13.08.2004

Mobile Staatsbürger

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In seinem Buch „Nationen und Nationalismus“ hat Eric J. Hobsbawm 1990 ein Porträt der nationalstaatlich gegliederten Welt gezeichnet. Heute fragt er sich, ob der Nationalstaat angesichts von Globalisierung und massenhafter Migration noch ausreichend Integrationskraft aufbringt.

Von ERIC J. HOBSBAWM *

VIELES von dem, was seit dem Fall der Berliner Mauer weltweit geschehen ist, wurde 1991, im Vorwort zur ersten deutschen Ausgabe von „Nationen und Nationalismus“, bereits erwähnt. Einige Entwicklungen haben sich jedoch als so entscheidend erwiesen, dass sie eine kurze Betrachtung verlangen. Am wichtigsten ist der Anbruch einer Ära internationaler Instabilität, die 1989 begann und deren Ende noch nicht absehbar ist.

Die weitreichenden Folgen, die das Ende des Kalten Krieges und der Sowjetunion mit sich brachte, sind heute leichter zu beurteilen. Beide Ereignisse kann man rückblickend als politisch stabilisierende Faktoren werten. In den 1990er-Jahren kam es in Folge des Zerfalls der UdSSR und der kommunistischen Regime zu einer Balkanisierung großer Teile der alten Welt. Die so genannten failed states resultierten entweder aus der Auflösung handlungsfähiger Zentralregierungen oder aus endemisch gewordenen gewaltsamen Konflikten innerhalb formal unabhängiger Staaten. Solche gescheiterten Staaten finden wir in allen Weltregionen, insbesondere in Afrika und in Nachfolgestaaten der ehemaligen UdSSR, dazu in mindestens einer Region Lateinamerikas. Tatsächlich sah es so aus, als ob einige Jahre nach dem Ende der UdSSR sogar deren wichtigster Nachfolgestaat, die Russische Föderation, sich in Richtung eines „gescheiterten Staats“ bewegen könnte, aber die Bemühungen Präsident Putins, die Staatsmacht auf ihrem gesamten Gebiet wieder handlungsfähig zu machen, waren erfolgreich – außer in Tschetschenien.

Dennoch bleiben große Regionen auf der ganzen Welt sowohl international als auch nach innen instabil. Diese Instabilität wird durch den Niedergang des bis dato staatlichen Gewaltmonopols der Streitkräfte dramatisch verschärft. Der Kalte Krieg hat ungeheure Mengen kleiner, aber äußerst effektiver Waffensysteme und anderer Zerstörungspotenziale zurückgelassen, die nun auch nichtstaatlichen Akteuren zur Verfügung stehen. Sie können mit den enormen finanziellen Ressourcen des unkontrollierbaren halblegalen Sektors des globalen kapitalistischen Wirtschaftssystems leicht erstanden werden.

Diese Entwicklungen schlagen sich beunruhigenderweise in einem globalen Rückschritt nieder: Erstmals seit den ersten Nachkriegsjahren des Zweiten Weltkriegs haben sich Massaker, Genozid und „ethnische Säuberungen“ wieder epidemieartig ausgebreitet. Die Abschlachtung von 800 000 Menschen in Ruanda bildet einen Höhepunkt in einer ganzen Reihe von Massenmorden und von noch häufiger auftretenden Massenvertreibungen im letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts – in West- und Zentralafrika, im Sudan, auf den Trümmern des vormals kommunistischen Jugoslawien, in Transkaukasien und im Nahen Osten. Es ist vermutlich noch immer unmöglich, die Anzahl der Toten und Verstümmelten zu ermitteln, die in den fast lückenlos aufeinander folgenden Kriegen und Bürgerkriegen dieser Jahre stetig angewachsen ist; fest steht aber, dass die ununterbrochene Flut von Flüchtlingen und anderen Displaced Persons in diesem traurigen Jahrzehnt ein Ausmaß erreicht hat, das – in Relation zu der betroffenen Bevölkerung betrachtet – an die Zahlen des Zweiten Weltkrieges und der Nachkriegswirren heranreicht. Im Jahr 2000 schätzte das UN-Flüchtlingskommissariat (UNHCR), dass es weltweit für 23,3 Millionen Menschen verantwortlich ist, größtenteils in (oder aus) bestimmten Regionen im Westen und Süden Zentralasiens, Afrikas und Südosteuropas.1

