10.09.2004

Der Wirklichkeit voraus

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Der Wirklichkeit voraus

Literatur über die Zukunft, gemeinhin Science-Fiction genannt, ist zwar wenig wissenschaftlich, aber dennoch aufschlussreich. Denn sie funktioniert sowohl als Parabel auf die Gegenwart als auch als spekulatives Nachdenken darüber, welcher Keim der Zukunft in den Phänomenen der Gegenwart verborgen ist – und wie er sich entwickeln wird.

Von JEAN-CHRISTOPHE RUFIN *

BESCHREIBEN, was ist, oder schreiben, was kommt? Die Oberfläche der Ereignisse abtasten, ihre äußere Hülle nachzeichnen oder im Gegenteil: die Schale zertrümmern und den Kern herausholen, das Samenkorn der Zukunft? Dieses uralte Dilemma kennzeichnet den Gegensatz zwischen der Arbeit der Politologen und der unübersichtlicheren, aber überaus fruchtbaren Arbeit all jener – Romanautoren, Filmemacher, Comiczeichner –, die sich kühn an künftige Zeiten heranwagen. Methodische Strenge und folglich Glaubwürdigkeit können natürlich nur die wissenschaftlichen Beobachter von Politik und Geschichte für sich in Anspruch nehmen. Im Übrigen verhält sich die offizielle Politikwissenschaft ziemlich selbstgerecht und dünkelhaft, wenn sie jeden, der seine Einbildungskraft benutzt, in die Schublade des „Journalismus“ (schwache Beleidigung) oder in den Orkus der „Literatur“ (schlimmste Beschimpfung) verbannt. Die geehrten Professoren hingegen verfassen ihre Abhandlungen über das, was ist.

Sie merken nicht, dass sie der Wirklichkeit jede Lebendigkeit nehmen, wenn sie sie in dieser Weise sezieren. Die kalten Stücke, die sie uns vorlegen, sind totes Fleisch, nicht Fleisch und Blut mit der unvergleichlichen Eigenschaft des Lebendigen, das Bewegung, Verwandlung, Entwicklung bedeutet. Im alltäglichen Zeitgeschehen und seiner Dokumentation fällt dieser Mangel nicht weiter auf. Doch es braucht nur einen größeren Einschnitt zu geben – wie den Zusammenbruch des sowjetischen Kommunismus, die ersten Kanonenschüsse auf Dubrovnik, also auf europäischem Boden, die Anschläge vom 11. September–, und schon steht die politische „Wissenschaft“ in ihrer Blöße da. Schlimmer noch, man begreift, dass ihre vorgeblich auf Logik und Vernunft beruhenden Wahrheiten Lügen oder Illusionen sind. Erinnern wir uns an ihre Kommentare vom ewig währenden Kalten Krieg, an ihre Ausführungen darüber, wie die Demokratien enden würden, usw.

Alexander Solschenizyn hat in seiner „Stockholmer Rede“1 erklärt, er habe in einer von Vernunft und Wissenschaft regierten Welt gelebt, in der trotzdem alle Reden falsch gewesen seien. Die Wahrheit war eine übliche Erscheinungsform der Lüge. Damit rechtfertigte er, dass er sich für die Form des Romans entschieden hat. Die Fiktion, die sich offen als Lüge zu erkennen gibt, ist umgekehrt eine Form von Wahrheit. Aber diese Wahrheit erkennt man nicht an ihrer Form, sondern an einem „Ton“, den das menschliche Ohr durchaus wahrnehmen kann. Ein Roman „klingt“ richtig – oder eben nicht – und führt, wenn dem so ist, zu einem tieferen Verstehen der Umstände und der handelnden Personen.

