10.09.2004

Wie die Fur zu Afrikanern wurden

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Wie die Fur zu Afrikanern wurden

DIE Massenmörder, die in der westsudanesischen Provinz Darfur die Lebensgrundlagen der Bevölkerung zerstören, dürfen auch nach einer Befriedung der Region keine politische Zukunft mehr haben. Aber die öffentliche Empörung über ihre Schreckenstaten verdrängt deren Ursachen. Die Zentralregierung in Khartum versagte beim Aufbau der Infrastruktur und löste die Konflikte um die Bodennutzung nicht, dann instrumentalisierte sie die „arabischen“ Nomaden für den Kampf gegen die „afrikanischen“ Bauern. Aber auch die Großmachtträume des libyschen Staatschefs Gaddafi hinterließen ihre Spuren.

Von ALEX DE WAAL *

Nicht einmal alle Militärkommandeure in der sudanesischen Provinz Darfur verstehen, um was es bei ihren Kämpfen geht. Die üblichen Beschreibungen – ein Kampf von „Arabern“ gegen „Afrikaner“, ein Kampf um die natürlichen Ressourcen, der Kampf einer vernachlässigten Region um einen gerechten Anteil am Reichtum der Nation –, sie alle enthalten ein Stück Wahrheit, aber zugleich führen sie in die Irre. Die „Araber“ von Darfur sind üblicherweise genauso schwarz und genauso „eingeboren“ wie ihre Widersacher. Die Identitäten als „Araber“ respektive „Fur“ haben sich ungefähr zur gleichen Zeit im 17. Jahrhundert herausgebildet; dabei sind Heiraten zwischen den Angehörigen beider Gruppen seit langem üblich.

Auch Konflikte über Landbesitz und Wasserrechte hat es in der Geschichte von Darfur schon immer gegeben, doch ein organisierter Krieg zwischen arabischen und nichtarabischen Gruppen ist eine neue Erscheinung. Kein Zweifel besteht auch, dass Darfur innerhalb der ökonomischen Entwicklung des Sudan zurückgeblieben ist. Aber diese Tatsache erklärt keineswegs das Ausmaß der Feindseligkeiten zwischen arabischen und nichtarabischen Gruppen, denn beider Interessen wurden gleichermaßen vernachlässigt. 1

In Darfur hat es ganz sicher schwer wiegende Verletzungen der Menschenrechte gegeben. Viele davon wurden von der Dschandschawid-Miliz begangen. Ihr bekanntester Kommandeur, Musa Hilal, steht ganz oben auf der vom US-Außenministerium veröffentlichten Liste mutmaßlicher Kriegsverbrecher. In der Tat: Für Verbrechen wie das Abbrennen von Dörfern, für Massenvergewaltigungen und Massaker kann es keine Rechtfertigung geben. Und dennoch muss man sich die Frage stellen, warum manche Leute in Darfur zu Killern wurden.

Musa Hilal ist das Oberhaupt des Rizeigat-Stammes der Jalul, der vor allem im Norden von Darfur beheimatet ist. Schon sein Vater, Scheich Hilal Musa, war in den ersten 30 Jahren nach Gründung der Republik Sudan (1956) Stammesoberhaupt gewesen. Damals waren die Jalul Nomaden, deren Kamelherden große Entfernungen zurücklegten. Sie pendelten zwischen dem Weideland am Rand der Wüste und der Hügellandschaft im zentralen Darfur, wo die Fur sie gastfreundlich empfingen.

Die Jalul besaßen kein Territorium im eigentlichen Sinne. In ihrer nomadischen Existenz fest verwurzelt, durchzogen sie mit ihren Herden die Wälder und Weidegründe, die zwischen den verstreuten Dörfern liegen, und tauschten bei den Bauern ihr Fleisch und ihre Milch gegen Hirse ein. Im Rahmen eines komplexen Systems von Gewohnheitsrechten war es ihnen gestattet, sich mit ihren Kamelherden auf bestimmten Wanderrouten zu bewegen. Zugleich galt das Prinzip, dass jeder einzelnen Familie, auch denen der Rizeigat, genügend Land für den eigenen Bedarf zustand, sodass Nomaden, die ihre Herde verloren hatten, sich einen neuen Lebensunterhalt als Subsistenzbauern sichern konnten. Dieses System geriet im Lauf der 1980er-Jahre zunehmend unter Druck. Die Weideflächen schrumpften infolge von Dürreperioden, der Ausdehnung der Wüsten, aber auch durch die Ausweitung der Ackerflächen.

