10.12.2004

Falludscha im November

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Falludscha im November

OB die für den 30. Januar 2005 geplanten Wahlen im Irak stattfinden, ist völlig offen. Die dafür nötige Stabilität, die mit dem Sieg über die Aufständischen von Falludscha hergestellt werden sollte, ist weder im „sunnitischen Dreieck“ noch in Kirkuk gewährleistet. Zudem hat das Vorgehen der US-Elitetruppen in Falludscha die Autorität der Regierung keineswegs gefestigt, sondern die Sunniten des Irak noch feindseliger gemacht. Der Kampf um die angebliche Hochburg der Saddam-Hussein-Anhänger hat damit erneut das Dilemma einer Besatzungspolitik verdeutlicht, die Demokratie mittels fremder Bajonette durchsetzen will.

Von DAVID BARAN *

Die Menschen in Falludscha fühlen sich seit langem ungerecht behandelt. Nach dem Fall von Bagdad übernahm im April 2003 ein Übergangsrat aus Stammesältesten und religiösen Würdenträgern die Führung der Stadt. Man schickte einen Unterhändler zu den Koalitionstruppen, um die Kapitulation vorzubereiten. Von den Truppen Saddam Husseins war, wie fast überall im Norden, nichts mehr zu sehen. Unter dem gestürzten Diktator hatte jede der großen Familien Willkür und Strafaktionen erdulden müssen, nun wollte man sehen, was die Amerikaner zu bieten hatten.

Das sollte sich bald zeigen. Die US-amerikanischen Truppen zeigten so viel Nachsicht mit den Plünderern, dass sich die ohnehin verbreitete Meinung festigte, die USA seien nur einmarschiert, um den Irak zu zerstören und auszurauben. Und die Marines benahmen sich deutlich aggressiver und fordernder als die im schiitischen Süden stationierten Briten. Sie konnten sich Falludscha offenbar nur als feindliches Terrain vorstellen. Und dazu hat sich die Stadt dann auch schrittweise entwickelt.

Eigentlich war die angebliche Bastion der Saddam-Anhänger und ausländischen Terroristen nur eine Kleinstadt, der es unter dem alten Regime etwas besser ging als anderen Städten, beispielsweise Hilla. Falludscha galt als konservativ und sehr religiös, was schon Anfang der 1970er-Jahre den Zorn des Baath-Regimes erregt hatte: Eine von Saddams ersten Strafaktionen richtete sich gegen die ortsansässigen Muslimbrüder. Ihre entwickelte Stammeskultur brachte der Stadt das fragwürdige Privileg, dass einige Würdenträger in den Machtapparat des Regimes aufgenommen wurden – das im Gegenzug völlige Unterwerfung forderte und mit einer Serie von Säuberungen auch durchsetzte. Und im Übrigen sei daran erinnert, dass die Albou Nemer, ein Stamm aus dem Gebiet um Falludscha, zu den erbittertsten Feinden des Hussein-Regimes zählten. Sie stehen jetzt auch mit den Besatzern auf Kriegsfuß.

Wie konnte Falludscha also zu dem „Krebsgeschwür“ werden, das von Vertretern der US-amerikanischen und irakischen Führung unisono beklagt wird? Tatsächlich erscheint die Stadt wie ein Symbol allgemeiner und schwer zu ergründender Probleme. Hier haben sich die Versäumnisse und Unklarheiten der Besatzung überdeutlich und mit weitreichender Wirkung gezeigt.

Falludscha ist das Resultat der falschen Vorstellungen, die man sich vom Regime Saddam Husseins und von seinen angeblichen Verbündeten gemacht hat – und das Ergebnis des harten Kurses, mit dem gegen eine als besonders feindselig geltende Bevölkerung vorgegangen wurde. Die eigentliche Katastrophe geschah im April 2004: Als mit Schaufeln bewaffnete Arbeiter ihrem Hass gegen vier Mitarbeiter eines US-Sicherheitsdienstes freien Lauf ließen und deren Leichen von einer aufgebrachten Menge verstümmelt wurden, rückten die US-Truppen zu einem Vergeltungsschlag auf die Stadt vor. Doch dann wurde diese ihrem Schicksal überlassen. Inzwischen versucht die US-Regierung, die Stadt unter Kontrolle zu halten. Doch die jüngste Offensive war vor allem ein Versuch, die alten Fehler auszubügeln.