Unter diesem Gesichtspunkt stellt sich das Problem schon anders dar, denn selbstverständlich lotet nicht alle Literatur die gleichen Dimensionen der Wirklichkeit aus. Viele fiktionalen zeitgenössischen Werke sind minimalistisch und innerlichkeitsbezogen. Im Extremfall entwickelt sich eine Literatur des subjektiven Augenblicks, die man als Autofiktion bezeichnet. Sie ist ein wertvolles Zeugnis für unsere Art, zu leben, zu denken, zu fühlen, zu lieben, aber ihr fehlt es – absichtlich – an Weite und Fülle in der Beschreibung eines sozialen und politischen Umfelds. Sucht man eine fiktionale Literatur, die ebendiese Wirklichkeitsbereiche erkundet, muss man sich der „Genre“-Literatur zuwenden, als da sind: Krimi, Reiseliteratur, historischer Roman, Spionageroman und natürlich Science-Fiction.2

Das schreckliche Wort ist gefallen, und sofort erhebt sich ein Riesengeschrei: Was? Science-Fiction? Die will man uns als Instrument zur Wirklichkeitserkundung andienen? Fliegende Untertassen – zum Totlachen! Grüne Männchen, Zeitmaschinen, warum nicht gleich Schneewittchen oder Harry Potter!

Sicher. Solche Kritik, wie oberflächlich auch immer, ist begründet. Der Ruf der Science-Fiction-Literatur leidet darunter, dass Werke ungleicher Qualität und vor allem unterschiedlicher Art in ein und denselben Topf geworfen werden. Die Experten sind sich über Klassifizierungen nicht einig, und da ich keiner bin, halte ich mich lieber an einen medizinischen Vergleich: Unter Bezugnahme auf die Bezeichnungen für „Wahnzustände“ in der alten Psychiatrie (schließlich handelt es sich ja um Zustände außerhalb der Realität) kann man auch in der Science-Fiction zwischen schizophrenen, paraphrenen und paranoiden Produktionen unterscheiden.

In den Bereich der Schizophrenie würden das Fantastische und Wunderbare gehören. Die Paraphrenie, bei der es ein Nebeneinander von intakten Realitätsbereichen mit meist sehr ausgedehnten rein imaginären Elementen gibt, entspräche dem Genre der Fantasy und ihrem sehr fruchtbaren – und leicht ins Lächerliche zu ziehenden – Subgenre der heroic fantasy (Krieg der Sterne, Star Trek und alle Arten Space Operas). In der Paranoia schließlich wird eine leichte Realitätsverschiebung durchexerziert mit allen sich daraus ergebenden Konsequenzen. Diese Technik läuft darauf hinaus, sich Welten auszudenken, die unserer ähnlich sind und in denen der Alltag kaum anders ist, aber bestimmte Parameter sich verändert haben, was immense, aber nicht immer gleich wahrnehmbare Auswirkungen hat. Die hypothetischen Verschiebungen können die Vergangenheit betreffen (das ist der Bereich der Uchronie – ich persönlich habe eine Vorliebe für einen in Frankreich verkannten Autor: Orson Scott Card3 ) oder eine mehr oder weniger nahe Zukunft. Die Zahl der Meisterwerke in diesem Bereich ist groß und reicht von „Gullivers Reisen“ bis zu „Schöne neue Welt“, von „Fahrenheit 451“ bis zum „Minority Report“4 .

Eine Sonderstellung nimmt Orwells „1984“5 ein. Denn dabei handelt es sich um die politischste Form einer paranoiden Fiktion. Wie immer, wenn es um einen vielschichtigen, ergiebigen Gegenstand geht, gibt es viele Interpretationsmöglichkeiten. Die Verfilmung (die, wie man heute weiß, unter Aufsicht der CIA stattfand)6 hat Orwells Werk stark beschränkt. Die ungewöhnliche Reichhaltigkeit der Orwell’schen Fiktion hat ihren Grund gerade in ihrer literarischen Freiheit. Sie ist nicht einfach eine Transposition der stalinistischen Welt in die Literatur, sondern die totalitären Mechanismen, die sie beschreibt, sind auf viele gesellschaftliche Verhältnisse anwendbar, unsere siegessicheren Demokratien eingeschlossen.