Als ich 1985 Scheich Hilal besuchte, war er ein alter, fast blinder Mann. Die Regierung hatte ihm im Norden von Darfur in der Nähe von Kutum ein kleines Stück steinigen Landes zugewiesen, wo er seine Zelte aufschlug und über seinen Stamm residierte. Obwohl er zu alt war, um noch ein Kamel zu besteigen, wollte er nicht in ein Haus in der Stadt ziehen. Er zog es vor, seine Gäste in einem traditionellen Beduinenzelt zu empfangen, wo seine Schwerter, seine Sättel und ein altes Gewehr an der Wand hingen.

Scheich Hilal war stolz auf seine Kamelherden, die damals gerade 400 Kilometer weiter im Norden grasten, und bestand darauf, dass kein Angehöriger des Jalul-Stammes jemals gezwungen sein sollte, vom Ackerbau zu leben. Doch schon bald darauf wurden viele seiner Leute vom Hunger ereilt. Selbst in der Nähe von Aamo, wo er seine Zelte aufgeschlagen hatte, traf ich auf verarmte Jalul-Familien, die auf ausgedörrten Böden das Nötigste zum Überleben anzubauen versuchten. Die einheimischen Bauern, die den Tunjur, einem eng mit den Fur verwandten Volk, angehörten, hatten ihnen nichts vom fruchtbaren Schwemmland überlassen. Andere Dörfer der Jalul standen völlig verlassen, weil ihre Bewohner auf der Suche nach Arbeit in die Städte gezogen waren. Mittlerweile waren Bauern aus den Dörfern der Fur dazu übergegangen, die Jalul an ihrer nomadischen Lebensweise zu hindern, indem sie die Wanderrouten der Kamelherden abschnitten und sogar Weideflächen in Brand steckten.

Für Scheich Hilal bedeuteten die Dürren und der Vormarsch der Wüste mehr als nur eine wirtschaftliche Bedrohung. Sie bedeuteten auch eine moralische Gefährdung, denn sie brachten die stabile Ordnung seiner traditionellen Welt durcheinander und führten zu sozialen Spannungen und Konflikten. 1987 kam es in Darfur zu den ersten größeren Zusammenstößen zwischen den arabischen Beduinen und der bäuerlichen Fur-Bevölkerung.

Eine Friedenskonferenz im Jahr 1989 endete mit der Übereinkunft, dass beide Parteien – die Araber wie die Fur – ihre Milizen auflösen sollten. Bei der Verteilung der Bodennutzungsrechte und der Regelung von Konflikten wollte man zu traditionellen Methoden zurückkehren. Dazu ist es jedoch nie gekommen, weil sich die lokalen Konflikte bereits zu stark mit überregionalen Auseinandersetzungen verwoben hatten, die ihrerseits in soziokulturellen Widersprüchen wurzelten.

1916 hatten britische Truppen die Armee des regionalen Herrschers Sultan Ali Dinar geschlagen und sein „Land der Fur“ – Darfur – erobert. Ali Dinar war ein Nachkomme von Suleiman Solong, der im 16. Jahrhundert das Sultanat Fur gegründet hatte und dessen lange vernachlässigtes Grabmal in den Bergen liegt, eine Tagesreise von Aamo entfernt. Suleiman Solong hatte einen arabischen Vater und eine Mutter aus dem Volk der Fur, er war also gemischtethnischer Abstammung, wie viele politischen Führer in Darfur. Obwohl immerzu von den „Arabern“ und „Afrikanern“ Darfurs die Rede ist, lässt sich an der Hautfarbe nur selten erkennen, ob ein Mensch zu der einen oder zu der anderen Gruppe gehört. Alle sind hier seit Jahrhunderten ansässig, und alle sind Muslime.

