12.11.2004

Unser alter Freund Saddam

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Unser alter Freund Saddam

Noch steht der Prozesstermin nicht fest. Angeklagt sind zwölf der höchsten Vertreter des ehemaligen irakischen Regimes. Die Festnahme Saddam Husseins im Dezember 2003 hatte nicht die erhoffte Wirkung gebracht – eine Befriedung des Landes. Aber ein Gerichtsverfahren, das weder zum Schauprozess wird noch eine schnelle Verurteilung zum Tod bringt, könnte initiieren, was bisher noch nicht einmal in Ansätzen geschehen ist: die Selbstbefreiung der irakischen Bevölkerung von der vergangenen Diktatur.

Von MICHEL DESPRATX und BARRY LANDO *

IN dem Café im einstigen Zentrum von Bagdad setzen die Gäste, auf den Prozess gegen Expräsident Saddam Hussein angesprochen, ernste Mienen auf. Sie erinnern an die Verbrechen des Diktators, und sie finden, dass es ein Gerichtsverfahren geben muss. Doch nach wenigen Sätzen beginnen sie wissend zu lächeln. Nein, von einem solchen Prozess kann man sich doch nichts versprechen. Man weiß ja, dass die Amerikaner das Tribunal, vor dem der Exdiktator erscheinen soll, vollständig unter Kontrolle haben werden. Und dass sich keine Ausländer verantworten müssen, egal welche Verbrechen sie im Irak begangen haben könnten. Ein Lehrer sagt: „Man wird nie und nimmer nach den Verbindungen zwischen Saddam und dem Ausland fragen.“ Und ein Ingenieur erläutert: „Sonst würde zu viel ans Licht kommen, was nicht im Sinne des Westens wäre.“

Cherif Bassiouni hat schon die UNO-Untersuchungskommission über Kriegsverbrechen in Exjugoslawien geleitet. Der amerikanische Rechtsexperte, der vom UN-Menschenrechtskommissar auch als Berater für Menschenrechtsfragen in Afghanistan ernannt worden war, meint über die Planung eines Iraktribunals: „Man hat alles getan, um ein Tribunal zu schaffen, dessen Richter nicht unabhängig agieren, sondern – im Gegenteil – unter strenger Aufsicht stehen. Die Organisatoren des Tribunals müssen nämlich dafür sorgen, dass die USA und andere westliche Mächte aus der Schusslinie bleiben.“

Tatsächlich haben die US-amerikanischen und irakischen Organisatoren des Prozesses entschieden, dass das Sondertribunal, das die Verbrechen von Saddam Hussein aburteilen soll, keine Ausländer als Mittäter anklagen kann. Dabei lassen sich für die vergangenen vierzig Jahren zahlreiche Fälle aufzählen, in denen Nichtiraker – allein fünf amerikanische und mindestens drei französische Präsidenten sowie mehrere britische Premierminister und etliche westliche Unternehmer – Verbrechen des Baath-Regimes gebilligt haben oder gar an ihnen beteiligt waren.

Bereits unter der Präsidentschaft von John F. Kennedy wurde das Morden im Irak von Washington unterstützt. Damals befürchtete man eine Annäherung zwischen Präsident Abdel Karim Kassem und Moskau und die Verstaatlichung der Erdölindustrie. Beim Staatsstreich vom 8. Februar 1963 unterstützten die Amerikaner die dezidiert antikommunistische Baath-Partei, die an dem Putsch beteiligt war. Das bestätigt auch James Akins, der zwischen 1961 und 1965 politischer Berater der US-Botschaft in Bagdad war: „Wir unterstützten die Baathisten mit Geld, viel Geld, und wir lieferten ihnen Waffen. Darüber wurde nicht offen gesprochen, aber viele von uns wussten Bescheid.“

