09.07.2004

Seefahrer ohne Schiffe

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Seefahrer ohne Schiffe

Was ist aus der Adria geworden? Man hört nichts Gutes über den alten Golf von Venedig. Früher verlief hier die Demarkationslinie zwischen der Nato und den „untypischen“ sozialistischen Staaten wie Jugoslawien und Albanien. Heute ist die Adria – immer noch eine der wichtigsten Grenzen Europas – eine Art Burggraben zur Abwehr tausender illegaler Einwanderer. In ihren Fluten ertrinken viele Menschen, die sich auf dem Weg in den reichen Westen wähnen.

Von JEAN-ARNAULT DÉRENS *

VOR der albanischen Küste ertranken am 9. Januar wieder einmal 21 Menschen, als sie versuchten, mit ihrem Schlauchboot die italienische Gegenküste zu erreichen. Dennoch gab es in den letzten Jahren weniger Opfer als noch während der jüngsten Balkankriege. Offensichtlich hat der Auswanderungsdruck im südosteuropäischen Raum deutlich nachgelassen.

Regina Pacis – seit 1997 Aufnahmezentrum für Flüchtlinge – ist ein hässlicher Betonkasten mit einem Stacheldrahtverhau auf dem Dach. Das Haus liegt an der Küste von San Foca, im Süden Apuliens, und wird als einziges nicht vom Staat, sondern von der katholischen Kirche geführt. „Die Routen der illegalen Einwanderung haben sich seit einigen Jahren deutlich verlagert“, erzählt Don Cesare Lodeserto, der Direktor. „Inzwischen kommen die meisten Illegalen aus Libyen und landen in Sizilien. Aber einige schaffen es auch bis in die Adriahäfen Bari und Brindisi. Sie verstecken sich in Containern oder Lastwagen, die auf Schiffen aus der Türkei kommen.“

1988 hatte die italienische Mitte-links-Regierung beschlossen, geschlossene Auffanglager einzurichten, und auch Regina Pacis wurde schließlich dieser Neuregelung unterworfen. Don Cesare nimmt kein Blatt vor den Mund, wenn es um das Bossi-Fini-Gesetz geht, das seit 2002 die Aufnahme von Einwanderern schärfer reglementiert: „Das Gesetz hätte die Aufnahme der Gestrandeten und das Legalitätsprinzip irgendwie miteinander vereinbaren müssen. Stattdessen hat man die Illegalen zu Kriminellen gemacht. Ein Gesetz gegen die Einwanderung ist ohnehin unsinnig, weil man auf diese Weise die Migrationsbewegungen nicht stoppen kann.“

In Regina Pacis sind etwa 250 Ausländer untergebracht, von denen die meisten über Sizilien gekommen sind. Maximal sechzig Tage dauert die Abschiebehaft. Währenddessen müssen die Personalien der Flüchtlinge vom Herkunftsland bestätigt werden – erst dann weist man sie aus. Nach einer Erhebung des italienischen Innenministeriums von 2002 betrifft dies 36,6 Prozent der Flüchtlinge in ganz Italien. Auch wenn Regina Pacis einen besseren Ruf genießt als andere Auffanglager, wird der Priester neuerdings von den Linken kritisiert. Er ist in ein Verfahren verwickelt, wo es um die Misshandlung einer Flüchtlingsgruppe geht, die versucht hatte, aus dem Lager zu entkommen.

Für viele Albaner ist die Auswanderung immer noch die einzige Zukunftsperspektive. 2001 fand die erste Volkszählung nach dem Ende der kommunistischen Ära statt, und es stellte sich heraus, dass trotz anhaltend hoher Geburtenraten die Bevölkerungszahl insgesamt zurückgeht.1 Don Cesare bezeichnet das Unglück vom 9. Januar als eine „Panne“. Am anderen Ufer der Adria, in der albanischen Hafenstadt Vlorë, sieht man das ähnlich. Die Stadt, in einer wunderschönen Bucht gelegen, war im März 19972 eine Bastion der Aufständischen. Sie hat allerdings einen üblen Ruf als Zentrum des Drogen- und Menschenhandels. Schmuggeln hat an der Adria eine lange Tradition. Unter dem stalinistischen Regime von Enver Hodscha, als Albanien vollkommen isoliert war, bezog das Land einen guten Teil seiner dürftigen Deviseneinkünfte aus dem Zigarettenschmuggel. Tausende von Wehrpflichtigen verbrachten ihre Dienstzeit damit, in den Lagerhäusern von Vlorë ganze Berge amerikanischer Zigarettenstangen, die es in Albanien nicht gab, zu sortieren und auf den Weg nach Italien zu bringen.