Als der Sudan 1956 unabhängig geworden war, bemühten sich die Regierungen in Khartum immer wieder darum, eine lokale Administration aufzubauen, also Schulen, Krankenhäuser und eine Polizei. Dabei schaffte die Zentralgewalt auch die Position des Scheichs formell ab und ersetzte sie durch „Volksräte“. Doch ein politisches und gesellschaftliches Vakuum entstand, denn die nötigen finanziellen Mittel aus Khartum blieben aus. Zu Beginn der 1980er-Jahre war die örtliche Verwaltung bankrott. Wollte der Polizeichef zum Beispiel Banditen verfolgen, musste er die dafür nötigen Fahrzeuge samt Benzin von den Mitarbeitern eines Entwicklungsprojekts ausleihen.

Dann, nach der Dürre und der Hungersnot in den Jahren 1984 und 1985, brachen in Darfur die ersten gewaltsamen Konflikte aus. Weil die Behörden in keiner Phase wirksam eingreifen konnten, begannen die Menschen, sich Waffen zuzulegen. Die Besitzer der Herden kauften automatische Gewehre für ihre Kamelhirten, denn eine Herde von tausend Tieren stellt ein Vermögen von mehr als einer Million Dollar dar. Auch die Dorfbewohner rüsteten sich mit Feuerwaffen aus.

Die Gleichgültigkeit von Khartum

1989 und auch im Jahr darauf kam es dann zu Friedenskonferenzen, auf denen der Weg zu einer Lösung beschlossen wurde, aber es fehlten die finanziellen Mittel und der politische Wille, die Beschlüsse auch umzusetzen. Stattdessen versuchte die regionale Regierung in Darfur, ihre mangelnden Erfolge bei der Lösung der verharmlosend als „Kriminalität“ bezeichneten Konflikte dadurch zu kompensieren, dass sie die wenigen Gefassten grausam bestrafte. Bewaffnete „Räuber“ wurden hingerichtet, ihre Leichen öffentlich zur Schau gestellt, Dieben wurden die Hände amputiert. Aber das „Banditenwesen“ griff weiter um sich, weil weder die Landrechte geregelt wurden noch die Effizienz der lokalen Behörden verbessert wurde.

Die Zentralregierung ist für die elende Lage in den westlichen Provinzen mitverantwortlich – durch ihre Untätigkeit und auch politische Machenschaften. Darfur wurde von Khartum stets vernachlässigt: Seine Bevölkerung erhielt im Vergleich zu den anderen Regionen des Sudan die geringsten Mittel für das Erziehungswesen, für die Gesundheitsversorgung und für Entwicklungsprojekte; innerhalb der Zentralregierung wurde die Region am schlechtesten vertreten. In Darfur selbst wurde die Bevölkerung – ob Araber oder nicht – gleichermaßen marginalisiert. Die Tragödie der Provinz liegt vor allem darin, dass die Führer dieser Gruppen sich gegen die Vernachlässigung durch Khartum nicht gemeinsam gewehrt haben.

Die Etiketten „Araber“ und „Afrikaner“ sind in Darfur erst in jüngster Zeit entstanden. Die Beduinen begannen sich erst vor zwanzig Jahren mit der arabischen Welt zu identifizieren. Ausgelöst wurde diese Entwicklung unter anderem durch den libyschen Staatschef Muammar al-Gaddafi, der von einem „arabischen Gürtel“ quer durch die Sahelzone träumte. Entscheidend für dieses Projekt war die Kontrolle über den Tschad, weswegen Libyen den Norden des Tschad, den so genannten Auouzo-Streifen, annektierte. Ghaddafi startete eine Reihe militärischer Abenteuer im Tschad, wobei Darfur in den Jahren 1987 bis 1989 als Nachschubbasis für die von Libyen unterstützten Fraktionen diente. Hier versorgten sich die Rebellen aus dem Tschad mit Getreide und Vieh, wobei sie in mindestens einem Fall von einer tschadisch-französischen Truppe bis auf das Territorium von Darfur verfolgt wurden. Viele der Schusswaffen, die man heute in der Region findet, stammen von den rivalisierenden Fraktionen im Tschad.

