auf Berichte des seit 1968 arbeitenden Arab Fund for Economic and Social Development (Afesd) und des arabischen Regionalbüros des UN-Entwicklungsprogramms (UNDP).11 Unter Verweis auf die grassierende Armut, den Analphabetismus und die Arbeitslosigkeit in der arabischen Welt unterstreicht das Partnerschaftspapier die „gemeinsamen Interessen“ der G-8-Länder, die durch die „Zunahme von Extremismus, Terrorismus, internationalem Verbrechen und illegaler Einwanderung“ bedroht seien. Als ergänzende Initiativen stellt das Dokument dar, was mehr oder weniger in Konkurrenz zu dem Konzept des Weißen Hauses steht: den „Barcelona-Prozess“12 und die „Middle East Partnership Initiative“ des US-Außenministeriums. Im selben Atemzug wird auch auf die „multilateralen Anstrengungen zum Wiederaufbau in Afghanistan und im Irak“ verwiesen, als seien sie Teil ein und desselben Programms.

In den Kapiteln „Demokratie“ und „Wissensgesellschaft“ regt das Dokument einige nicht sehr weit reichende Maßnahmen an, wie etwa technische Unterstützung der G 8 für arabische Länder, die bis 2006 Wahlen abhalten. Dabei wird lediglich eine „Hilfestellung im Vorfeld der Wahlen“ ins Auge gefasst (im Wesentlichen technische Unterstützung bei der Registrierung der Wähler und Ausbildung von Wahlhelfern), nicht jedoch eine Überwachung der Wahlen selbst. In Aussicht gestellt werden auch Hilfen für die Einrichtung von Ausbildungszentren für Frauen in leitenden Positionen und für Journalisten, für die Gründung von Rechtshilfeorganisationen (auch bei Urteilen aufgrund der Scharia) und Nichtregierungsorganisationen sowie für die Ausbildung von 100 000 Lehrerinnen bis 2008.

Die ehrgeizigsten Innovationen schlägt das Papier unter der Überschrift „Expanding Economic Opportunities“ vor. Anzustreben sei „eine wirtschaftliche Transformation von ähnlichem Ausmaß wie die der exkommunistischen Länder Ostmitteleuropas“. Entscheidend bei dieser Umbildung ist natürlich die Stärkung des Privatsektors, die nach dem Credo Washingtons das „Sesam, öffne dich“ für den Weg zu Wohlstand und Demokratie darstellt. An dieser Stelle ist das Dokument von einer geradezu verblüffenden Naivität. Durch das Wunderheilmittel Mikrofinanzierungen sollen mit Hilfe von insgesamt 500 Millionen Dollar (verteilt auf fünf Jahre) 1,2 Millionen Arme, davon 750 000 Frauen, zu Unternehmern gemacht werden, was einer Kreditsumme von gerade mal 400 Dollar pro Person entspricht.

Die weiteren Rezepte, die der Plan vorschlägt, sind eher von der klassischen Sorte. Nach dem Vorbild der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBRD) sei eine „Greater Middle East Development Bank“ zu gründen, und dies obwohl die arabischen Länder mit der Afesd schon mindestens eine Bank dieser Art haben, die allerdings nicht unter der Fuchtel des Westens steht. Auch Sonderwirtschaftszonen, wie sie angeregt werden, hat die Region bereits zur Genüge. Dass die arabischen Länder der Welthandelsorganisation (WTO) beitreten und die hierfür erforderlichen Reformen in Angriff nehmen sollen, versteht sich im Übrigen fast schon von selbst.

Seit al-Hayat das Schriftstück publik gemacht hat, reißt die Kritik aus der arabischen Welt nicht ab. Schon die Definition von „Greater Middle East“ stieß auf Widerspruch. Neben den arabischen Ländern bezieht sich der Begriff auf Afghanistan, den Iran, Pakistan, die Türkei und Israel, Länder also, deren gemeinsamer Nenner allein darin besteht, dass sie in einer Region mit weit verbreitetem Antiamerikanismus liegen – und mit einem wachsenden antiwestlichen islamischen Fundamentalismus, den Washington bekanntlich seit dem Ende des Kalten Kriegs zum Staatsfeind Nummer eins erklärt hat.

