16.01.2009

Die große Heuchelei

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Die große Heuchelei

Die Anschläge von Mumbai und das indische Fernsehen von Gnani Sankaran

Nachdem ich während der letzten 60 Stunden des Terrors in Mumbai zwischen vier englischsprachigen Fernsehsendern hin und her gezappt bin, verspüre ich eine andere Art von Terror: mit Kameras, Sound Bites und unaufhörlichem Gerede wird ein Anschlag auf meinen Geist und meine Gefühle verübt. All diese Sender versuchen, meine Zustimmung zu einer großen Lüge zu herzustellen, die da heißt: Hotel Taj Mahal, das Wahrzeichen Indiens.

Es ist eine große Schande, dass diese Sender es für schlichtweg unnötig hielten, über das andere Symbol zu berichten, das von den Terroristen zuerst angegriffen wurde: den historischen Bahnhof von Mumbai, Chhatrapati Shivaji Terminus (CST). Der CST oder auch VT (Victoria Terminus) ist das eigentliche Wahrzeichen Mumbais. Zigtausende Inder aus Uttar Pradesch, Bihar, Radschastan, Westbengalen und Tamilnadu sind seit Jahren durch diesen Bahnhof nach Mumbai geströmt, wo sie zu Mumbaikars wurden und zusammen mit den Marathen und den Koli das heutige Mumbai erbauten.

Aber die Fernsehstationen ignorieren diese Tatsache, so wie sie die mehr als dreißig Leichen ignorierten, die auf den Bahnsteigen des CST lagen. Keine Barkha Dutt1 war vor Ort, um uns zu berichten, wer diese Toten sind. Stattdessen stritt sie sich mutig mit den Wachen im Taj herum, um uns kaputte Möbel und die zerstörte Empfangshalle vorzuführen. Nicht eine Fernsehkamera erschien im staatlichen JJ Hospital, um mehr über die 26 nicht identifizierten Toten herauszufinden. Ins ramponierte Taj sind sie aber, wenn auch vergeblich, ein weiteres Mal eingedrungen, um einen Schnappschuss von den Leichen medialer Berühmtheiten zu ergattern.

Aller Wahrscheinlichkeit nach handelt es sich bei den unbekannten Toten um Arbeitsmigranten aus Bihar und Uttar Pradesch, die mit dem Zug am Bahnhof ankamen und weder Handy noch Steuerkarte bei sich hatten, anhand derer man sie hätte identifizieren können. Noch 60 Stunden nach dem Blutbad am Bahnhof hatte sich kein Fernsehsender die Mühe gemacht, über die Ereignisse dort genauer zu berichten.

Die Sender sahen bequemerweise auch darüber hinweg, dass es für die Aam Aadmis – das sind die normalen Leute in Mumbai, die mit Mühe von Tag zu Tag über die Runden kommen – völlig unwichtig ist, ob Taj, Oberoi und Trident Hotel ein paar Wochen oder Monate geschlossen bleiben. Ihnen machte vielmehr zu schaffen, dass Busse und Vorortzüge nicht fuhren, und sei es nur für eine Stunde. Aber über diese Aspekte der Anschläge wurde nicht berichtet. Solche Informationen flackerten bestenfalls als Lauftext unten über den Bildschirm, während sämtliche Kameras auf den Echtzeitkrimi gerichtet bleiben, der sich im Taj oder am Nariman Bhavan abspielte.

Das Aufheben, das die TV-Sender um das Kulturdenkmal Taj machen (auch der CST ist im Übrigen ein Kulturdenkmal), wird damit gerechtfertigt, dass sich hier die Reichen und Mächtigen Indiens und der Welt versammeln. Das Hotel ist ein Sinnbild der Macht, des Geldes und der Politik, aber nicht Indiens. Es ist das Symbol der Financiers und Schwindler von Indien.

Mumbai und Indien sind von den Aam Aadmis aufgebaut worden, die tagtäglich durch den Hauptbahnhof kommen. Das Taj hingegen ist eine Oase des Friedens und der Exklusivität für jene, die die Macht über die Menge der Arbeitenden ausüben. Im Leopold Club oder im Taj trifft sich eine Jeunesse dorée, die mit ihren Landcruisern die am Boden schlafenden Aam Aadmis einfach überfahren würde, außerdem die Mafiosi von Mumbai, die Bollywood-Sternchen (und auch Terroristen) finanzieren, sowie politische Intriganten und Industrielle.

Das Taj wurde für den Anschlag ausgewählt, gerade weil es das Symbol der Macht und nicht des Volkes ist. Nach mehreren Versuchen haben die Terroristen begriffen, dass Aam Aadmis niemals aufgeben werden, auch wenn man ihre Märkte und Züge zerbombt. Sie sind duldsam und zäh, denn nur so können sie überleben.