Auch während des Volksaufstands fungierte Vlorë als Drehscheibe für den Austausch mit Italien. Die Stadt war nicht nur eine Hochburg der Rebellen, sondern auch eine Mafiazentrale: Jede Nacht nahmen Dutzende schneller Motorboote, beladen mit Drogen, Zigaretten und Ausreisewilligen, Kurs auf die apulische Küste.

Als 1997 die Sozialdemokraten unter Fatos Nano an die Regierung kamen, erklärten sie die Bekämpfung des organisierten Verbrechens zur vordringlichen Aufgabe. Die wichtigen Fernstraßen des Landes wurden wieder überwacht und Städte wie Vlorë nicht mehr als rechtsfreier Raum geduldet. Auf der kleinen Insel Sazan vor dem Golf von Vlorë stationierte man eine italienisch-albanische Spezialbrigade. Die Festung von Sazan hatte schon während der venezianischen Herrschaft für die Hafenstadt eine wichtige strategische Funktion.

Rami Isufi, der Inhaber des Hotels „Bologna“, sagt bestimmt: „Von hier aus gehen keine Boote mehr nach Italien. Man muss ja nicht mal Patrouillenboote losschicken, jeder sieht doch, ob am Strand ein Boot zu Wasser gelassen wird, und kann die Polizei informieren.“ Und die Tragödie vom 9. Januar? „An diesem Abend herrschte schwerer Seegang, das Boot hätte nicht ablegen dürfen. Aber die Schmuggler waren aus Italien gekommen und wollten unbedingt zurück – mit Leuten, die offenbar zu allem bereit waren. Hier bei uns hätte das niemand riskiert.“

Im April 2003 erteilte die albanische Regierung der Ölgesellschaft La Petrolifera Italo Rumena die Genehmigung zum Bau eines Ölhafens in Vlorë. Der italienische Konzern soll den Aufbau der Anlage übernehmen und erhält dafür Steuererleichterungen und das alleinige Nutzungsrecht auf dreißig Jahre. Das Projekt – das derzeit wegen Korruptionsvorwürfen im Parlament auf Eis gelegt wurde3 – zeigt, dass man in Tirana nach Jahren der Anlehnung an Griechenland nun ganz auf Italien setzt.

Allmählich beginnt sich auch die Tourismusbranche für den Süden Albaniens zu interessieren. Von Vlorë bis Saranda, an der Grenze zu Griechenland, besteht die Adriaküste aus einsamen Sandstränden. Ab und zu tauchen fast menschenleere alte Dörfer auf. Einige Neureiche besitzen bereits Villen in versteckten Buchten, und auch Italiens Ministerpräsident Berlusconi sieht sich hier schon seit Jahren um: 2002 inspizierte er die Gegend in Begleitung des Architekten Giancarlo Ragazzi, der sich auf Ferienanlagen der Luxusklasse spezialisiert hat.

Noch ist die Straße von Saranda nach Chimara nur eine steile Schotterpiste mit einigen Asphaltflicken, die von längst versunkenen Entwicklungsvorhaben künden. Aber in den beiden Städten hat man bereits viel gebaut: Hotels, Pensionen und Restaurants für die Touristen aus dem Kosovo, die seit einigen Jahren die Strände im Süden des „Mutterlandes“ zu schätzen wissen.