Aus einem seltsamen europäischen Komplex heraus halten wir die politische Science-Fiction für eine Spezialität der angelsächsischen Welt, insbesondere Nordamerikas. Tatsächlich haben die Vereinigten Staaten eine Fülle von Literatur dieser Art hervorgebracht, häufig ohne künstlerischen Anspruch, aber wirkungsvoll und populär. Dieser Gruppe kann man die Spionageromane zurechnen, besonders die über Technologiespionage von Autoren wie Tom Clancy, Robert Ludlum, Robin Cook usw. Nach dem 11. September konnte man feststellen, dass diese als wenig seriös geltenden Romanciers als Erste erstaunliche Hypothesen aufgestellt hatten, die die Realität im Nachhinein bestätigt hat. In dem Roman „Befehl von oben“ etwa hatte Tom Clancy bereits 1996, also fünf Jahre vor dem 11. September, eine Boeing 747 über dem Kapitol abstürzen lassen. Mit dem Präsidenten, so das Szenario, war fast die gesamte Führungsriege der USA umgekommen, und nun kämpfte der am Leben gebliebene Vizepräsident Jack Ryan einsam und verbissen gegen den teuflischen Ajatollah Daryaei, der plant, die Bevölkerung in den amerikanischen Großstädten ausgerechnet mit einer Virusattacke zu vernichten.

Es wäre aber falsch, der angelsächsischen Literatur ein Monopol in diesen Genres zuzuschreiben. Im 20. Jahrhundert haben sich auch die Kontinentaleuropäer darin betätigt. Unter den Franzosen u. a. Boris Vian („Der Schaum der Tage“), Robert Merle („Die Insel“, „Malevil“) und, nicht zu vergessen, „Die Wurzeln des Himmels“, von Romain Gary7 , der dieses – durchaus prophetische – Buch selbst als den ersten Ökologieroman bezeichnet hat.

Die französische Science-Fiction erlebte in den Jahren 1970–1980 eine Durststrecke, die durch den wenig erfolgreichen Versuch geprägt war, eine strikt politische Science-Fiction zu erschaffen. Mittlerweile kommt sie aus ihrem Ghetto heraus. Exemplarisch ist hier die Entwicklung eines Autors wie Pierre Bordage. Bordage kommt aus der puren, harten Science-Fiction, wo er sich mit großen Sagas klassischer Machart (im Fantasy-Genre) hervorgetan hat. Seit einigen Jahren bewegt er sich mit Büchern wie „L’Evangile du serpent“ („Das Evangelium der Schlange“) und „L’Ange de l’abîme“ („Der Engel des Abgrunds“)8 in literarischeren Gefilden. Im Lauf von Diskussionen, die wir miteinander führten, kam ich auf den Gedanken, den umgekehrten Weg zu gehen. Und so habe ich „Globalia“ geschrieben.

Vergleicht man „L’Ange de l’abîme“ mit „Globalia“, kann man ermessen, was uns trennt und was die große Fruchtbarkeit der literarischen Methode ausmacht. Zur Beschreibung seines zukünftigen Europa hat Bordage den gesellschaftlichen und politischen Zerfall, dessen Vorformen man heute schon erahnen kann, auf die Spitze getrieben. Es kommt zu einer dramatischen Übereinstimmung von fanatischen Extremismen: dem des Dschihad auf der einen und dem des Erzengels Michael auf der anderen Seite. Er rückt damit in die Nähe von John le Carré, der in „Absolute Freunde“9 die Konvergenz der Interessen von Terroristen draußen und einer extremistischen Rechten innerhalb der USA zeigt, die ihre Macht mit den Interessen der inneren Sicherheit begründet.

In „Globalia“ ging ich von der gleichen Feststellung aus, habe aber die umgekehrte Hypothese aufgestellt. Ich habe imaginiert, dass die gesellschaftliche Übereinstimmung nicht in Form einer Verschärfung der Ideologie erfolgen wird, sondern im Gegenteil durch eine Entideologisierung der Gesellschaft. Die Welt von „Globalia“ ist eine Welt der „Soft-Ideologie“. Jeder hat nur auf ein Minimum an „standardisierten kulturellen Bezugspunkten“ Anspruch; die Geschichte wird überwacht und auf folkloristische Elemente wie z. B. einen Asterix-Park reduziert; das Konsumsystem gedeiht auf der Grundlage eines laschen Konsenses, in dem die Menschenrechte bis zur Absurdität ausgeweitet wurden und eine auf die Spitze getriebene politische Korrektheit herrscht. In „Globalia“ hat das Recht auf ein langes Leben die Bevölkerung ein hohes Alter erreichen lassen – und sie dabei jung erhalten; Verglasungen erzeugen eine milde Wärme und schützen das allgemeine Wohlergehen. Die Bedrohungen sind allgegenwärtig; sie kommen von draußen, aus den „No-Zonen“, der Dritten Welt von morgen (einschließlich der Vorstadtghettos usw.).

