11.07.2003

So stark wie ihre Mitglieder

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So stark wie ihre Mitglieder

DER Irakkrieg ist vorbei. Der „Wiederaufbau der Infrastruktur und der Institutionen des Landes“ steht auf dem Plan. Am Ende dieser Phase sollen die Iraker ihre volle Souveränität wiedererlangen und – wie versprochen – in einem unabhängigen, freien und demokratischen Staat leben können. Diese beiden wesentlichen Ziele sind nur zu erreichen, wenn die Phase des Wiederaufbaus auf internationaler Ebene einhergeht mit einer unaufgeregten Behandlung des Streitfalls Irak durch die UNO. Dabei sollten allein die Interessen des irakischen Volkes zählen.

Die Geschichte der Vereinten Nationen hat gezeigt, dass es noch bei jeder Krise und bei jeder programmatischen Frage innerhalb der Weltorganisation verschiedene Auffassungen gegeben hat. Das ist unvermeidlich. Die Vereinten Nationen wären eben nicht das einzigartige Forum, das sie sind, wenn dort alles dem Dogma der Übereinstimmung unterworfen wäre. Deshalb tragen die einzelnen Resolutionen des Weltsicherheitsrats vor allem die Züge der (jeweiligen) Zeit, sofern sie nicht einfach eine Lektion in politischer Ethik sind. Und deshalb müssen die Vereinten Nationen nach den Turbulenzen der Irakkrise auch unbedingt wieder zu ihrer Einheit in Vielfalt zurückfinden. Gefordert sind dabei zuallererst die fünf ständigen Mitglieder des Sicherheitsrats, die aufpassen müssen, dass sie die neue Weltordnung nicht mit der Versuchung einer neuen Weltunordnung verwechseln.

Die Zukunft der Iraker – insbesondere die Verwirklichung ihrer sozialen Rechte wie Bildung, Gesundheit und Unterkunft – hängt von ihrem Ölreichtum ab. Erst vor kurzem haben die Vereinten Nationen gefordert, es gelte, die Ausbeutung und Verwaltung der Rohstoffe eines Landes zur Aufrechterhaltung von Frieden und Sicherheit zu nutzen. Auf dieser Grundlage hat der Sicherheitsrat jüngst in Sierra Leone, Liberia, Angola sowie in der Demokratischen Republik Kongo die Veruntreuung der Bodenschätze bzw. deren Ausnutzung für die Zwecke der einzelnen Konfliktparteien mit Sanktionen belegt.

Heute gehören 191 Staaten den Vereinten Nationen an. Der Einfluss jedes einzelnen Staates hängt bekanntlich von seinem Gewicht im internationalen Kräftespiel ab. Wer heute ein möglichst optimales Gleichgewicht innerhalb der Organisation herstellen will, muss folglich dafür sorgen, dass sie ihre zentrale Rolle als Instrument im Dienst der gesamte Völkergemeinschaft weiterhin wahrnehmen kann.

Ein dauerhafter Bruch innerhalb des Sicherheitsrats hätte nicht nur eine zunehmende Bedrohung der kollektiven Sicherheit und des Weltfriedens zur Folge, sondern er würde auch eine Reihe globaler Schutzmechanismen zerstören, die geeignet sind, die wichtigsten Ursachen von Krieg, Bürgerkrieg und Terrorismus einzudämmen, zu korrigieren und zu bekämpfen. Zu diesen Ursachen gehören vor allem Armut, Unwissenheit, Gleichgültigkeit, Egoismus und Hass, aber auch die Missachtung von demokratischen Regeln und Verfahren und der grundlegenden Menschenrechte. Das Kinderhilfswerk Unicef, das HIV/Aids-Programm UN-Aids, die Weltgesundheitsorganisation WHO, das Entwicklungsprogramm UNDP, das Welternährungsprogramm WFP oder die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation FAO sind weltweit die wichtigsten Hilfsorganisationen – sie alle sind Organe der Vereinten Nationen. Sie agieren auf der Grundlage eines Mandats, das ihnen von allen 191 Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen erteilt worden ist.

Selbstverständlich lässt sich das System verbessern, denn seine Funktionsweise und Aufgaben müssen ständig an die Entwicklung und veränderte Realität angepasst werden. Selbstverständlich auch ist die Geschichte der Vereinten Nationen nicht eine durchweg rosige Erfolgsstory. Die Organisation ist ein Abbild der Welt – sie spiegelt die Beziehungen zwischen den mächtigeren und den schwächeren, verletzlicheren Regionen der Erde. Zu Unrecht wird die Weltorganisation von ihren ideologisch verbohrten Gegnern als eine ruinöse, ineffiziente Bürokratie karikiert, als eine Maschine, die einzig dazu da sei, die Stärksten zu schwächen und die Schwachen künstlich zu stärken.

Die Wirklichkeit ist anders: Seit mehr als einem halben Jahrhundert, seit ihrer Gründung inmitten der Trümmer, des Chaos und der Zerstörung am Ende des Zweiten Weltkriegs, ermöglichen die Vereinten Nationen genaue Analysen darüber, was falsch läuft in der Welt, und Entscheidungen über Maßnahmen, damit die Dinge ein wenig weniger falsch laufen.