Während des Kalten Krieges hatte das Duopol der Supermächte die Integrität der Staatsgrenzen überall auf der Welt gegen interne und externe Bedrohungen weitgehend aufrechterhalten. Seit 1989 gibt es keine vergleichbare „A-priori-Sicherheit“ mehr, die den Zerfall der zentralen Staatsmacht in vielen der nominell unabhängigen und souveränen, zwischen 1945 und 2000 gegründeten Staaten verhindern könnte. Deshalb erlebten große Teile der Welt einen Rückfall in eine Situation, in der starke und stabile Staaten aus den unterschiedlichsten Gründen oder auch Vorwänden mit Waffengewalt in Regionen intervenierten, die nicht mehr durch ein internationales Gleichgewicht wirksam geschützt oder von ihren eigenen Regierungen kontrolliert wurden. Nach einer kurzen Phase der Befreiung von imperialer Kontrolle ist in wichtigen Regionen wie der islamischen Welt der Unmut über die einmarschierenden und das Land besetzenden Westler erneut zu einem politisch bedeutenden Faktor geworden.

Der zweite Faktor, der das Problem der Nationen und des Nationalismus betrifft, ist die außerordentliche Beschleunigung des Globalisierungsprozesses in den letzten Jahrzehnten sowie dessen Auswirkung auf das Handeln und die Mobilität der Menschen. Dieser Prozess führt zu vorübergehenden wie auch dauerhaften Bewegungen über die Staatsgrenzen hinweg. Eine solche Mobilität war bislang ohne Beispiel. So wurden Ende des vorigen Jahrhunderts 2,6 Milliarden Menschen jährlich von den Fluggesellschaften der Welt befördert. Das Ausmaß der Globalisierung der internationalen Massenmigration bzw. der Völkerwanderung – die wie schon immer hauptsächlich von armen in reiche Volkswirtschaften verläuft – wird besonders deutlich in Ländern wie den USA, Kanada und Australien. Allein diese drei Länder absorbierten zwischen 1974 und 1998 fast 22 Millionen Einwanderer aus allen Teilen der Welt; das sind insgesamt mehr als in den Jahren der großen Einwanderungszeit vor 1914 und entspricht einer knapp doppelt so hohen jährlichen Einwanderungsrate.2 Und selbst nach Westeuropa, das lange eine Region der Massenauswanderung war, wanderten fast 11 Millionen Fremde zu. Der Zustrom beschleunigte sich ins neue Jahrhundert hinein. Um nur ein Beispiel herauszugreifen: Die Zahl der Ausländer, die legal in Spanien leben, stieg zwischen 1996 und 2003 von einer halben Million auf 1,6 Millionen; zwei Drittel von ihnen kamen aus Ländern außerhalb der EU, hauptsächlich aus Afrika und Südamerika.3 Zu den sichtbaren Folgen dieser Entwicklung zählt die erstaunliche Kosmopolitisierung der Großstädte in den reichen Ländern. In Europa, der Wiege des Nationalismus, machen die Veränderungen der Weltwirtschaft also kurzen Prozess mit der politischen Struktur, die aus den Kriegen des 20. Jahrhunderts mit ihren Genoziden und Bevölkerungstransfers zu resultieren schien: einem Mosaik ethnisch homogener Nationalstaaten.