Nach der Ermordung von Präsident Kassem töteten und folterten die Baathisten tausende von Kommunisten und linken Sympathisanten – Ärzte, Beamte, Arbeiter. „Wir hatten nur den einen Befehl erhalten: Kommunisten vernichten!“, erklärt Abdallah Hatef, heute Direktor einer Grundschule in Bagdad, der damals an dem Massaker beteiligt war. „Der junge Saddam Hussein schreckte vor nichts zurück. Er war für das Foltern der Arbeiter zuständig. Sie wurden mit Wasser voll gepumpt, man brach ihnen die Knochen oder folterte sie mit Stromschlägen.“ Mehrere Anführer des Putschs gaben zu, dass die CIA an den Folterungen aktiv beteiligt war und vor allem die Namenslisten von Kommunisten lieferte. Ein früherer US-Chefdiplomat äußerte anonym gegenüber einer Presseagentur: „Wir waren heilfroh, dass uns jemand die Kommunisten vom Halse schaffte! Sie finden, die Leute hätten ein faires Gerichtsverfahren verdient? Sie machen Witze! Die Sache war viel zu ernst.“1

Ein bislang unveröffentlichtes Protokoll2 von einem Treffen zwischen Amerikanern und Baathisten am 9. Juni 1963 in Bagdad bestätigt die gemeinsame Absicht, „den Kommunismus in der Region einzudämmen“. Zum erklärten Feind wurden auch die Kurden, die sich im Norden des Landes dem Baath-Regime widersetzten. Subhi Abdelhamid3 , der damals die Einsätze der irakischen Armee gegen die Kurden befehligte, hat bestätigt, mit dem zuständigen US-Attaché die Lieferung von 5 000 Bomben ausgehandelt zu haben: „Die Amerikaner haben uns kostenlos tausend Napalmbomben angeboten, um die kurdischen Dörfer zu bombardieren.“ Die Überlebenden berichten, wie damals ganze Herden und Dörfer verbrannten. Sie hatten geglaubt, das Napalm sei von den Sowjets geliefert worden.

Anklagen wird man Saddam Hussein auch wegen des Kriegs gegen den Iran, den er im September 1980 begann und der rund eine Million Menschenleben forderte. Mehrere Zeugen bestätigen, dass der irakische Diktator von Washington aufgefordert wurde, dafür zu sorgen, dass der Konflikt eskalierte. Von einem Angriff gegen die islamistische Revolution des Ajatollah Chomeini konnte der Westen nur profitieren. In einem streng geheimen US-Regierungsdokument von 1984 heißt es: „Präsident Carter hat Saddam Hussein grünes Licht für den Krieg gegen den Iran gegeben.“4

Zudem behauptet der damalige iranische Präsident Abol Hassan Bani-Sadr, sein Geheimdienst habe die Kopie eines Plans erworben, der laut seinen Informationen von Irakern und Amerikanern in einem Pariser Hotel verfasst worden sei: „Ich würde ihn als authentisch bezeichnen, weil die irakische Kriegführung sich genau an diese Vorlage gehalten hat! Und weil wir diesen Plan besaßen, konnten wir auf die irakischen Angriffe entsprechend reagieren.“5

Offiziell verhielt sich Washington im Iran-Irak-Konflikt neutral. Eine US-Untersuchungskommission hat jedoch aufgedeckt, dass die CIA und das Weiße Haus Saddam Hussein heimlich mit Waffen aller Art versorgten, unter anderem mit Splitterbomben. Und auch mit Satellitenbildern, mit deren Hilfe die iranischen Truppen genauer lokalisiert werden konnten. Dabei wusste Washington, dass die irakische Armee auch chemische Waffen einsetzte. Nach Aussagen von Rick Francona (einem Offizier der DIA, des militärischen Nachrichtendienstes der USA), der 1988 Bagdad mit Listen von Zielen im Iran versorgte, waren diese Informationen entscheidend für den Sieg des Irak über den Iran.

Ein weiteres Verbrechen, für das sich Saddam Hussein vor dem Sondertribunal wird verantworten müssen, ist der Giftgasangriff auf die kurdische Ortschaft Halabscha 1988, bei dem 5 000 Bewohner ums Leben kamen. Damals versuchten die USA und Frankreich mit allen Mitteln zu verhindern, dass Saddam Hussein für dieses Verbrechen verurteilt wurde: Präsident Reagan blockierte im Kongress eine Gesetzesvorlage, die den Handel mit dem Irak unterbinden sollte, und im UN-Sicherheitsrat legte Washington sein Veto gegen eine Resolution ein, die den Einsatz chemischer Waffen im Irak verurteilte. Außerdem wies das State Department seine Botschaften an, sie sollten den Giftgasangriff auf die Bewohner von Halabscha den Iranern in die Schuhe schieben.

