09.07.2004

Öl bleibt knapp

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Öl bleibt knapp

So hoch wie in den letzten Monaten lag der Preis für Rohöl lange nicht mehr. Die Gründe reichen von der desolaten Lage im Irak über die Angst vor Terroranschlägen in Saudi-Arabien bis zur steigenden Nachfrage auf dem Ölweltmarkt, die Spekulanten wunderbare Möglichkeiten eröffnet. Immerhin: Durch politische und statistische Unsicherheiten steigt die Attraktivität der alternativen Energien.

Von NICOLAS SARKIS *

WAS sind die Ursachen für den derzeitigen Anstieg des Erdölpreises? Handelt es sich um ein vorübergehendes Konjunkturphänomen oder um den Beginn eines langfristigen Aufwärtstrends? Oder sogar, wie manche Beobachter befürchten, um den Vorboten eines neuen Ölpreisschocks, der durch eine ungleichgewichtige Entwicklung von Angebot und Nachfrage ausgelöst wird?

Solche Fragen und Befürchtungen scheinen umso berechtigter, als der Erdölmarkt zwei Monate nach der Irakinvasion vom März/April 2003 in heftige Bewegung geriet und die Hoffnungen, eine rasche Steigerung der irakischen Förderung werde den Ölpreis auf rund 20 Dollar je Barrel drücken, zunichte machte. Mit Beginn des Frühjahrs 2004, als die Weltnachfrage saisonbedingt um 2 Millionen Barrel am Tag sank, hat sich dieser unerwartete Preisanstieg sogar beschleunigt.

Auch der leichte Preisrückgang im Anschluss an das jüngste Treffen der Organisation der Erdöl exportierenden Länder (Opec)1 am 3. Juni 2004 und die Bekanntgabe wachsender Lagerbestände in den Vereinigten Staaten konnte die Besorgnis nicht zerstreuen. In der Tat dürfte die Weltnachfrage in den kommenden Monaten erneut ansteigen, denn die wichtigsten Faktoren, die den Preis auf 40 Dollar je Barrel hochkatapultierten, sind keineswegs verschwunden. Und die ausschlaggebenden Faktoren sind nun einmal die geopolitische Weltlage und der Marktmechanismus.

Ohne die desolate Lage im Irak und die Attentate in Saudi-Arabien hätten sich die Preise gewiss nicht so schnell nach oben bewegt. Im Irak fiel die Tagesförderung im Jahr 2003 auf Grund von Sabotageakten und der allgemeinen Unsicherheit auf 1,3 Millionen Barrel gegenüber 2,1 Millionen Barrel im Vorkriegsjahr 2002. Obwohl die Fördermenge im Mai wieder auf 2,3 Millionen Barrel anstieg, liegt sie immer noch deutlich unter den 3 Millionen von Ende 1999.

Die gestürzte irakische Regierung hatte mit mehreren internationalen Ölgesellschaften Verträge unterzeichnet, die dank der Ausbeutung neuer Lagerstätten eine Verdoppelung der Fördermenge innerhalb der nächsten acht Jahre vorsahen. Doch diese Verträge liegen vorerst auf Eis. Zugleich nährt die Serie von Attentaten im führenden Exportland Saudi-Arabien die Befürchtung, dass Ölfördergebiete die bevorzugten Ziele der Terroristen werden. Im Extremfall, wenn in großem Umfang Pipelines oder Verladeeinrichtungen zerstört werden, wäre mit Lieferstockungen bis hin zu mehr oder weniger langen Exportunterbrechungen zu rechnen. 1973 und 1979 ging der Preisanstieg noch auf die Embargopolitik einiger Förderstaaten beziehungsweise auf den Regimewechsel im Iran zurück. Heute hängt die Preisentwicklung von völlig unvorhersehbaren Ereignissen ab, den Anschlägen gesichtsloser Terrorgruppen. Schlimmer noch: Die drohende Destabilisierung des saudischen Regimes könnte dazu führen, dass das Land seine maßgebliche Rolle bei der Befriedigung der globalen Ölnachfrage nicht mehr wahrnehmen kann.