Während die Auswanderer des 19. Jahrhunderts mit ihrer Heimat allein durch Briefe, gelegentliche Besuche oder bestenfalls durch einen „Nationalismus aus der Ferne“ verbunden waren, sind die Auswanderer des 21. Jahrhunderts dank der technologischen Revolution, die Kosten und Geschwindigkeit von Transport und Kommunikation drastisch reduziert hat, nicht mehr total von ihrem Herkunftsland abgeschnitten. Wohlhabende Migranten pendeln zwischen verschiedenen Wohnungen, ja sogar zwischen verschiedenen Jobs in der alten und der neuen Heimat. Vor gesetzlichen Feiertagen sind die nordamerikanischen Flughäfen überfüllt mit Menschen aus Mittelamerika, die eine Kurzreise in ein Dorf El Salvadors oder Guatemalas unternehmen und elektronische Geräte als Geschenke mitbringen. Zu Familienfeiern kommen Freunde und Verwandte aus drei Kontinenten. Selbst die ärmsten Menschen können zu Billigtarifen in Bangladesch oder Senegal anrufen, und sie können jene regelmäßigen Überweisungen tätigen, die heute die Volkswirtschaften ihrer Herkunftsländer unterstützen. Doppelte, ja mehrfache Staatsangehörigkeit ist etwas ganz Normales geworden. Tatsächlich erfordert Auswanderung heute nicht mehr die dauerhafte Entscheidung für ein Land.

Reisepass statt Geburtsurkunde

MAN kann noch nicht beurteilen, wie sich die außergewöhnliche internationale Mobilität auf das auswirken wird, was wir traditionell unter Nation und Nationalismus verstehen, aber diese Auswirkungen werden zweifelsohne tiefgreifend sein. Im 21. Jahrhundert ist das entscheidende Dokument der Staatsbürger eben nicht mehr, wie Benedict Anderson treffend beobachtet, die nationale Geburtsurkunde, sondern der – internationale – Reisepass.4

In welchem Ausmaß hat sich die tatsächlich bzw. potenziell mehrfache Staatsangehörigkeit – zum Beispiel die US-amerikanische Prägung von Politikern in den ehemaligen kommunistischen Staaten oder die Identifikation der US-amerikanischen Juden mit den israelischen Regierungen – bereits auf die Staatsloyalität der Bürger ausgewirkt, und welche Dimensionen werden diese Auswirkungen möglicherweise noch erreichen? Welche Bedeutung haben die Rechte und Verpflichtungen der „Bürger“ in Staaten, in denen sich immer ein nennenswerter Anteil der Bevölkerung nicht im Staatsgebiet aufhält? Und angesichts des Umfangs der legalen und klandestinen Migrationsbewegungen stellt sich die Frage, welche Auswirkungen es hat, wenn Staaten das Geschehen in ihrem Gebiet immer weniger kontrollieren können oder wenn sie – wie die schwindende Verlässlichkeit der Volkszählungen in den USA und in Großbritannien nahe legt – kaum noch genau wissen können, wer sich überhaupt auf ihrem Territorium aufhält. Diese Fragen müssen wir heute stellen, ohne dass wir sie bereits beantworten könnten.

Das dritte Element, die Fremdenfeindlichkeit, ist nicht neu, aber ihr Ausmaß und ihre Folgen habe ich lange unterschätzt. In jenen Ländern Europas, in denen die Nationen und der Nationalismus historisch entstanden sind, und auch – in geringerem Ausmaß – in traditionellen Einwanderungsländern wie den USA, hatte die Globalisierung der Migrationsbewegung die Wirkung, sowohl die bestehenden, wirtschaftlich motivierten Vorbehalte gegen Masseneinwanderung als auch den Widerstand gegen eine subjektiv empfundene Bedrohung der eigenen kulturellen Identität zu verstärken. Wie stark sich diese Fremdenfeindlichkeit auswirkt, zeigt sich allein daran, dass die Ideologie eines Kapitalismus des globalisierten freien Marktes, die die dominanten nationalen Regierungen und internationalen Institutionen erobert hat, im Hinblick auf die Schaffung eines internationalen freien Arbeitsmarktes total versagt hat – im Gegensatz zur Durchsetzung des unbeschränkten Handels und Kapitalverkehrs. Keine demokratische Regierung könnte es sich erlauben, eine absolute Freizügigkeit für Arbeitskräfte zu unterstützen.