Auch Frankreich hat Saddam Hussein wegen dieses Verbrechens nicht verurteilt. Heute meint der damalige Außenminister Roland Dumas: „Es stimmt, der Westen hat sozusagen beide Augen zugedrückt, denn wir hielten den Irak im Hinblick auf das Gleichgewicht in der Region für unverzichtbar.“ Und der damalige Verteidigungsminister Jean-Pierre Chevènement meint: „Beim Fall Halabscha darf man den damaligen Kontext nicht vergessen: Der Irak spielte für die weltweite Erdölversorgung eine entscheidende Rolle. Wer diese Region kontrolliert, beherrscht die Stabilität der globalen Finanzmärkte. Man hat also nie die Wahl zwischen Gut und Böse.“

Frankreich war damals zugleich der wichtigste Waffenlieferant des Irak. Über die Rolle der Rüstungsbranche sagt Pierre Marion, der 1981 an der Spitze des französischen Auslandsnachrichtendienstes DGSE (Direction générale de la sécurité extérieure) stand: „Der Waffengroßhändler Dassault hat am meisten von diesem Krieg profitiert und den größten Druck entfaltet. Man besaß dort äußerst wirksame Druckmittel gegenüber der gesamten französischen Führungsspitze.“ 1992 strengte eine NGO namens „Juristen gegen die Staatsräson“ einen Prozess gegen die französischen Waffenproduzenten Dassault, Thomson und Aérospatiale an, in dem die Richter in Paris befanden: Französische Firmen, die Waffen an ein Land verkaufen, das diese gegen die Zivilbevölkerung einsetzt, müssen damit rechnen, dass sie sich eines Tages vor Gericht verantworten müssen.

Heute ist es kein Geheimnis mehr, dass Saddam Hussein ohne die Hilfe westlicher Unternehmen und Regierungen niemals in der Lage gewesen wäre, seine Verbrechen auszuführen oder seine Nachbarn anzugreifen. Das Giftgas kam aus Deutschland, und die irakischen Produktionsfirmen bezogen ihre Ausrüstung aus Frankreich und den USA. Eine Liste aller darin verwickelten Unternehmen gibt es nicht. Im Dezember 2002 beschaffte sich die CIA einen 12 000 Seiten starken Bericht. Als sie ihn nach 48 Stunden zurückgab, fehlten rund hundert Seiten, die später dank einer undichten Stelle an den Waffenhandelsforscher Gary Milhollin gelangten. Diese Dokumente belegen unter anderem, dass die elsässische Firma Protec die Geräte für eine Giftgasfabrik in Samarra lieferte, dass das Pasteur-Institut biologische Kulturen an den Irak verkaufte und dass der US-Konzern Bechtel, der die Wahlkampagnen der Bush-Familie mitfinanziert, an Saddams Irak eine Chemiefabrik lieferte. Weitere Dokumente, die Verstrickungen westlicher Unternehmen belegen, liegen in New York bei den Vereinten Nationen, wo auch die Akten der UNO-Inspektoren im Irak gelagert sind. Doch dieses Material liegt bis auf weiteres unter Verschluss.

Saddam Hussein muss auch mit einer Anklage wegen des Einmarschs in Kuwait im August 1990 rechnen. Damals mutierte der einstige Verbündete über Nacht zum übelsten Tyrannen, von dem George Bush senior erklärte: „Wir haben es mit einem neuen Hitler zu tun.“ Doch viele Iraker und Amerikaner werfen dem damaligen Präsidenten vor, er hätte das Drama verhindern können.

Nach dem Krieg gegen den Iran hatte der schwer zerstörte Irak seine Nachbarstaaten um wirtschaftliche Hilfe beim Wiederaufbau des Landes gebeten. Von Kuwait verlangte Saddam Hussein einen Aufschub für die Rückzahlung der irakischen Schulden. Doch das kleine, auf die USA gestützte Emirat wollte von Verhandlungen über dieses Thema nichts wissen. Dafür erhöhte es plötzlich seine Ölfördermengen. Der Ölpreis sank, die wirtschaftlichen Nöte des Irak wurden größer. Der irakische Diktator wähnte sich als Opfer eines Komplotts: „Saddam muss das Gefühl gehabt haben, mit dem Rücken zur Wand zu stehen. Da seine Drohungen nichts fruchteten, schickte er seine Truppen an die kuwaitische Grenze“, konstatiert der Nahostspezialist Eric Rouleau.