Duldsamkeit ist eines der Worte, über das sich die TV-Experten und ihre Paten diesmal besonders ereifern. Wieso duldsam bleiben, genug ist genug, tönte es aus Prannoy Roys Sender2 auf dem linken Flügel des Spektrums. Dieselbe Entrüstung wird auch von Arnab Goswami3 im rechten Sender geäußert, dessen Stunde jetzt geschlagen hat. Und wie sollte Rajdeep4 bei diesem Wettlauf um Einschaltquoten zurückstehen? Diesmal zetern sie einmütig gegen die Duldsamkeit. Und von der Regierung verlangen sie sofortige Maßnahmen zur Bekämpfung des Terrorismus.

Wann immer zuvor Bomben auf Märkten und in Zügen hochgingen und Aam Aadmis töteten und verstümmelten, priesen dieselben Sender die Duldsamkeit. Kaum hatte es sie selbst getroffen, offenbarten die Reichen ihr schwaches Nervenkostüm und weigerten sich, duldsam zu sein. Das Geschrei war groß, der Staat solle eingreifen und ihre Wellness-Oasen, Schwimmbäder, Bars und Restaurants schützen – so wie Citibank, General Motors und ihresgleichen schreien, wenn ihre eigene Ideologie ihnen leere Geldschränke beschert.

Die Terroristen haben gemerkt, dass die gewöhnlichen Inder sich vom Terror nicht einschüchtern lassen. Wer tagtäglich gegen eine von der Regierung gesponserte Inflation und gegen die vom Markt gesponserte Ausgrenzung anstrampeln muss, der hat schon längst gelernt, mit dem Leid zu leben. Die Reichen von Mumbai & India Incorporated sind jetzt zum ersten Mal selbst mit Leid konfrontiert, so wie die indische Mittelklasse zum ersten Mal während des Ausnahmezustands 1975 – 28 Jahre nach der Unabhängigkeit – mit Menschenrechtsverletzungen konfrontiert war.

In Zeiten des Terrors scheuen die Fernsehsender in ihrer Berichterstattung auch nicht davor zurück, die Menschenrechte mit Füßen zu treten. Arnab Goswami fragte mit Tremolo in der Stimme, wo die Menschenrechtsanwälte geblieben seien und weshalb sie nicht den mutigen und selbstlosen Polizisten applaudierten, die im Kampf gegen den Terrorismus ihr Leben aufs Spiel setzten. Die Gegenfrage müsste lauten: Wo waren Sie, Arnab Goswami, als diese Beamten die Menschenrechte der Aam Aadmis mit Füßen traten? Hat man je in diesem Land eine 24-stündige Nonstop-Reportage über Gewalt gegen Dalits und Adivasis5 gesehen?

Es war mit Sicherheit nicht der richtige Zeitpunkt, um einen gesellschaftlichen Konsens über illegale Verhörmethoden bei Polizei und Armee herzustellen, aber Leute wie Arnab lassen keine Gelegenheit aus, ihren Herren nach dem Mund zu reden. Diesmal kam der chauvinistische Reflex wie gerufen, um Uniformträgern aller Art eine reine Weste zu verschaffen.

Die Opfer aus den Reihen der Sondereinsatzkommandos und der Polizei, die von der Hand skrupelloser Terroristen starben, sind zweifelsohne beklagenswert. Aber in einer Situation, wo es nicht nur auf Muskeln, sondern auch auf Köpfchen ankam, waren sie leider völlig umsonst. Israel hatte nicht Unrecht, als es anmerkte, seine Bürger seien hier ums Leben gekommen, weil die Einsätze schlecht geplant waren.

Die Polizeioffiziere Karkare und Salaskar hätten nicht sterben müssen, wenn sie nicht den Fehler gemacht hätten, in dasselbe Fahrzeug zu steigen. Und die Terroristen hätten sich vor Lachen die Bäuche gehalten, wenn sie gesehen hätten, wie der Chef des Marinekommandos im Fernsehen, das Gesicht hinter einem durchsichtigen Tuch verborgen, erzählte, seine Elitetruppe habe keine Ahnung von den baulichen Gegebenheiten im Taj, das seine Männer gerade zu befreien versuchten. Die Terroristen dagegen waren, wie er selbst zugab, mit den Örtlichkeiten bestens vertraut.