Sieht man einmal von den politisch-strategischen Zielen der USA ab, für die sie auch ihre westlichen Partner gewinnen wollen, so lässt sich ein solches begriffliches Amalgam von Ländern, das entweder zu weit oder zu eng gefasst ist, durch keinerlei geografische, kulturelle oder wirtschaftliche Gründe rechtfertigen. Die Regierenden dieser Länder können diese Sichtweise ebenso wenig akzeptieren wie die jeweilige Bevölkerung – mit Ausnahme von Israel, das die strategischen Prioritäten Washingtons teilt, weil die anderen Länder des „Greater Middle East“ für das Land die Hauptbedrohung darstellen.

Eine der ersten und heftigsten arabischen Reaktionen auf die US-Vorschläge stammt von dem federführenden Autor des „Berichts über die menschliche Entwicklung in der arabischen Welt“, dem Ägypter Nader Fergany. Empört über die Methode, mit der Washington seinen Bericht ausgeschlachtet hat, betonte Fergany in al-Hayat, dass schon die Verfahrensweise Washingtons „die arrogante Mentalität der US-Administration gegenüber dem Rest der Welt“ zum Ausdruck bringe. Denn weder die G-8-Staaten noch die arabischen Länder hätten ausreichend Zeit gehabt, sich mit dem Projekt auseinander zu setzen. Damit tue die US-Regierung so, als könnte sie über das Schicksal anderer Staaten und Völker befinden.13

Fergany wirft den Autoren des US-Plans vor, dass sie die Ergebnisse einer ausschließlich auf die arabischen Länder bezogenen Untersuchung unzulässig verallgemeinern. Die mehrheitlich muslimischen Länder, die von den US-Autoren offenbar ins Auge gefasst werden, hätten doch nicht viel mehr miteinander gemein, als dass die Neokonservativen sie als Quelle des Terrorismus betrachten. Der Plan sei aus mehreren Gründen abzulehnen. Erstens, weil er von außen komme und man die betroffenen Länder nicht beteiligt habe. Zweitens, weil es einer Administration, die die Interessen der arabischen Welt bedroht und an der Verbreitung von Korruption teilhat, einfach an Glaubwürdigkeit fehle. Und drittens, weil die Art und Weise, wie sich Washington auf den UNDP-Afesd-Bericht stützt, an einen Betrunkenen erinnere, „der sich nicht etwa, weil er Licht sucht, sondern damit er nicht umfällt an eine Laterne lehnt“.

Überdies – und hier artikuliert Fergany eine in der Region weit verbreitete Empfindung – suche Washington die Nahostpläne Europas zu konterkarieren. Dies gelte insbesondere für die Länder, allen voran Deutschland und Frankreich, die durch ihre Ablehnung des Irakkriegs „Popularität und Respekt beim arabischen Volk gewonnen haben, weshalb sie bei den Kräften des Wandels in der Region als wichtige Verbündete gelten“. Sollten sich diese Länder jetzt den Auffassungen der USA anschließen, so „würden sie das politische Kapital, das sie durch die Unterstützung der arabischen Rechte erworben haben, weitgehend wieder einbüßen“ und eine historische Chance verpassen, mit den Kräften des Wandels in der Region partnerschaftlich zusammenzuarbeiten. Wie Fergany formuliert, sei dies womöglich sogar „ein unterschwelliges Ziel“ des US-Dokuments.

Ferganys Hauptvorwurf gegen die Vereinigten Staaten lautet jedoch, dass es ihnen vor allem darum gehe, im Nahen Osten ihr Wirtschaftsmodell durchzusetzen. Der Plan verkenne die wichtigsten Probleme der arabischen Welt und postuliere die Integration Israels in die Region, ohne ein Wort über die Rechte der Palästinenser zu verlieren. Auch interessiere er sich nur für den Wiederaufbau des Irak – nicht aber für dessen staatliche Souveränität –, was sich darin ausdrücke, dass sämtliche Unternehmen, denen die Aufträge zufallen, in Staaten zu Hause sind, „die zur Zerstörung des Irak beigetragen haben“.

In seinem Fazit fordert Fergany die arabischen Staaten auf, das US-amerikanische Projekt abzulehnen und eigene Reformanstrengungen zu unternehmen.