Als die US-Spionagesatelliten das Vorrücken irakischer Panzerverbände meldeten, rieten Regierungsberater dem Weißen Haus zu einer unmissverständlichen Warnung an die Adresse des irakischen Präsidenten.6 Doch George Bush sah in Saddam Hussein vor allem einen wichtigen Handelspartner. Er hörte lieber auf andere Berater, die an einen Bluff glaubten. Eine Warnung Washingtons hat es nie gegeben. Im Gegenteil.

Eine Woche vor dem Einmarsch in Kuwait bestellte Saddam Hussein die US-Botschafterin April Glaspie ein, um ihr mitzuteilen, dass die Haltung Kuwaits einer Kriegserklärung gleichkomme.7 Frau Glaspie erwiderte, die Vereinigten Staaten würden „in einem Grenzkonflikt zwischen dem Irak und Kuwait keine Position beziehen“. Beim Abschied teilte sie dem Diktator mit, dass sie in Urlaub gehen werde. Zwei Tage später äußerte sich der stellvertretende Außenminister John Kelly in ähnlichem Sinne. Auf die Frage, wie sich sein Land verhalten würde, wenn der Irak Kuwait angreife, meinte Kelly: „Wir haben mit keinem der Golfstaaten ein Verteidigungsabkommen.“

Nach Aussagen eines hohen Baath-Funktionärs, Abdel Majid Rafai, soll Saddam Hussein am fünften Tag der Invasion seine Partei darüber informiert haben, dass man den Rückzug aus Kuwait vorbereite. Doch alle Verhandlungsversuche scheiterten wegen Saddam Husseins falscher Taktik und der Unbeweglichkeit der US-Regierung. „Nachdem Bush seine Truppen einmal in Bewegung gesetzt hatte, war ausgeschlossen, dass er und seine Berater den irakischen Diktator entkommen lassen würden. Ihr Ziel war nunmehr ein rascher und überwältigender Sieg“, resümiert der frühere Botschafter der USA in Saudi-Arabien, Jim Akins.8

Der damalige Außenminister James Baker kennzeichnet die wahren Motive dieses Krieges im Rückblick wie folgt: „Es ging darum, den freien Zugang zu den Energiereserven am Persischen Golf sicherzustellen, andernfalls wäre, zumindest damals, die amerikanische Wirtschaft negativ beeinflusst worden. Das heißt, die Leute hätten ihre Jobs verloren, und wenn die Leute ihren Job verlieren, werden sie unzufrieden. Und dann verliert man ihre politische Unterstützung. Das war das Problem und einer unserer Gründe für den Golfkrieg. Auch wenn viele über unsere Erklärungen hergezogen sind und meinten: ‚Ach so! Ihr führt den Golfkrieg also nicht, um Grundsätze zu verteidigen, nicht weil Saddam schlecht ist, weil er grundlos einen kleinen Nachbarn überfallen hat oder Massenvernichtungswaffen entwickelt.‘ Das Gleiche gilt übrigens auch für den gegenwärtigen Irakkrieg.“9

1991, im Anschluss an die „Operation Desert Storm“, ließ Saddam Hussein einen Aufstand der Schiiten niederschlagen, bei dem hunderttausende ums Leben kamen. Was die Zahl der Opfer betrifft, ist dies das schwerste Verbrechen, das man ihm vorhält. Und zugleich die Tat, die Bush am häufigsten erwähnt, wenn er von der Grausamkeit des Diktators spricht. Tatsächlich sind die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten der „Operation Desert Storm“ mitverantwortlich für das Massaker, das sich vor ihren Augen abspielte.

Es war George Bush senior, der die Iraker nach dem 15. Februar 1991 zum Aufstand animierte: „Die irakische Armee und das irakische Volk müssen ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen und den Diktator Saddam Hussein zum Rücktritt zwingen.“ Um jedes Missverständnis auszuschließen, ließ er seine Botschaft über The Voice of America und über Piratensender der CIA im ganzen Irak verbreiten. In dem Glauben, das Regime befände sich nach der Niederlage in Kuwait kurz vor dem Zusammenbruch, wagte die schiitische Bevölkerung den Aufstand, der auch unter den Soldaten der irakischen Armee Anhänger fand. Zur gleichen Zeit erhoben sich im Norden die Kurden.