Ghaddafi sammelte damals die Unzufriedenen aus Darfur, Araber aus der Sahelzone und Tuareg unter seiner Fahne und fasste sie zu einer bewaffneten „Islamischen Legion“ zusammen. Doch nachdem die Libyer 1987 bei Ouadi Doum eine vernichtende Niederlage durch tschadische Regierungstruppen erlitten hatten, gab Gaddafi seine irredentistischen Träume auf. Die Kämpfer der Legion allerdings, die gut ausgebildet, gut bewaffnet und vor allem von einem lebhaften arabischen Überlegenheitsanspruch erfüllt waren, lösten sich nicht einfach in Luft auf. Sie betrieben ihre Mission weiter – und zwar im Nordosten des Sudan.

Auf diese Entwicklung reagierten die nichtarabischen Bewohner von Darfur, indem sie sich das Etikett „Afrikaner“ zulegten. Ein gutes Beispiel dafür ist Daud Bolad, ein junger, führender Repräsentant der Fur. Nach Beendigung seines Studiums an der Universität Khartum kehrte Bolad dem politischen Islam den Rücken und wechselte die Fronten. Er schloss sich der Sudanesischen Volksbefreiungsarmee (SPLA) von John Garang an, der die politische Vorherrschaft im Sudan für die „Afrikaner“ proklamiert, weil er davon ausgeht, dass die christlich-animistische Bevölkerung des Südsudan im Verein mit den marginalisierten Gruppen des islamischen Nordens eine numerische Mehrheit gegen die Zentralprovinzen bildet.

Garang versucht seit langem, Vertreter aller sudanesischen Volksgruppen für die SPLA zu rekrutieren. Dabei hatte er auch Darfur im Auge. 1991 entsandte er Bolad zurück in seine heimatliche Provinz, damit er dort einen Aufstand anzettelte. Doch die Mission endete mit einem Desaster, die Truppe wurde abgefangen und vernichtet. Bolad geriet in Gefangenschaft und ist seitdem verschwunden, sein klandestines Netzwerk wurde zerschlagen. Für Darfur bedeutete das den Ausfall einer ganzen Generation radikaler Führer. Daraufhin suchten viele Bewohner Darfurs, ihre Rechte auf anderem Weg abzusichern – nicht über das weltliche Konzept Garangs, sondern über den politischen Islam, genauer: über eine Annäherung an die Regierung in Khartum. Denn in den 1990er-Jahren versuchte Hassan at-Turabi, der geistige Führer der sudanesischen Islamisten, seinen Einfluss auf nichtarabische Muslime im Westteil des Landes auszudehnen. Alle Menschen in Darfur sind Muslime und für ihre Frömmigkeit bekannt. Dass ihr Glaube einen Anspruch auf mehr Rechte und politische Teilhabe begründe, war ihnen eine attraktive und glaubwürdige Vorstellung, weshalb sich viele der Bewegung von Hassan at-Turabi anschlossen.

Doch das Versprechen der Islamisten war ein fauler Zauber. Im praktischen Alltag änderte sich kaum etwas. Nur ganz wenige Leute aus Darfur erreichten in Partei und Regierung einflussreiche Positionen. Und mit den tieferen Ursachen für die Armut der Provinz und für den Darfur-Konflikt hat sich niemand beschäftigt.

Nach dem Putsch von 1989 herrschte in Khartum zehn Jahre lang eine Regierung, die ein labiles Bündnis zwischen zwei Figuren darstellte: dem alerten und charismatischen Turabi, der als Oberhaupt der sudanesischen Islamisten die Revolution in ganz Afrika und im Nahen Osten voranbringen wollte, und Präsident Omar al-Baschir, dem ehrgeizigen und brutalen General, der immer noch der traditionellen Auffassung anhing, das ganze Land sei Privatbesitz einer arabisierten Elite des Ostens, also der Region entlang dem Nil. Den Machtkampf zwischen den beiden Rivalen gewann am Ende al-Baschir. Der entzog Turabi 1999 das Amt des Präsidenten der Nationalversammlung und ließ ihn anschließend verhaften.