Die örtliche Bevölkerung bleibt von den Segnungen des Tourismus weitgehend ausgeschlossen. In den Ortschaften an der Küste leben überwiegend Griechen. Und für die Einwohner des albanischen Südens, ob „ethnische“ Griechen oder Albaner griechisch-orthodoxen Glaubens, ist die Emigration nach Griechenland immer noch das wichtigste Ziel.4

Von den Konflikten zwischen Albanien und Griechenland während und nach dem Zweiten Weltkrieg ist immer noch etwas hängen geblieben. So haben die beiden Länder bis heute keinen Friedensvertrag abgeschlossen. Griechenland vertrieb nach 1945 viele Albaner aus der nördlichen Küstenregion Epirus (die so genannten Çamen), denen pauschal die Kollaboration mit der italienischen und deutschen Besatzungsmacht vorgeworfen wurde. Und im albanischen Parlament wurde noch 2004 ein Resolutionsentwurf, der die Herausgabe beschlagnahmten albanischen Eigentums von Griechenland zurückforderte, nicht zur Beratung zugelassen, weil man Angst vor Sanktionen des Nachbarlands hatte.

Hotelbesitzer Isufi, dessen Familie aus Cameria stammt, beklagt sich: „Meine Eltern kommen aus einem Dorf an der griechischen Küste, nördlich von Igumenitsa. Und sie durften ihre Heimat nie wieder sehen. Dort, gegenüber von Korfu, ist die Adria am schönsten.“ Und er ist empört über die „Erpressung“ durch die Griechen: „Athen hat wieder mal gedroht, alle albanischen Arbeiter auszuweisen, und unsere Regierung hat kalte Füße bekommen. Dabei können sie doch gerade dieses Jahr nicht auf unsere Schwarzarbeiter verzichten – wer soll denn die Arbeit machen auf den Baustellen für die Olympischen Spiele?“

In Montenegro und Kroatien weiß man schon seit einigen Jahren, was Massentourismus ist. Nach Montenegro kommen allerdings immer noch selten Touristen aus dem Westen, eine Spätfolge der 1990 gegen die Jugoslawische Föderation (aus Serbien und Montenegro) verhängten internationalen Sanktionen. So kommt die Masse der Sommerurlauber aus Serbien und dem Kosovo. Neuerdings tauchen auch die ersten Gäste aus Russland und der Ukraine auf. In der Kleinstadt Budva, einst eine Perle der Adria, dominieren neureiche Russen und serbische Feriengäste das Bild.

In der alten Festungsstadt, die knapp 100 000 Einwohner hat, wird ähnlich emsig wie in Sveti Stefan gebaut. Direkt gegenüber der kleinen Insel, die nur aus einem legendären Hotel besteht, in dem früher die italienischen Filmstars residierten, laden Lastwagen das Baumaterial am Strand ab. Ohne Baugenehmigung werden hier mehrstöckige Häuser hochgezogen. Jeder Bauherr lässt sich seine eigene Klärgrube anlegen, und niemand kümmert sich um die ökologischen Folgeschäden dieser wilden Besiedlung. Auch in Kroatien kennt man die Probleme der „zersiedelten“ Küsten. Kaum ein Haus, in dem nicht Zimmer zu vermieten sind. In einem Land, wo fast ein Drittel der erwerbsfähigen Bevölkerung arbeitslos ist, haben die Bewohner Dalmatiens eine relativ ertragreiche Form der Selbstversorgung gefunden: Wenn man im Sommer ein paar Zimmer vermietet, kommt man mit den Einnahmen, zusammen mit der Sozialhilfe, über das ganze Jahr. Die Regierung wäre schon zufrieden, wenn diese Einkünfte wenigstens versteuert würden, aber um die Umweltschäden, die der Tourismusboom anrichtet, macht man sich kaum Gedanken.