Ist es so schwierig, einen Grundriss des Taj Hotels zu besorgen und die operative Strategie gründlich durchzusprechen, bevor man in das Objekt eindringt? Jeder Eventmanager würde das tun, bevor er für eine Kulturveranstaltung seine 25 Audiosysteme und 50 Überwachungskameras irgendwo einbaut. Hätte nicht der Besitzer dieses altehrwürdigen Hotels, dem ein mächtiger Apparat zur Seite steht, den Regierungskommandos innerhalb von einer Stunde die Pläne des Gebäudes vorlegen können? Warum eigentlich verfügen nur Terroristen über Satellitenbilder und nicht die Regierungsbehörden? Bei einer Operation, die, wie man wusste, einige Zeit in Anspruch nehmen würde, hätte eine Stunde mehr für die Planung die Durchführung nur verbessern können. Opfer sind immer besonders tragisch, wenn unprofessionell vorgegangen wurde. Doch die leichtgläubigen Medien vergaßen inmitten ihrer patriotischen Wallungen, auch nur eine einzige dieser Fragen aufzuwerfen.

Schließlich haben sie immer ihre Lieblingsprügelknaben zur Hand – die Politiker, diese ewigen Buhmänner der nichtwählenden, reichen Klassen Indiens. Die Arnabs und Rajdeeps ereiferten sich eloquent über Premierminister Manmohan Singh und Oppositionsführer Advani, die getrennt nach Mumbai kamen, und selbst in diesen Krisenstunden keine gemeinsame Geste der Solidarität zustande brachten. Was für eine Heuchelei!

Und weshalb können die Sender in einer solchen nationalen Notlage nicht ihre Kamerateams und Reporter zusammenlegen und die Bilder und Sound Bites miteinander teilen, um eine breitere und bessere Berichterstattung anzubieten? Warum müssen Arnap und Rajdeep und Barkha in Zeiten einer nationalen Krise alle fünf Minuten herausstreichen, dass dieses eine Fitzelchen Information exklusiv auf ihrem Sender läuft? Ist dies etwa die richtige Zeit, um Werbung für den eigenen Sender zu machen?

Wenn dem aber so ist, warum sollen Politiker nicht auch ihre eigenen Wähler ansprechen dürfen? Ist es nicht die Pflicht eines jeden Politikers, Politik zu machen – seine Politik? Es ist an den Wählern, diese Politik zu bewerten. Schließlich steht auch der Terrorismus nicht außerhalb der Politik, sondern ist Politik mit anderen Mitteln.

Um ihn einzudämmen und zu eliminieren, muss man der mit anständigen Mitteln betriebenen Politik die Gelegenheit zur Feinabstimmung und Verbesserung geben. Alle Politik und Politiker zu verunglimpfen, hilft doch nur den Terroristen und Diktatoren, die ohnehin vieles gemein haben. Und die Reichen und Mächtigen schätzen oft Terroristen und Diktatoren, weil man mit ihnen besser Geschäfte machen kann.

Es sind stets die Aam Aadmis, die bei solchen Schusswechseln auf der Strecke bleiben und die nicht betrauert werden – der Taxifahrer, der bei dem Blutbad am Bahnhof seine gesamte Familie verlor, die Kellner und Zimmermädchen, die im Taj ihr Leben ließen und die in einem Monat nicht so viel verdienen wie ihre Gäste an einem Abend dort verprassen.

P.S. In einem Wutanfall schickte ich nach 30 Stunden Berichterstattung eine Nachricht an sämtliche Sender. Schließlich werden die Zuschauer permanent aufgefordert, sich zu allem Möglichen und Unmöglichen zu äußern. Meine Botschaft lautete: „Ich schicke Ihnen diese Nachricht voller Schmerz. Alle Sender einschließlich des Ihren sollten sich dafür entschuldigen, dass sie nicht über die Opfer des Blutbads im CST, die wahren Mumbaikars und Aam Aadmis Indiens berichten. Es ist widerwärtig, wie besessen Sie von der Fünf-Sterne-Elite sind. Nehmen Sie sich ein Vorbild an den Printmedien.“ Kein Sender scherte sich darum. Nur Srinivasan Jain von NDTV schrieb zurück: „Sie haben recht. Wir werden heute versuchen, uns um mehr Ausgewogenheit zu bemühen.“ Bis jetzt, 66 Stunden nach den Anschlägen, wo ich diesen Text hier zu Ende schreibe, hat sich nichts geändert.

Fußnoten: 1 Eine der profiliertesten Journalistinnen Indiens. 2 Bekannte Medienfigur, Gründer und Chef von New Delhi Television (NDTV), Onkel der Schriftstellerin Arundhati Roy. 3 Chefredaktuer und Nachrichtensprecher des Senders Times Now. 4 Rajdeep Sardesai, Chef des mit CNN verbundenen Senders IBN-7. 5 Dalit sind Kastenlose, sogenannte Unberührbare; Adivasi die Nachfahren der indischen Ureinwohner, Angehörige alter Stämme. Vor allem diese beiden Gruppen bilden die ärmste Schicht Indiens.

Aus dem Englischen von Robin Cackett

Gnani Sankaran ist ein tamilischer Schriftsteller, Theaterregisseur und Filmemacher, www.gnani.net.

Le Monde diplomatique vom 16.01.2009, von Gnani Sankaran