Die meisten Mitglieder der Bürokratie und die Spitze des Sicherheitsapparats, die das Militär und die verschiedenen Geheimdienste kontrollierte, schlugen sich auf die Seite von al-Baschir. Die Studenten und die regionale Parteiorganisationen dagegen hielten großenteils zu Turabi und gründeten eine oppositionelle Partei, den „Volkskongress“. Für Baschir ergab sich durch den Bruch mit Turabi die willkommene Chance, sich gegenüber den USA zu öffnen und die Friedensgespräche mit der SPLA ernsthafter zu betreiben. Dieser Prozess mündete im Juni 2004 schließlich in die Unterzeichnung eines Friedensabkommens in Kenia.

Die Spaltung der Regierung in Khartum wirkte sich auch auf die politische Szene in Darfur aus. Ihre islamistischen Führer gingen in die Opposition. Im Jahr 2000 legten sie ein „Schwarzbuch“ vor, das die systematische Unterrepräsentanz der Vertreter Darfurs auf der Ebene der nationalen Regierung dokumentierte. Daud Bolad wird darin zum „Märtyrer“ ernannt, eine symbolische Versöhnung zwischen den Islamisten und der säkularistischen Bewegung von Darfur.

Seitdem besteht dort eine merkwürdige Allianz. Der eine Verbündete ist die islamistisch gefärbte Justice and Equality Movement (JEM) aus Westdarfur, die nach dem Verbot von Turabis Kongresspartei sehr einflussreich geworden und auf den Zentralsudan orientiert ist. Der andere Bündnispartner der Allianz ist die „afrikanisch“ orientierte Sudan Liberation Army (SLA), die ebenfalls in Darfur verwurzelt ist; so waren die Versuche, den Konflikt militärisch zu lösen, längst überfällig und hätten eigentlich niemanden überraschen sollen. Aber fast alle Beobachter hatten sich so sehr daran gewöhnt, dass es in Darfur trotz aller Konflikte ruhig blieb, dass sie es für blinden Alarm hielten, als die militanten Kräfte einen größeren Aufstand ankündigten. Ebenso überrascht war offenbar die sudanesische Regierung, denn in den Monaten davor waren ihre Friedensofferten ebenso halbherzig ausgefallen wie ihre militärischen Vorbereitungen. Im April 2003 griffen die Rebellen den Flugplatz von al-Fascher an, zerstörten ein halbes Dutzend Militärflugzeuge und entführten einen Luftwaffengeneral. Ähnliches hatte die SPLA während des 20-jährigen Krieges im Süden des Sudan nie geschafft. Aber die Rebellen in Darfur hatten der SPLA einiges voraus, vor allem ihre Mobilität, ihre präzisen Informationen und den Rückhalt in der Bevölkerung.

Für Präsident al-Baschir war entscheidend, dass er sich nach wie vor auf die Hauptstütze des sudanesischen Staates verlassen konnte: die Spitze des Sicherheitsapparats, die seit 1983 den Krieg im Süden betrieben hatte. Angesichts eines Aufstands, der die Kräfte ihrer erschöpften und an zu vielen Fronten engagierten Armee überforderte, wusste diese kleine Clique von Männern genau, was sie zu tun hatte. Bei ihrem Krieg im Süden hatten sie mehrfach auf kostengünstige Methoden der Aufstandsbekämpfung zurückgegriffen, etwa indem sie eine Strategie der verbrannten Erde betrieben und Hungersnöte erzeugten. In solchen Fällen setzten sie auf lokale Milizen, die sie mit Waffen und Nachschub versorgten, und machten den neuen Kriegsschauplatz zu einer rechts- und moralfreien Zone. Im Fall Darfur boten sich in dieser Rolle die nomadischen Kamelzüchter des Nordens an, zu denen auch die verbitterten früheren Kämpfer der islamischen Milizen gehörten, die so etwas wie die Kosaken der Sahara sind.