In Budva gab es im Winter einen neuen Skandal. Nachdem zunächst niemand bieten wollte, ging das Hotel Avala für nur 3,2 Millionen Euro an eine britische Gesellschaft – der Schätzwert lag mehr als doppelt so hoch. Die merkwürdige Zurückhaltung anderer Kaufinteressenten erregte Verdacht, weil die Interessen der britischen Firma in Montenegro ausgerechnet von Ana Kolarevic vertreten werden, Schwester von Ministerpräsident Milo Djukanovic und Mitglied des Obersten Gerichtshofs.5 Einen ähnlichen Fall gab es auch in Kroatien. Am 20. Mai zog die neue kroatische Regierung einen Schlussstrich unter das langwierige Hin und Her um die Privatisierung der Hotelgruppe Suncani Hvar, der die Ferienanlagen auf der Insel Hvar gehören. Man beschloss, den Komplex an den Immobilienfonds Quaestus zu verkaufen. Diese Gesellschaft steht offenbar in enger Beziehung zur Kroatischen Demokratischen Gemeinschaft (HDZ), der rechten Partei, die seit den Wahlen vom November 2003 wieder die Regierung stellt.6

Wäre ein anderer, der Nachhaltigkeit verpflichteter Tourismus denkbar? Denis Ivosevic, Tourismusbeauftragter der Zupanija (Provinzverwaltung) von Istrien, glaubt, dass sich der Einsatz dafür lohnen würde: „Die Touristen werden sich bald wieder von unseren Feriengebieten abwenden, wenn wir allein auf Billigangebote setzen. Solche Angebote wird es bald überall geben, weil die Flugpreise fallen.“ Sein Zehnjahresplan empfiehlt den Ausbau anspruchsvoller Formen des Tourismus und die Förderung von Landgasthöfen, um zu verhindern, dass die istrische Küste zubetoniert wird.

Als Montenegro Anfang der 1990er-Jahre eine neue Verfassung bekam, nahm man in die Präambel die Selbstbezeichnung „ökologischer Staat“ auf. Praktische Folgen hatte diese Erklärung nicht. Im Gegenteil – im Sommer 2003 gab es einen handfesten Müllskandal. Von der Weltbank hatte die Regierung einen Kredit in Höhe von 1,3 Millionen Dollar erhalten, um die wilde Deponie von Lovanja zu sanieren, die an der Kotorbucht liegt, nur ein paar hundert Meter neben den Landebahnen des Flughafens. Die Bucht ist der südlichste Fjord Europas und wurde als Teil des Weltnaturerbes dem Schutz der Unesco unterstellt. Genutzt wurde die illegale Müllkippe von den Städten Tivat, Kotor und Budva. Eigentlich sollte die sanierte Deponie nur drei Jahre in Betrieb bleiben, solange man noch keine Anlage an einem besseren Standort hatte. Doch die Bürger sahen bald ihre Befürchtung bestätigt, dass dieses Provisorium zur Dauerlösung werden könnte. Im Juli machten die Anwohner ihrem Ärger Luft, als sie mehrere Tage lang die Zufahrt zur Deponie blockierten.

An der Spitze dieser Bewegung zivilen Ungehorsams stand ein Jesuitenpater. Don Branko Sbutega, Bistumssekretär in Kotor, spart nicht mit Kritik. „In Budva gab es einen wesentlich geeigneteren Platz für die Deponie, doch die Gegend ist fest in serbischer Hand, und die Anwohner machten sofort Front gegen das Projekt. Also beschloss die Regierung, die neue Deponie in Tivat einzurichten, wo die größte Gemeinschaft kroatischer Katholiken lebt. Die meisten der benötigten Privatgrundstücke verschaffte sie sich durch Enteignung. Dass die Weltbank über solchen Umweltfrevel und Rechtsbruch hinwegsieht, ist ein Skandal. Die ganze Angelegenheit zeigt nur, wie komplett unfähig die montenegrinische Regierung ist. Die Kommunisten hätten das damals, in ihren besten Zeiten, mit etwas mehr Anstand geregelt.“

Von Slowenien bis Albanien versperren unzugängliche Bergzüge den Zugang zu dem schmalen Küstenstreifen. Auch Montenegros Entwicklung vollzog sich vom Meer abgewandt. Zwischen den Küstenbewohnern und den Leuten in den Bergen des Hinterlandes gibt es immer noch Spannungen. Die politischen Umwälzungen des 20. Jahrhunderts haben die Bevölkerungsstruktur erheblich beeinflusst. In der Bucht von Kotor wurde die alteingesessene Bevölkerung durch die Zuwanderung aus anderen Regionen inzwischen zur Minderheit. Die katholische Diözese von Kotor zählt nur noch 9 000 Gläubige. Und in Herceg Novi, am Ende der Bucht, leben heute sehr viele Flüchtlinge aus Kroatien und Bosnien-Herzegowina.