Die Tragödie nahm ihren Lauf. Zunächst gab Präsident George Bush den voreiligen Befehl, die Feindseligkeiten in Kuwait zu beenden. Die Folge war, dass die meisten irakischen Eliteeinheiten ihrer Zerschlagung entgingen. Als der Oberkommandierende General Schwartzkopf den besiegten Generälen die Friedensbedingungen diktierte, erlaubte er ihnen, auch weiterhin ihre Kampfhubschrauber einzusetzen. Die irakischen Generäle versicherten, die benötige man für den Transport von Lebensmitteln und Offizieren. In Wahrheit wurden sie für die Niederschlagung des Aufstands benutzt.

Die Vereinigten Staaten und ihre Alliierten sahen nicht nur tatenlos zu, sie weigerten sich sogar, die Anführer des Aufstands zu empfangen, die sie um Hilfe baten. Tatsächlich hatten Präsident Bush und seine Berater kein Interesse an einem Erfolg der Rebellen. Sie hofften, nach Saddam Husseins militärischer Niederlage würden seine besiegten Generäle ihn absetzen und durch einen anderen starken Mann ersetzen, der „vernünftiger“ und westlichem Einfluss zugänglicher sein würde. Sie hätten nie damit gerechnet, dass die Bevölkerung dem Aufruf zum Widerstand so wild entschlossen folgen würde. Das Letzte, was die Amerikaner sich wünschten, war ein unkontrollierter Volksaufstand, der das Land entlang ethnischer und religiöser Grenzen spalten, die Destabilisierung der Region vorantreiben und den Einfluss des Iran stärken könnte.

Inmitten des Aufstands erklärte US-Außenminister James Baker: „Es liegt derzeit nicht in unserer Absicht, Gruppierungen zu unterstützen oder mit Waffen zu versorgen, die sich gegen die amtierende Regierung erhoben haben. Wir möchten nicht, dass im Irak ein politisches Vakuum entsteht. Wir möchten, dass seine territoriale Integrität gewahrt bleibt. Und das wollen auch die Partner der Koalition.“ Roland Dumas sagt heute: „Saddam hielt die Iraker mit ausgesprochen brutalen Methoden in Schach, die wir nicht guthießen; aber das war, wie soll ich sagen, Realpolitik.“ Auch der damalige französische Generalstabschef Maurice Schmidt gibt zu: „Zu jener Zeit war uns der Tyrann lieber, als wenn die Religiösen an die Macht gekommen wären.“ So ließen es die Alliierten zu, dass Saddam Husseins Elitetruppen mit den Aufständischen kurzen Prozess machten.

Wir haben in Bagdad Überlebende des Massakers getroffen. Sie erzählen, wie sich US-Truppen, die damals im Süden des Irak standen, geweigert haben, sie mit Lebensmitteln und Waffen zu versorgen. Ihre Vorwürfe bestätigt Rocky Gonzalez, ein Veteran der US Special Forces, der sich im März 1991 im südlichen Irak aufhielt: „In unserer Zone erschienen Aufständische mit chemischen Verätzungen im Gesicht und auf der nackten Haut … Wir hatten Befehl, alle Bitten um militärische oder anderweitige Hilfe abzulehnen. Wir konnten also nichts tun. Ich erklärte ihnen: Präsident Bush sagt, der Krieg ist vorbei.“

Die Amerikaner waren nicht nur Zuschauer. In einigen Fällen halfen sie den irakischen Truppen sogar, die Rebellion niederzuschlagen. Überlebende berichten, US-Truppen hätten sie daran gehindert, auf Bagdad zu marschieren, um Saddam Hussein zu stürzen. Einer von ihnen, und er ist nicht der Einzige, behauptet: „Einer der Soldaten drohte damit, uns zu töten, wenn wir nicht kehrtmachten.“ All diese Aussagen werden von General Najib al-Salhi bestätigt, der von Saddam Hussein den Auftrag hatte, gegen den Aufstand in der Region Bassorah vorzugehen: „An ihren Straßensperren entwaffneten die Amerikaner Aufständische, die uns angreifen wollten. Ich habe sogar gesehen, wie man die Rebellen in Safwan daran hinderte, gegen unsere Stellungen vorzustoßen.“ Außerdem zerstörten die US-Truppen große Waffenlager der geflüchteten irakischen Armee. „Wären wir in den Besitz dieser Waffen gekommen, hätte sich das Blatt zu unseren Gunsten gewendet“, meint einer der Rebellen, „denn Saddam stand damals mit dem Rücken zur Wand.“

