13.08.2004

Zum Beispiel China

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Zum Beispiel China

Von IGNACIO RAMONET

DER Tag, an dem China erwachen wird“ hieß es in alten Zeiten, wenn die „gelbe Gefahr“ beschworen wurde. Heute bezweifelt niemand mehr, dass das riesige Land wahrhaftig erwacht ist. Und so ist es an der Zeit, darüber nachzudenken, was dieser beeindruckende Aufstieg für den Gang der Weltgeschichte bedeutet.

Dieses riesige Land mit seinen 1,3 Milliarden Einwohnern begann seine große Wirtschaftsreform erst nach dem Tod von Mao Tse-tung 1976. Beschleunigt wurde der Prozess dann mit der Machtübernahme durch Deng Xiaoping im Jahre 1978. Das Entwicklungsmodell des Landes beruht auf einem riesigen billigen Arbeitspotenzial, auf Montageindustrien, Auslandsinvestitionen und Billigexporten und galt daher lange Zeit als „primitiv“: als klassisches Modell eines rückständigen Landes, das von einer Einheitspartei mit eiserner Hand geführt wird und wo alles mit autoritären Mitteln durchgesetzt wird.

Das noch immer kommunistisch geführte Land verlor im Zuge der Reformen nicht nur seinen bedrohlichen Charakter, es entwickelte sich vielmehr zu einem wahren Eldorado für ausländische Investoren. Denn in ihrem Globalisierungstaumel verlagerten hunderte von Firmen ihre Produktionsstätten nach China, nachdem sie zu Hause Millionen Beschäftigte entlassen hatten. Innerhalb kürzester Zeit entwickelte sich das Riesenland dank der entlang der Meeresküste errichteten Sonderwirtschaftszonen zu einer phänomenalen Exportmacht, die sich in bestimmten Sektoren – etwa bei der Textil- und Schuhindustrie oder in der Elektronik- und Spielwarenbranche – sogar an die Spitze setzte. Seine Produkte eroberten die Welt, insbesondere die Märkte der USA: Mitte 2003 erreichte das US-Handelsbilanzdefizit gegenüber China die Rekordhöhe von 130 Milliarden Dollar.

Dieser Export-Furor erzeugte einen spektakulären Wirtschaftsboom mit Wachstumsraten, die seit zwei Jahrzehnten regelmäßig über 9 Prozent liegen. Dieser „demokratische Marktkommunismus“ brachte Millionen Haushalten eine Steigerung ihrer Kaufkraft und ihres Lebensstandards (das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf überstieg 2003 erstmals die 1 000-Dollar-Grenze, zum Vergleich: EU 23 100 Dollar).

In Wirklichkeit ist damit in China ein veritabler Kapitalismus entstanden. Dabei hat der Staat die Modernisierung mit umfangreichen Infrastrukturarbeiten forciert: See- und Flughäfen, Auto- und Eisenbahnen, Brücken und Staudämme, Wolkenkratzer und Sportarenen für die Olympischen Spiele 2008 in Peking, die Anlagen für die Weltausstellung 2010 in Schanghai. Die Bauwut und das Konsumfieber erzeugten in kurzer Zeit einen schier unersättlichen Importbedarf, der heute – ähnlich wie zuvor der Exportboom – auf dem Weltmarkt für ernsthafte Unruhe sorgt. China war 2003 der weltgrößte Importeur von Zement (55 Prozent der Weltproduktion) von Kohle (40 Prozent), Eisen (25 Prozent), Nickel (25 Prozent) und Aluminium (14 Prozent). Und bei den Erdöleinfuhren lag China hinter den USA an zweiter Stelle. Resultat dieses Importhungers war ein drastischer Anstieg der Weltmarktpreise, vor allem bei Erdöl.

DIE Volkswirtschaft des Landes, das 2001 in die Welthandelsorganisation (WTO) aufgenommen wurde, hat sich inzwischen zur sechstgrößten der Welt entwickelt (hinter den USA, Japan, Deutschland, Frankreich und Großbritannien, aber vor Italien). China fungiert heute als Lokomotive des weltwirtschaftlichen Wachstums, und jede Turbulenz im Reich der Mitte schlägt sofort auf die globale Gesamtkonjunktur durch. Deshalb befindet Ministerpräsident Wen Jiabao durchaus nüchtern: „Trotz unseres Wachstumstempos ist China immer noch ein Entwicklungsland, und bei den derzeitigen Wachstumsraten brauchen wir wohl noch 50 Jahre, um zu einem mittelmäßig entwickelten Industrieland zu werden.“5

Diese Prognose klingt eher bescheiden. In jedem Fall aber wird der Aufstieg Chinas gewaltige geopolitische Konsequenzen haben. Da China im Jahr 2030 so viel Energie verbrauchen wird wie heute die USA und Japan zusammen, diesen Bedarf aber nicht mit eigenen Erdölreserven decken kann, wird es bis 2020 seine Atomstromkapazitäten verdoppeln – d. h. jedes Jahr zwei neue Kernkraftwerke bauen müssen. Aber auch dann wird das Land, das 2002 das Kioto-Protokoll unterzeichnet haben, zum größten Umweltverschmutzer der Welt aufrücken, nachdem es heute bereits Platz zwei belegt. Die Chinesen werden Unmengen an Treibhausgasen in die Atmosphäre entlassen und damit den Klimawandel erheblich beschleunigen.

Damit ist China ein Schulbeispiel, an dem sich Fragen studieren lassen, die sich morgen auch in Indien, Brasilien, Russland und Südafrika stellen: Wie kann man Milliarden von Menschen aus Not und Unterentwicklung befreien, ohne sie dem produktivistischen, konsumorientierten Entwicklungsmodell des Westens auszuliefern, das sich für den Planeten wie für die Menschheit als katastrophal erwiesen hat?

Le Monde diplomatique vom 13.08.2004, von IGNACIO RAMONET