Insgesamt erklären sich die jüngsten Preissteigerungen – auch als „Risikoprämie“ bezeichnet – zu einem großen Teil aus den Spannungen, die auf die Verschärfung der Lage im Irak und in Saudi-Arabien zurückgehen. Die zwischen sechs und zehn Dollar schwankende Prämie deckt die gestiegenen Versicherungskosten ab, spiegelt aber vor allem die spekulativen Käufe auf den Terminmärkten wider, wo die großen Investmentbanken mehrere Dutzend Milliarden Dollar in Ölkontrakte investiert haben.

Dabei verstärken die geopolitischen Spannungen und spekulativen Käufe nur eine Hausse, die ihre tieferen Ursachen in der allgemeinen Angebots- und Nachfrageentwicklung hat. Dazu gehört das starke Wachstum in den USA, Engpässe im Transport mit Tankern, vor allem aber die strukturelle Entwicklung in China: Über die Hälfte des weltweiten Nachfrageanstiegs ging auf Pekinger Rechnung. „China wird auf Jahre hinaus der dynamischste Teilnehmer am Ölmarkt bleiben“, warnt der amerikanische Energieguru Daniel Yergin von Cambridge Energy Research.2

Für die aktuelle Lage haben drei weitere Faktoren eine besondere Bedeutung. Erstens wird – was oft vergessen wird – die Ölförderung in Nigeria durch ethnische Konflikte und Streiks beeinträchtigt. Und auch in Venezuela wurde voriges Jahr die Ölindustrie durch einen Streik lahm gelegt, was zu einem drastischen Rückgang der Fördermengen führte.

Zweitens resultieren die Preissteigerungen aus Raffinerie-Engpässen in den großen Verbraucherländern. Die weltweiten Verarbeitungskapazitäten liegen infolge der unzureichenden Investitionen der letzten Jahre bei derzeit rund 83,6 Millionen Barrel am Tag, also nur knapp über dem Nachfragehoch von 82,5 Millionen Barrel im Februar 2004. Hinzu kommt, dass die Struktur der Raffineriekapazitäten nicht mehr zu den nachgefragten Produkten passt. Dies gilt vor allem für die Vereinigten Staaten, die täglich sage und schreibe 9,6 Millionen Barrel verbrauchen. Hier zeichnete sich im Mai eine regelrechte Benzinknappheit ab, die die Preise an den Tankstellen in die Höhe trieb und, Dynamik dieser Industrie, durch die plötzliche Attraktivität von bislang weniger rentablen Anlagen auch zum Anstieg der Rohölpreise beitrug.

Ein dritter wichtiger Faktor ist die am 10. April verkündete Entscheidung der Opec, die Fördermenge künftig auf 23,5 Millionen Barrel zu beschränken. Dies und die heftigen Proteste der Industrieländer haben die geopolitischen Spannungen weiter verschärft. Allerdings haben die Opec-Länder ihre tatsächliche Förderung nicht gesenkt.

Zu den grundsätzlichen Problemen, die sich auf den Preis auswirken, gehören immer auch die unzulänglichen und undurchschaubaren statistischen Angaben, die über den Ölmarkt in Umlauf sind. So publizieren etwa die Opec-Länder ihre tatsächlichen Fördermengen erst mit monatelangem Verzug. Das erklärt auch, dass die theoretischen Produktionsquoten und die tatsächlichen Fördermengen ständig durcheinander gebracht werden, wobei die Letzteren die Ersteren in der Regel übersteigen. Deshalb versuchen Marktteilnehmer und -analysten die tägliche Fördermenge jedes Landes durch Beoachtung der Tankerbewegungen und Auswertung von Nachrichten aus zweiter Hand möglichst genau abzuschätzen.