Das folgenreichste Verbrechen, das im Irak begangen wurde, geht jedoch auf das Konto der Vereinten Nationen: Die Sanktionen, die nach der Invasion in Kuwait über den Irak verhängt wurden, umfassten ein strenges Handelsembargo, das im Verlauf von zwölf Jahren zwischen 500 000 und 1 Million Kindern das Leben gekostet haben soll. Der Ire Denis Halliday, UN-Koordinator für humanitäre Hilfe im Irak, legte 1998 sein Amt nieder, weil er nicht bereit war, das von ihm als „Genozid“10 bezeichnete Sanktionsprogramm weiter mitzutragen. Er behauptet, das UNO-Sanktionskomitee habe das irakische Gesundheitssystem zerstört, weil man die Einfuhr von Hygieneartikeln, Krankenhausbedarf und lebenswichtigen Medikamenten stets mit der Begründung verhinderte, diese Produkte könnten zur Herstellung von Massenvernichtungswaffen dienen.

Nach 1991 hätten die Sanktionen aufgehoben werden können, doch die UN verlängerten das Embargo, um den Diktator zu zwingen, seine Massenvernichtungswaffen aufzugeben. Aber es traf vor allem die Bevölkerung. 1995 fragte eine Journalistin die US-Botschafterin bei der UNO, Madeleine Albright, ob die Aufrechterhaltung der Sanktionen so wichtig sei, dass dafür 500 000 irakische Kinder sterben müssten. Die Antwort lautete: „Das ist eine sehr schwierige Entscheidung, aber wir meinen, ja, das ist die Sache wert.“

Zwölf Jahre lang hielten die USA an dieser Strategie fest. 1991 bombardierte ihre Luftwaffe gezielt die Wasserversorgung, die Kanalisation, die Kläranlagen sowie die Elektrizitätswerke. Während der gesamten 1990er-Jahre gab es kein frisches Trinkwasser. „Typhus und verschiedenste, durch verunreinigtes Wasser verursachte Krankheiten breiteten sich aus, es war verheerend“, berichtet Denis Halliday. Wusste man in Washington, dass dies für tausende von Menschen den Tod bedeutete? Schon 1991 wiesen die Autoren eines Geheimpapiers für das Pentagon darauf hin, dass die Zerstörung der Wasserversorgung zu Epidemien führen werde.

Zwölf Jahre lang blockierte das Embargo auch die Einfuhr von Ersatzteilen, mit denen man die Wasserversorgung hätte wiederherstellen können. Am Ende hat das irakische Volk die Verantwortung für die Sanktionen nicht Saddam Hussein, sondern den USA und den UN zugeschrieben, resümiert Halliday.

Auch der US-Führung wurde irgendwann klar, dass die wirkungslosen Sanktionen für tausende Menschen den Tod bedeuteten. Dennoch hat sie an ihnen festgehalten. Zur Rechtfertigung meint Thomas Pickering, der die Sanktionen als US-Botschafter bei der UNO verteidigt hatte: „Es gab keine Lösung, die bessere Resultate erbracht hätte.“

Mit dem Sturz Saddam Husseins im April 2003 wurden die Sanktionen endlich aufgehoben. Doch bis heute ist weder die Wasserversorgung noch die Kanalisation, noch sind die medizinischen Einrichtungen instand gesetzt. Und in der Bagdader Kinderklinik und anderen Krankenhäusern des Landes liegen noch immer irakische Kinder, deren Krankheit von Trinkwassermangel herrührt.

deutsch von Christian Hansen

* Journalisten, deren Reportage über Saddam Hussein am 26. 10. 2004 in „90 minutes“, auf Canal+ gesendet wurde.

Le Monde diplomatique vom 12.11.2004, von MICHEL DESPRATX und BARRY LANDO