1963, kurz nachdem die ersten afrikanischen Staaten ihre Unabhängigkeit erlangt hatten, gründeten sie die Organisation für Afrikanische Einheit, OAU. Die beiden wichtigsten Ziele der OAU waren die vollständige Entkolonialisierung Afrikas und die Abschaffung der Apartheid. In all den Jahren des Kampfes um diese beiden Ziele waren die Vereinten Nationen in guten und schlechten Zeiten ein treuer und entschiedener Verbündeter der OAU und der afrikanischen Völker. Jeder Sieg der panafrikanischen Vereinigung war auch ein Sieg für die Vereinten Nationen und damit für die gesamte Völkergemeinschaft.

Muss man daran erinnern, dass die Vereinten Nationen eine wichtige Rolle bei der Entstehung zahlreicher Staaten gespielt haben? Man denke nur an Israel 1948, Namibia 1990 oder in jüngster Zeit an Osttimor, das seine neue Freiheit mithilfe einer UN-Übergangsregierung erlangte und deshalb seine Unabhängigkeit mit der gesamten Völkergemeinschaft feiern kann – auch mit der ehemaligen Besatzungsmacht Indonesien.

Immerhin gibt der Krieg im Irak berechtigten Anlass zu Hoffnungen für ein Anliegen, für das sich die UN seit Jahrzehnten engagieren: das Recht des palästinensischen Volkes auf einen unabhängigen und souveränen Staat. Die Völkergemeinschaft und insbesondere die Vereinigten Staaten unternehmen seit Anfang Mai 2003 wichtige Schritte, um die Friedensgespräche zwischen der palästinensischen Autonomiebehörde und dem israelischen Staat wieder in Gang zu bringen. Gestärkt werden die Bemühungen durch die von den USA, Russland, Europa und der UN ausgearbeitete Roadmap, die in mehreren Stufen die Schaffung eines palästinensischen Staates bis 2005 vorsieht.

Verschiedene Experten der internationalen Politik haben vorausgesagt, dass der US-Feldzug gegen den Irak eine beunruhigende Wende in den internationalen Beziehungen bringen werde. Man prognostizierte eine Destabilisierung des gesamten Nahen Ostens. Zum Glück sind die befürchteten apokalyptischen Entwicklungen nicht eingetreten. Der Krieg im Irak hat zwar keine „neue Weltordnung“ hervorgebracht, aber er bestätigt die These, wonach der Fall der Berliner Mauer (das Ende des Kommunismus) und die terroristischen Anschläge vom 11. September 2001 den Lauf der Geschichte grundlegend verändert haben. Statt an einer rigiden Doktrin festzuhalten, sollte man nach diesen beiden Erschütterungen die internationalen Beziehungen überdenken und dabei das Ziel verfolgen, die Welt besser zu machen, als sie heute ist.

Um sich dieser Herausforderung zu stellen, besitzt die Völkergemeinschaft auch weiterhin kein besseres Instrument als die Vereinten Nationen. Sie sind ein wichtiges Vorbild für die Afrikanische Union (AU), die im Juli 2002 an die Stelle der Organisation für Afrikanische Einheit (OAU) getreten ist. Die Afrikanische Union ist nicht nur eine Erneuerung der Fassade und des Namens; die neue panafrikanische Organisation ist eine Reaktion auf bestimmte geostrategische Erfordernisse ihrer Mitgliedstaaten, aber auch auf neue Prioritäten der afrikanischen Völker. So wurde die Union mit neuen, am Vorbild der UN ausgerichteten Organen ausgestattet, zum Beispiel mit einem Rat für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Fragen (Economic, Social and Cultural Council, Ecosocc) sowie einem Rat für Frieden und Sicherheit (AU Peace and Security Council), in dem 15 Staaten Sitz und Stimme haben. Nach dem Vorbild des Weltsicherheitsrats dient dieses Organ der Vorbeugung, Bewältigung und Lösung von Konflikten.

Wie der Irakkrieg gezeigt hat, ist es unerlässlich, die Rolle regionaler multilateraler Organisationen als Ergänzung zu den Vereinten Nationen zu stärken. Und das gilt nicht nur für die Afrikanische Union, sondern auch für die Organisation Amerikanischer Staaten und selbstverständlich auch für die Arabische Liga.

Vergessen wir nicht, dass die UN-Charta in Kapitel VIII die Rolle und letztlich sogar die vorrangige Bedeutung regionaler Organisationen in Fragen der Krisenbewältigung und des Friedenserhalts festschreibt. In Kapitel VIII, Artikel 52, Absatz 1 der UN-Charta heißt es: „Diese Charta schließt das Bestehen regionaler Abmachungen oder Einrichtungen zur Behandlung derjenigen die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit betreffenden Angelegenheiten nicht aus, bei denen Maßnahmen regionaler Art angebracht sind.“ Diese Bestimmung besagt, dass ein Rückgriff auf Kapitel VII der Charta (Maßnahmen bei Bedrohung oder Bruch des Friedens und bei Angriffshandlungen) zugleich das Versagen der regionalen Institutionen anzeigt. Damit dieser Fall nicht eintritt, hat die AU sich Instrumente geschaffen, um beurteilen zu können, was in Afrika falsch läuft. Sie vermag nun Maßnahmen zu beschließen, damit die Dinge sich zum Besseren wenden. Erfolg oder Misserfolg liegen also in den Händen der Mitgliedstaaten – ganz wie bei Vereinten Nationen.

deutsch von Michael Bischoff

* Derzeit Interimspräsident der Kommission der Afrikanischen Union, ehemals Außenminister der Elfenbeinküste.

Le Monde diplomatique vom 11.07.2003, von AMARA ESSY