Genau dies hatte auch der UNDP-Afesd-Bericht angeregt. Die berechtigte Kritik an der ersten Ausgabe des Berichts vom Juli 2002, die Autoren würden nur das neoliberale Credo nachbeten und die mächtigen nichtarabischen Länder aus der Verantwortung für die arabische Welt entlassen, wurde in der jüngsten Ausgabe vom Oktober 2003 berücksichtigt. Der Bericht 2003 unterstreicht die Abhängigkeit der arabischen Volkswirtschaften, warnt davor, die staatlichen Monopole einfach durch private Monopole zu ersetzen, und übt heftige Kritik an der Position Israels und der USA im Nahostkonflikt.14

Dass die Vereinigten Staaten in der Region jede Glaubwürdigkeit verloren haben, ist tatsächlich das größte Handicap ihres Plans. Selbst die entschiedensten Anhänger des Wandels in der arabischen Welt lehnen den Plan aus diesem Grund ab. Das gilt etwa für den Tunesier Moncef Marzouki, einen Vorkämpfer für die Menschenrechte. Er betont in seinem ebenfalls in al-Hayat veröffentlichten Beitrag, die auf Demokratisierung zielende Politik der USA wirke auf die arabische Welt völlig unglaubwürdig: „Man kann sogar sagen, dass ihre gesamte Politik im Gegenteil dazu führt, den extremistischen islamischen Kräften den Weg zu ebnen, wie wir es im Irak bereits sehen und andernorts noch sehen werden.“15

Die tiefe Feindseligkeit, die der Bush-Administration in den arabischen Ländern entgegenschlägt, und das Misstrauen gegen jede Initiative aus ihren Reihen haben auch Ägypten und Saudi-Arabien, die Hauptverbündeten und Schützlinge Washingtons, veranlasst, sich von dem US-Plan zu distanzieren. Der ägyptische Präsident Mubarak setzte sich gar an die Spitze der Kritiker, um nicht selbst ins Schussfeld zu geraten. Nachdem er seine Vorbehalte geäußert hatte, flog er nach Riad, wo er sich in einer gemeinsamen Erklärung mit seinen Gastgebern gegen jeden von außen kommenden Plan aussprach, der „den arabischen und muslimischen Ländern bestimmte Reformen vorschreibt“.16

Angesichts dieser Ablehnungsfront bekundete die Bush-Administration, dass sie keineswegs beabsichtige, stellvertretend für die Länder der Region zu handeln. Um diese Botschaft zu übermitteln, reiste der für die Region zuständige stellvertretende Außenminister Marc Grossman durch die verbündeten arabischen Staaten. Das hielt ihn jedoch nicht davon ab, in Brüssel zu erklären, man solle auf dem im Juni dieses Jahres stattfindenden Dubliner Gipfeltreffen zwischen den USA und der EU und auf dem Istanbuler Nato-Gipfel die Reform des „Größeren Nahen Ostens“ auf die Tagesordnung setzen. US-Außenminister Colin Powell wiederum ließ auf seiner Rundreise durch die Region wissen, Washington vertraue darauf, dass sich die arabischen Staaten noch vor dem G-8-Gipfel mit dieser Frage befassen.

Beim Gipfeltreffen der Arabischen Liga, das Ende März in Tunis stattfinden sollte und zur allgemeinen Überraschung kurzfristig abgesagt wurde, wollten die arabischen Verbündeten der USA die (ebenfalls von Washington inspirierte) „saudische Initiative“ zu neuem Leben erwecken. Dies hatte man bereits für den letztjährigen Gipfel geplant, der wegen der Irakkrise auf nur einen Tag verkürzt wurde und nicht wie vorgesehen in Bahrein, sondern im ägyptischen Scharm al-Scheich stattfand. Die Initiative von Prinz Abdallah schien damals aus zwei Gründen nicht sonderlich opportun: erstens wegen der regionalen Spannungen und zweitens weil einige arabische Staatsführer den Eindruck vermeiden wollten, sie würden sich den Wünschen Washingtons beugen. Vor allem der syrische Präsident Baschar al-Assad wies darauf hin, dass Washington in verschiedenen „Verkleidungen“ auftrete, um die Welt irrezuführen und den Irak unter seine Kontrolle zu bringen. Niemand anders als Washington verberge sich hinter den UN-Inspektionen und den Resolutionen des Sicherheitsrats. Mal mache man die Massenvernichtungswaffen zum Vorwand, mal „die Demokratie, dann wieder die Menschenrechte, und jetzt versprechen sie uns auch noch Entwicklung“.17