Mangelnde Transparenz macht nicht nur die Fördermengen schwer einzuschätzen; sie erschwert es auch, die Entwicklung der ungenutzten Förderkapazitäten in den verschiedenen Ländern richtig zu beurteilen. Das hat besonders gravierende Folgen, wenn diese Kapazitäten abnehmen, wie es derzeit der Fall ist. Konservativen Schätzungen sehen sie im Moment bei 2,5 bis 3 Millionen Barrel pro Tag, ein Großteil davon in Saudi-Arabien. Die meisten anderen Opec-Länder und die Nicht-Opec-Länder lasten ihre Kapazitäten derzeit voll aus. Eine größere technische Störung, ein Streik oder Unfall würde eine Angebotslücke verursachen und den Markt abermals in Aufruhr versetzen. Diese Gefahr hat auch zu den jüngsten Preissteigerungen beigetragen, zumal der für die zweite Jahreshälfte erwartete Nachfrageschub die geringen Kapazitätsreserven stark beanspruchen dürfte.

Ein weiteres schwarzes Loch weisen die Erdölstatistiken auch auf, weil an der Glaubwürdigkeit ihrer mittel- und langfristigen Prognosen zur weltweiten Entwicklung von Angebot und Nachfrage gezweifelt werden muss. Dasselbe gilt für die öffentlich zugänglichen Angaben über nachgewiesene Vorkommen. Wenn eine börsennotierte Ölgesellschaft wie Shell ihre Zahlen innerhalb weniger Monate um rund ein Viertel nach unten revidiert, ist es kaum verwunderlich, dass die Angaben anderer Ölkonzerne auf Misstrauen stoßen.

Starke Zweifel bestehen seit Jahren an den offiziellen Angaben, die Russland und die Opec-Mitglieder über ihre nachgewiesenen Reserven machen. Wie gravierend dieses Problem ist, zeigen folgende Zahlen: Die acht staatseigenen Unternehmen der wichtigsten Opec-Länder beziffern ihre Vorräte auf 662 Milliarden Barrel, wohingegen die acht größten internationalen Ölgesellschaften ihre sicheren Reserven in Eigenbesitz mit lediglich 57 Milliarden Barrel veranschlagen; der Weltjahresverbrauch liegt derzeit bei 30 Milliarden Barrel. Die Unsicherheit wurde in jüngster Zeit noch durch die Kontroverse verschärft, die der Simmons-Report über die saudischen Ressourcen ausgelöst hat. Der anerkannte Ölexperte schätzt die saudischen Reserven deutlich pessimistischer ein als die bisherigen Annahmen und betont, dass die leicht ausbeutbaren Vorkommen bald erschöpft seien.3

Die Prognosen für die globale Nachfrage gehen davon aus, dass diese von derzeit 80,3 Millionen Barrel bis 2025 auf 120 Millionen Barrel pro Tag ansteigen wird – das wäre dann eine Verdoppelung innerhalb von fünfzig Jahren. Wird das Angebot dieser Nachfrageentwicklung folgen können? Ein Großteil des zusätzlichen Bedarfs kann jedenfalls nur durch den Nahen Osten gedeckt werden, dessen Produktion sich verdoppeln müsste, soll keine Knappheit entstehen. Diese Rechnung geht mittelfristig nur auf, wenn die politischen Rahmenbedingungen stabil bleiben. Denn die Angebotssteigerung erfordert in dieser Region eine erhebliche Zunahme der Investitionen. Jährlich sind dafür rund 27 Milliarden Dollar fällig. Langfristig gesehen ist die größte Unbekannte im Nahen Osten wie auch andernorts die offene Frage, wann in den einzelnen Förderländern die maximal mögliche Fördermenge erreicht sein wird.

Die Diskussionen auf der internationalen Konferenz, die die Association for the Study of Peak Oil (Aspo) im Mai dieses Jahres in Berlin veranstaltete, gaben in dieser Hinsicht wenig Anlass zu Zuversicht. In den letzten dreißig Jahren wurde nur ein einziges großes Ölfeld gefunden, das in Kaschagan, Kasachstan. Die neuen Explorationen reichen nicht aus, um die alljährlich geförderten Menge aufzuwiegen. Ein Geologe fand auf besagter Konferenz dafür ein hübsches Bild: Die Erdöl-Exploration ähnele einer Jagd mit ständig verbessertem Schießzeug auf Wildarten, die immer kleiner und seltener werden.