Man pflegt an der Bucht immer noch die Tradition einer vom Leben mit dem Meer bestimmten Kultur, die mit der Erinnerung an die Herrschaft Venedigs über die Region verknüpft ist. Besonders augenfällig wird das in dem kleinen Schifffahrtsmuseum in Perast, wo sich einst die Kapitäne der Serenissima niederließen. Dort findet sich ein Schriftstück, in dem geschildert wird, wie Kapitän Jozo Viskovic erst am 23. August 1797 die Fahne mit dem Markuslöwen einholte, obwohl die Republik Venedig schon am 12. Mai zu existieren aufgehört hatte. Auch die Marineschule in Kotor steht in dieser langen Tradition. Kleine Seefahrerschulen gab es in der Region schon seit dem 16. Jahrhundert. Ende des 17. Jahrhunderts hatte sich die Schule von Kapitän Marko Martinovic einen so guten Ruf erworben, dass Zar Peter der Große russische Kadetten zur Ausbildung nach Kotor schicken ließ. Heute besuchen hier knapp 400 Studenten die Kurse in Navigation oder Maschinenkunde. „Wir sind ein Volk von Seefahrern ohne Schiffe“, klagt Professor Milorad Raskovic, ein ehemaliger Kapitän, der heute Navigation lehrt. Seine Streitschrift zu dieser Frage begeistert die Studenten. Kotor gilt als gute Adresse, obwohl die Fakultät nicht einmal über ein Schulschiff verfügt und die Studenten ihre Navigationskenntnisse nur am Simulator erwerben. Lange Zeit lebte Kotor von der Jugooceanija, einer der größten Schifffahrtslinien Jugoslawiens. Die internationalen Sanktionen in den 1990er-Jahren machten dem Unternehmen den Garaus: Es musste seine 24 Schiffe zu Schleuderpreisen verkaufen, weil sie nicht mehr auslaufen konnten. Mit dem Erlös wurden Schulden abgezahlt, doch als die Gesellschaft 2003 in Konkurs ging, war sie mit den Lohnzahlungen an ihre Angestellten immer noch Monate oder gar Jahre im Rückstand. Im Mai 2003 protestierten die Geschädigten mit einem Hungerstreik.7

„Unsere Absolventen finden Arbeit, aber nur wenn sie sich unter Wert verkaufen“, meint Professor Raskovic. „ Ein junger Offizier bekommt oft nicht mehr als 400 bis 500 Dollar, das liegt deutlich unter den Standards, die von internationalen Gewerkschaftsorganisationen vereinbart sind. Aber das ist in der Handelsschifffahrt heute so üblich: Man fährt unter irgendeiner Billigflagge, der Schiffseigner ist Grieche, die Seeleute kommen aus China oder von den Philippinen, und manchmal werden auch Offiziere aus Montenegro beschäftigt.“

Auch in der Hafenstadt Shengjin, im Norden Albaniens, sieht die Lage düster aus. Nicht gerade übereifrig beladen die Hafenarbeiter ein angejahrtes Küstenmotorschiff, daneben rosten ein paar Fischkutter vor sich hin. Einst lebte man hier von der Sardinenfischerei, doch das ist lange her. Griechische und italienische Fangschiffe beuten heute die albanischen Gewässer aus, eine italienische Firma hat in Shengjin eine Konservenfabrik übernommen. Wenn eine Ladung eintrifft, werden albanische Arbeiter für einen Tageslohn von 3 bis 4 Euro beschäftigt. Die fertigen Konserven gehen dann gleich nach Italien. Obwohl es keine Vereinbarungen über die Erhaltung der Fischbestände gibt und das rücksichtslose „Überfischen“ weitergeht, sind die Fanggründe an der Ostküste der Adria immer noch ziemlich ergiebig. Ob das Meer auch in Zukunft die Küstenbewohner ernähren kann, scheint allerdings zweifelhaft. Kroatien und Slowenien führen seit langem einen Streit über ihre Seegrenze in der Bucht von Piran.8 Der 37 Kilometer lange slowenische Küstenabschnitt ist eine Enklave am Ende des Golfs von Triest – nach internationalem Seerecht reichen die kroatischen Hoheitsgewässer bis zwei Meilen vor das italienische Triest und das slowenische Koper, das einstige Capo d’Istria. 2001 kam es endlich zu einem Abkommen, das Slowenien einen Zugangskorridor nach Koper sichert. Für beide Seiten ging es bei dem Streit offenbar mehr um symbolische als um konkrete Rechte.