In den beiden Darstellungsweisen spiegeln sich zwei Möglichkeiten einer Veränderung, wie sie in einer Imagination der Zukunft denkbar sind. Entweder im Innern siegt die Unordnung, und in diesem Chaos wuchern extreme Ideologien; oder die Unordnung wird nach außen verschoben, und im Innern nehmen die Demokratien die Form sanfter Diktaturen an, aus denen jede Form radikalen politischen Ausdrucks sorgfältig verbannt ist.

Selbstverständlich kann man keiner dieser beiden Hypothesen Gültigkeit zusprechen, und man kann auch nicht behaupten, dass sich nicht auch andere aufstellen ließen. Doch der große Vorteil solcher literarischen Abenteuer besteht darin, dass man sich mit dem größten sozialpolitischen Problem der kommenden Jahre herumschlagen kann: Welche Gesellschaft wird uns die weltweite liberale Demokratie bescheren, die nach dem Fall der Mauer gesiegt hat? Wie soll man sich die neue Form von Totalitarismus vorstellen, die wir heraufziehen sehen, wenn doch Freiheit scheinbar als höchster Wert gilt? Orwell kann uns einige Hinweise liefern, aber das Entscheidende, den Impuls, der ihn im Jahr 1948 dazu gebracht hat, „1984“ zu schreiben, müssen wir selbst neu setzen. Wer Recht hat, Bordage oder sonst jemand, das weiß keiner. Jeder wird beim Lesen spüren, was für ihn selbst wahr klingt. Gewiss ist nur eins: Die Späher, die im Ausguck ihrer Imagination sitzen und die Horizonte der kommenden Zeiten absuchen – das sind die scheinbar wenig seriösen Leute, die Lügner, die Fabulierer, die Gaukler, mit einem Wort: die Verfasser von Zukunftsromanen.

deutsch von Sigrid Vagt

* Schriftsteller, Verfasser unter anderem von „Globalia“, Paris (Gallimard) 2004.

Fußnoten: 1 Alexander Solschenizyn, „Nobelpreisrede“, München (dtv) 1975. 2 Vgl. Serge Lehman, „Les mondes perdues de l‘anticipation française“, Le Monde diplomatique, Juli 1999. 3 Vgl. vor allem den Zyklus „Ender Wiggins Saga“ (Tor Books ) 1992–2003. Auf Deutsch noch nicht erhältlich. 4 Jonathan Swift, „Gullivers Reisen“ (1726); Aldous Huxley, „Schöne neue Welt“ (1932); Ray Bradbury, „Fahrenheit 451“ (1953); Philip K. Dick, „Minority Report“ (1956), verfilmt 2001. 5 George Orwell, „1984“ (1948). 6 Vgl. Frances Stonor Saunders, „Wer die Zeche zahlt … Der CIA und die Kultur im Kalten Krieg“, Berlin (Siedler) 2001. 7 Boris Vian, „Der Schaum der Tage“, Berlin (Wagenbach) 1998; Robert Merle, „Die Insel“ und „Malevil“, Berlin (Aufbau Tb) 2002, 2004. Romain Gary, „Die Wurzeln des Himmels“, München (Piper) 1957. 8 Paris (Le diable Vauvert) 2001 und 2004. Auf Deutsch von Pierre Bordage: „Euro Zone“, in Andreas Eschbach (Hrsg.), „Eine Trillion Euro – Europäische Science-Fiction“, Bastei Lübbe 2004. 9 München (List), 2004.

Le Monde diplomatique vom 10.09.2004, von JEAN-CHRISTOPHE RUFIN