Daraus ergibt sich auch: Infolge der starken Zunahme des weltweiten Bedarfs und der sinkenden Fördermengen in den Industrieländern wird bei Letzteren die Importabhängigkeit im Zeitraum 2001 bis 2025 weiter anwachsen: in den Vereinigten Staaten von 55,7 Prozent auf 71 Prozent, in Westeuropa von 50,1 Prozent auf 68,6 Prozent und in China von 31,5 Prozent auf 73,2 Prozent. Dies erklärt auch den „Krieg ums Öl“, den sich die Großmächte und ihre Ölkonzerne im Nahen Osten wie in Afrika4 und Zentralasien liefern – und natürlich auch das jüngste Eingreifen im Irak5 .

Es ist also kein Zufall, dass die letzten Preissteigerungen zu heftigen Diskussionen geführt haben. Die große Frage lautet dabei, ob sich in diesem Preistrend womöglich ein größerer Ölpreisschock ankündigt, der durch die immer weiter auseinander klaffende Schere zwischen Angebot und Nachfrage früher oder später eintreten müsse. Die Entwicklung der Förderkapazitäten wird in den kommenden Jahren ebenso sehr von der politischen Stabilität im Nahen Osten wie vom Umfang der verfügbaren Reserven abhängen. Längerfristig wird die langsame, aber sichere Erschöpfung der Ölvorkommen keine andere Wahl lassen, als schrittweise auf andere Energiequellen umzustellen.

Neben politisch stabilen Verhältnissen setzt dieser Umstieg auch ein hinreichend hohes Preisniveau voraus. Nur so können die nötigen Investitionen im Erdöl- und Erdgassektor wie auch für die Entwicklung alternativer Energiequellen überhaupt finanziert werden. Die Internationale Energie-Agentur schätzt die nötigen Gesamtinvestitionen in den weltweiten Energiesektor für den Zeitraum von 2001 bis 2030 auf 16,5 Billionen Dollar. Jährlich müssen also durchschnittlich mehr als 500 Milliarden Dollar ausgegeben werden, wobei die Nachfrage in Wirklichkeit einen steigenden Verlauf erzwingt; die Verwendung der Mittel reicht von der Ölexploration über die Errichtung von Kraftwerken bis hinunter zum Windmühlenbau. Wenn die jüngsten Preissteigerungen diese Energiedebatte neu ankurbeln würden, die aufgrund eines ausreichenden Angebots und bezahlbarer Preise weitgehend eingeschlafen war, könnte sie eine durchaus heilsame Wirkung haben.

deutsch von Bodo Schulze

* Leiter des Centre Arabe d‘Études Pétrolières (CAEP) in Paris und Herausgeber des zweimonatlichen Informationsdienstes Le pétrole et le gaz arabes.

Fußnoten: 1 Zur Opec, 1960 in Bagdad gegründet, gehören derzeit Saudi-Arabien, Irak, Iran, Kuwait, Katar, die Vereinigten Arabischen Emirate, Algerien, Libyen, Nigeria, Venezuela und Indonesien. Im Streit um Quoten und Mitgliedsbeiträge traten Ecuador 1992 und Gabun 1995 aus. 2 Zitiert nach Georg Blume, „Der Riesenhunger nach Stahl“, die tageszeitung, 26. Mai 2004. 3 Matthew R. Simmons, Chef der Investmentbank Simmons & Cie, ist ein enger Berater von Vizepräsident Richard Cheney. Seine Analysen haben großen Einfluss auf die Energiepolitik der US-Regierung. Reports und Interviews unter www.simmonsco-intl.com. 4 Jean-Christophe Servant, „Stille Offensive. Das Interesse der USA an den Erdölvorkommen Afrikas“, Le Monde diplomatique, Januar 2003. 5 Yahya Sadowski, „Vérités et mensonges sur l‘enjeu pétrolier“, Le Monde diplomatique, April 2003.

Le Monde diplomatique vom 09.07.2004, von NICOLAS SARKIS