Doch dieser Vertrag wurde Anfang Oktober 2003 wieder in Frage gestellt, als Kroatien einseitig eine neue Umwelt- und Fischereischutzzone in der Adria einrichtete. Eine solche Ausweitung der Interessen über die Hoheitsgewässer hinaus ist vom internationalen Seerecht gedeckt. Die Kroaten erklärten, sie wollten damit den Berufsstand der Fischer schützen und den Rückgang der Fischbestände verhindern. Aber die Entscheidung hatte wohl eher mit dem Projekt der Druzba-Adria-Pipeline zu tun, durch die russisches Erdöl über Samara bis zum Ölhafen Omislj auf der kroatischen Insel Krk fließen soll. Um die Supertanker im Blick behalten zu können, die von der Adria ins Mittelmeer fahren – und ein großes Umweltrisiko darstellen –, glaubte man in Zagreb wohl, die Rechtshoheit über dieses Seegebiet beanspruchen zu müssen. Alarmiert von solchen Projekten, verlangte Ljubljana regionale Verhandlungsgespräche und setzte dabei auf die Brüsseler Schiedsgerichtsverfahren.

Aber das ist bei weitem nicht die einzige ökologischen Zeitbombe, die in der Adriaregion tickt. Ein weiteres Beispiel ist Porto Romano bei Durrës: Das albanische Chemiewerk zur Herstellung von Pestiziden hatte schon 1990 den Betrieb eingestellt. Während der Unruhen von 1997 wurden die stehen gebliebenen Fabrikanlagen zerstört. Inzwischen ist auf dem stark verseuchten Gelände eine Slumsiedlung entstanden. Vertreter des UN-Umweltprogramms (Unep) und der Weltbank haben schon versucht, die Wagenburgbewohner zum Wegzug zu bewegen, doch die illegalen Siedler wollen nicht weichen, bevor man ihnen nicht neue Quartiere zugesichert hat.

Für die Schädigung der Meeresökologie sind die Anrainer im Osten und im Westen allerdings nicht im gleichen Maße verantwortlich. Obwohl in Italien strengere Abwasservorschriften als etwa in Slowenien oder Kroatien gelten, rühren die Umweltschäden hauptsächlich von den italienischen Großstädten in der Poebene.9 Die Adria hat vor allem im nördlichen Teil eine geringe Wassertiefe, wodurch sie anfällig ist für Überdüngung (Eutrophierung).10 Die Schadstoffe werden von den Meeresströmungen entlang der Westküste nach Süden gespült. Darum muss sich also vor allem Italien Sorgen machen. Die neuen Ölhäfen bedeuten neue Risiken, nicht zuletzt weil mit dem Ballastwasser, das die Tanker ablassen, fremde Organismen in die Adria gelangen und das ökologische Gleichgewicht stören können.

Immerhin zeichnet sich in Istrien ein gewisser Aufschwung ab. Dagegen haben die Menschen in der Bucht von Kotor die Hoffnung fast schon aufgegeben. Don Branko Sbutega, dessen Vorfahren im 16. Jahrhundert als Zöllner aus Venedig nach Kotor entsandt wurden, ist pessimistisch: „Hier geht es schon seit dem Fall von Venedig bergab. Die Anwohner der Bucht konnten ihr Schicksal nie selbst bestimmen, doch heute müssen sie sogar um ihr Überleben kämpfen.“ Die Bevölkerungsstruktur in den schmalen Küstenregionen am Ostufer der Adria hat sich infolge des Krieges und des sozialen wie demografischen Wandels stark verändert. Zugleich ist das fragile Ökosystem dieser Gebiete zunehmend vom Massentourismus und der Umweltverschmutzung bedroht.