Diese Hilfstruppen übernahmen von früheren Beduinenmilizen den Namen Dschandschawid. Er soll eine Zusammensetzung sein aus der arabischen Bezeichnung für das G3, das Gewehr des schwäbischen Waffenproduzenten Heckler & Koch, und dem Wort dschawad, Pferd, das im westsudanesischen Dialekt aber auch „Pöbel“ bedeutet. Inzwischen sind diese Dschandschawid als militärische Brigaden unter dem Kommando der sudanesischen Armee organisiert.

Diese Milizen begehen ihre Gräueltaten an Angehörigen der Fur, der Tunjur, der Masalit und der Zaghawa, und sehr wahrscheinlich an weiteren ethnischen Gruppen. Ihre Aktionen sind langfristig und systematisch angelegt und beschränken sich durchaus nicht nur auf das Ziel, eine militärische Bedrohung zu ersticken. Die scheußlichen Massenvergewaltigungen zeugen von der bewussten Absicht, eine ethnische Gemeinschaft zu vernichten. Das Abhacken von fruchttragenden Bäumen oder die Zerstörung von Bewässerungsgräben, wie es in Darfur geschieht, bewirkt darüber hinaus, dass die Bauern die Ansprüche auf ihr früheres Land einbüßen, es ist eine Angriff auf die existenziellen Lebensgrundlagen. Diese routinemäßigen Gräueltaten gehen auf das Konto einer Clique von Staatsschützern, denen in den langen Jahren ihrer Machtausübung jede Spur von Menschlichkeit abhanden gekommen ist. Für die Planer dieses gewohnheitsmäßig vollzogenen Genozid darf es in einem künftigen Sudan keinen Platz mehr geben.

Aus heutiger Sicht scheint es unmöglich, die gesellschaftlichen Strukturen in Darfur wiederherzustellen. Die Welt des alten Scheich Hilal, des Vaters des Dschandschawid-Anführers Musa Hilal, dieser stabile Kosmos mit seinen selbstverständlichen wechselseitigen Beziehungen zwischen Bauern und Nomaden, ist endgültig untergegangen. Mit Unterstützung des Staatsapparats und unter dem Einfluss der unerbittlichen Armut und eines importierten Rassismus sind grausamste Gewaltverhältnisse entstanden. Die Forderung nach Bestrafung von Musa Hilal, der samt seinen Hintermännern auf der Liste der Kriegsverbrecher steht, ist ein bequemes Ventil für unsere Wut und unser Entsetzen und dennoch unentbehrlich als Abschreckung für künftige ähnliche Verbrechen.

Aber ein solcher Bannfluch ist auch keine Lösung. Diese erfordert vielmehr enorme Geduld, besonnenes Nachdenken und finanzielle Mittel. Es wird extrem schwierig sein, die Gemeinschaften wieder aufzubauen, die durch irrwitzige Gewalt zerschlagen, traumatisiert und auseinander gesprengt wurden. Die Entwaffnung wird lange dauern und schwierig sein. Und die mörderischen Aktionen der Dschandschawid dürfen die Tatsache nicht verdecken, dass die indigenen arabischen Nomaden von Darfur in der Vergangenheit selbst zu Opfer wurden – dass man sich an den Sündern selbst versündigt hat. Der erste Schritt, die gewaltigen Aufgaben zu bewältigen, muss allerdings darin bestehen, sich Rechenschaft zu geben über das, was man verloren hat.

deutsch von Niels Kadritzke

© Le Monde diplomatique, Berlin

* Direktor von Justice Africa (London). Herausgeber von „Islamism and its Enemies in the Horn of Africa“, London (Hurst and Co) 2004. In diesem Herbst erscheint bei Oxford University Press eine aktualisierte Neuauflage von „Famine that Kills: Darfur, Sudan, 1984–85“.

Fußnote: 1 Siehe auch: Jean-Louis Péninou, „Als die Reiter Gewehre bekamen“, Le Monde diplomatique, Mai 2004.

Le Monde diplomatique vom 10.09.2004, von ALEX DE WAAL