In der deutlichen Zunahme der Fremdenfeindlichkeit zeigen sich die Folgen der sozialen Verwerfungen und der moralischen Desintegration des späten 20. und des 21. Jahrhunderts wie auch die Folgen der internationalen Massenmigration. Diese Kombination ist natürlich explosiv. Kein Wunder also, dass der Vorschlag, zugunsten einer lebendigen Religion von Migranten ungenutzte protestantische Kapellen in Moscheen zu verwandeln, selbst in einem so ruhigen und toleranten Land wie Norwegen zu einem kurzen Aufruhr geführt hat – was wohl jeder versteht, der aus einem der alten europäischen Ursprungsländer des Nationalismus stammt.

Aber Fremdenfeindlichkeit spiegelt auch die gegenwärtige Krise einer kulturell definierten nationalen Identität in Nationalstaaten wider, wo Bildung und Medien allgemein zugänglich sind und ein politisches Konzept dominiert, das eine exklusive, kollektive Identität zu begründen und eine „Gemeinschaft“ in einer zunehmend entfernten „Gesellschaft“ künstlich wiederherzustellen sucht. Jener Prozess, der aus Bauern Franzosen und aus Einwanderern US-Staatsbürger machte, kehrt sich gegenwärtig um, und er löst größere nationalstaatliche Identitäten in selbstbezügliche Gruppenidentitäten, wenn nicht sogar in anationale private Identitäten auf, die dem Motto „ubi bene, ibi patria“5 folgen. Und dies wiederum verweist auf die schwindende Legitimität der Nationalstaaten für die Menschen, die auf ihrem Gebiet leben, und auf die schwindende Macht des Staates, Forderungen an ihre Bürger zu richten. Dass die Staaten des 21. Jahrhunderts ihre Kriege bevorzugt mit Berufsarmeen oder sogar mit privaten Vertragspartnern für Kriegsdienstleistungen führen, hat seine Gründe nicht allein in der Sache. Vielmehr ist das Vertrauen der Bürger in den Staat so sehr gesunken, dass man nicht mehr Millionen darauf verpflichten kann, für ihr Vaterland zu sterben. Man kann Frauen und Männer darauf vorbereiten, für Geld oder für Geringeres oder auch Größeres zu sterben – oder zu töten. Und diese Vorbereitung mag noch heute in den Ländern stattfinden, in denen die Nation ihren Ursprung hat, aber sie gilt nicht mehr für den Nationalstaat schlechthin. Was, wenn überhaupt irgendetwas, wird im 21. Jahrhundert an dessen Stelle als allgemeines Modell von Volksherrschaft treten? Wir wissen es nicht.

* Eric J. Hobsbawm, „Nationen und Nationalismus. Mythos und Realität seit 1780“; dt. von Udo Rennert, Frankfurt (Campus Verlag), 2. Auflage: Herbst 2004. Wir drucken mit freundlicher Genehmigung des Verlages das Vorwort zur Neuauflage.

Fußnoten: 1 Siehe UNHCR-Report 2000/2001: „50 Jahre humanitärer Einsatz“, Bonn 2000, Anhang II. 2 A. Maddison, „The World Economy. A Millennial Perspective“, Paris 2001. 3 El País, 13. Januar 2004, S. 11. 4 Benedict Anderson, „The Spectre of Comparisons. Nationalism, Southeast Asia, and the World“, London/New York 1998, S. 69ff. 5 „Wo es mir gut geht, ist mein Vaterland“ – auf Aristophanes zurückgehendes lateinisches Sprichwort.

Le Monde diplomatique vom 13.08.2004, von ERIC J. HOBSBAWM