Die Adria war seit jeher Grenzregion und Transitzone. Jahrhundertelang konkurrierten hier die osmanische und die venezianische Flotte um die Seeherrschaft, bekämpften einander christliche Piraten (Uskok) aus Dalmatien und muslimische Freibeuter aus dem montenegrinischen Ulcinj.11 Gegen Ende des 15. Jahrhunderts flohen tausende Albaner vor dem Eroberungszug der Osmanen nach Italien. Bis heute gibt es in Kalabrien, in Sizilien und in der Basilikata albanischsprachige Dörfer12 , deren Bewohner, die „Arberesh“, sich stets als Mittler zwischen den beiden Küsten der Adria sahen. Nach dem Ende des Ostblocks nahmen die Arberesh-Dörfer viele Neuankömmlinge aus Albanien auf. Während der Kosovokrise engagierten sich die italienischen Albaner auch für die Flüchtlinge aus dieser Region. „Wie viele Albaner mögen im Lauf von 500 Jahren ihr Leben auf der Überfahrt gelassen haben?“, fragt sich Professor Donato Mazzeo, der sich für den Erhalt der Arberesh-Kultur einsetzt.

Wenn man die Adria auch politisch als europäisches Binnenmeer – und nicht nur als Grenzregion – betrachtet, gibt es viel mehr effiziente Möglichkeiten, das ökologische Gleichgewicht und die damit verbundenen Lebensbedingungen der Küstenbewohner zu schützen. Der Beitritt Sloweniens zur Europäischen Union am 1. Mai 2004, dem hoffentlich bald die Aufnahme Kroatiens in die Gemeinschaft folgt, lässt immerhin hoffen.

deutsch von Edgar Peinelt

* Journalist, Belgrad

Fußnoten: 1 „The Population of Albania in 2001“, Tirana, Instituti i statistikës, 2001. 2 Siehe Paolo Raffone, „L’Europe peut-elle oublier l‘Albanie?“, Le Monde diplomatique, September 1997. 3 Siehe „Industrie pétrolière: monopole exorbitant pour une société italienne en Albanie“, www.balkans.eu.org/article4380.html. 4 Das Schicksal dieser Emigranten ist Thema des Romans von Virion Graçi, „ Le Paradis des fous“, (aus dem Albanischen übersetzt von Christiane Montécot), La Tour-d’Aigues (Èditons de l‘Aube) 1998. 5 Siehe dazu „Montenegro: privatisation en famille des plus beaux hôtels“, www.balkans.eu.org/article4340.html. 6 Siehe „Croatie: la privatisation d‘un hôtel pourrait faire tomber le gouvernement“, www.balkans.eu.org/article2163.html, sowie Goran Borkovic, „Suncari Hvar- De-Ze“, Feral Tribune (Split), 21. Mai 2004. 7 Siehe „Les galériens de Jugooceanija en grève de la faim“, www.balkans.eu.org/article3223.html. 8 Siehe Joseph Krulic, „Le problème de la délimitation des frontières slovéno-croates dans le Golfe de Piran“, Balkanologie (Paris) VI, 1/2 2002, S. 69–73. 9 Siehe dazu die Beiträge in dem Sammelband „The Adriatic Sea. A Sea at Risk, a Unity of Purpose, Athen (Religion, Science & Environment) 2003; siehe insbesondere die Studie von David G. Smith „The Overall Environmental Situation in the Adriatic Sea“. 10 Eine Zunahme des Pflanzenwachtums, die den Sauerstoffanteil im Wasser verringert. 11 Siehe Pierre Cabanes (Hrg.), „Histoire de l‘Adriatique“, Paris (Seuil) 2001. 12 Siehe Alain Ducellier et al., „Les Chemins de l‘exil. Bouleversement de l‘Est européen et migrations vers l‘Ouest à la fin du Moyen Age“, Paris (Armand Colin) 1992.

Le Monde diplomatique vom 09.07.2004, von JEAN-ARNAULT DÉRENS