Die saudische Initiative zielt auf die Verabschiedung einer neuen Charta der Arabischen Liga, die sich für „Selbstreform“, für den Ausbau der „politischen Teilhabe“, für die „Unterstützung und Förderung des Privatsektors“ und für die möglichst baldige Schaffung eines „gemeinsamen arabischen Markts“ ausspricht. Das klingt nun keineswegs so, als wolle man es tatsächlich mit anderen Rezepten versuchen. Im Gegenteil. Der Kontrast zwischen der zaghaften und vagen Formulierung der politischen Ziele und den sehr entschiedenen und grundsätzlichen Forderungen auf ökonomischen Gebiet lässt stark vermuten, dass die „Befreiung“ sich wohl auch im Nahen Osten in einer wirtschaftlichen Privatisierung erschöpfen wird.

deutsch von Bodo Schulze

* Gilbert Achcar, Universität Paris-VIII, ist derzeit Forscher am Centre Marc Bloch in Berlin. Er ist u. a. Autor von „The Clash of Barbarisms“ (2002, dt.: „Der Schock der Barbarei“, ISP-Verlag, Köln) und „Eastern Cauldron“ (2004), beide bei Monthly Review Press, New York, erschienen.

Fußnoten: 1 Eine besonders optimistische Darstellung des US-amerikanischen Demokratisierungsplans für den Nahen Osten findet sich bei Victor Davis Hanson, „Democracy in the Middle East: It’s the hardheaded solution“, im Weekly Standard, dem Zentralorgan der Neokonservativen, vom 21. Oktober 2002. 2 George W. Bush, „President Discusses the Future of Iraq“, Office of the Press Secretary, The White House, 26. Februar 2003. 3 George W. Bush, „Remarks by the President in Commencement Address at the University of South Carolina“, Office of the Press Secretary, The White House, 9. Mai 2003. 4 Michael Ignatieff, „The Burden“, New York Times Magazine, 5. Januar 2003. 5 Ignatieff hat inzwischen seine Position im New York Times Magazine vom 14. März 2004 öffentlich korrigiert (s. „The Year of Living Dangerously“) 6 Adam Garfinkle, „The Impossible Imperative? Conjuring Arab Democracy“, The National Interest, Herbst 2002. 7 Thomas Carothers, „Promoting Democracy and Fighting Terror“, Foreign Affairs, Januar/Februar 2003. 8 Sherle Schwenninger, „Revamping American Grand Strategy“, World Policy Journal, Herbst 2003. 9 „Remarks by the President at the 20th Anniversary of the National Endowment for Democracy, United States Chamber of Commerce“, The White House, Washington, 6. November 2003. 10 Der Text steht unter http://www.al-bab.com/arab/docs/international/gmep2004.htm. 11 UNDP und Afesd, „Bericht über die menschliche Entwicklung in der arabischen Welt“, New York, 2003. (Die arabische Version lässt sich von der UNDP-Webseite kostenlos herunterladen, die englische und die französische Version sind kostenpflichtig: www.undp.org). 12 1995 wurde in Barcelona die Europa-Mittelmeer-Partnerschaft ins Leben gerufen (Barcelona-Prozess). Sie soll die Beziehungen zwischen der EU und den Mittelmeer-Anrainern vertiefen und eine Zone der Stabilität und Prosperität schaffen. Die Mittelmeer-Partnerschaft ist das Gegenstück zu der auf Integration ausgerichteten Politik der EU gegenüber den Nachbarn in Mittel- und Osteuropa, allerdings ohne Beitrittsperspektive. Sie umfasst neben den EU-Ländern zwölf Partner aus dem südlichen und östlichen Mittelmeerraum (Marokko, Algerien, Tunesien, Ägypten, Israel, Palästinensische Autonomiegebiete, Jordanien, Libanon, Syrien, Türkei; Libyen ist Beobachter). 13 Nader Fergany, „Kritik des Projekts ‚Grand Middle East‘: Die Araber sollten eine von außen kommende Reform ablehnen“ (in arabischer Sprache), Al-Hayat, 19. Februar 2004. 14 Im Gegenzug zahlte die Bush-Administration erheblich weniger in den UNDP-Haushalt ein, als der Kongress bereits bewilligt hatte. 15 Moncef Marzouki, „Das amerikanische Demokratie-Projekt für den Größeren Nahen Osten – Ja, aber mit wem?“ (in arabischer Sprache), Al-Hayat (London) 23. Februar 2004. 16 Dazu Nevin Khalil, „Winds of Change“, Al-Ahram Weekly (Kairo) 26. Februar 2004. 17 Dazu Amira Howeidy, „Swan-Song for Arab Unity“, Al-Ahram Weekly, 6. März 2003.

Le Monde diplomatique vom 08.04.2004, von GILBERT ACHCAR