Die Gründe, die die USA und die irakische Führung für den Angriff nannten, haben sie selbst durch den Angriff erst hervorgebracht: Die Stadt sei ein Rückzugsraum für bewaffnete Widerstandsgruppen, die sich dort neu formieren und ihre Anschläge vorbereiten könnten. Und schon durch die symbolische Bedeutung, die sie bei den Kämpfen im April gewonnen habe, sei sie zum Sammelpunkt für die Gelder und die Kämpfer geworden, die eine Fortführung der Gewaltakte ermöglichten. Überdies müsse man, mit Blick auf die geplanten Wahlen, der Zentralregierung helfen, ihre Autorität zu festigen und im ganzen Land durchzusetzen. Nicht zuletzt gehe es auch darum, der Bevölkerung ein sinnloses Dauerbombardement zu ersparen und die seit drei Monaten gestörte Grundversorgung wiederherzustellen. Die Menschen in der Stadt seien zwar überwiegend Gegner der US-Präsenz, aber man müsse sie vor der Einschüchterung durch bewaffnete Gruppen schützen, deren Ziele sie vielleicht gar nicht teilten.

In Wirklichkeit ging es bei der Belagerung Falludschas jedoch um den Auftakt zur zweiten Amtsperiode von Präsident Bush. Und viele Iraker sind der Meinung, die US-Truppen hätten vor dem Angriff nur deshalb noch mit Führern der Rebellengruppen verhandelt, weil sie den politisch günstigsten Zeitpunkt für den Beginn ihrer Operation abwarten wollten.

Viele Menschen in Falludscha waren der Auffassung, der US-Armee seien die Folgen für die Zivilbevölkerung egal gewesen, schließlich war ihnen zugesagt worden, dass der Angriff ausbliebe, wenn sie den jordanischen Terroristen Abu Mussab al-Sarkawi ausliefern würden. Der Ministerpräsident wie der Verteidigungsminister des Irak betonten zwar, wie wichtig ihnen die „Befreiung“ der unschuldigen Einwohner sei, doch ernsthafte Vorbereitungen auf den zu erwartenden Flüchtlingsstrom wurden nicht getroffen. Wenn erneut die Freiheit als Kriegsgrund herhalten muss, dann darf man auch erneut auf die Frage zurückkommen, die in der gesamten Operation „Iraqi Freedom“ keine Antwort fand: Wer eigentlich soll für die eigene Sache gewonnen werden, wenn nicht die „Befreiten“?

Womöglich käme es den zivilen Machthabern gerade recht, wenn ein Problem auf militärischem Wege erledigt würde, das zu komplex und schwierig ist, um politisch gelöst zu werden. Und das Militär braucht endlich einen greifbaren Erfolg: den Kampf gegen einen Feind, der sich nicht mehr irgendwie zurückzieht und ungreifbar bleibt, sondern eine Stellung verteidigt – und sei es eine Stadt.

Immerhin machen diese Erwägungen eines deutlich: Die genannten Akteure brauchen einen Feind, und zwar einen Feind mit einem Gesicht. Das ist nicht neu. Erst sollte der Sturz Saddam Husseins ausreichen, um den Irak wieder auf den rechten Weg zu führen; dann sollte Saddams Verhaftung im Dezember 2003 den bewaffneten Widerstand endgültig brechen. Und seitdem muss al-Sarkawi als Quelle allen Übels herhalten.

Genau wie solche austauschbaren Figuren soll nun auch der Kampf um das Gebiet von Falludscha vor allem ein bestimmtes Feindbild kultivieren. Der Feind ist außerhalb der normalen Bevölkerung. Das verlängert aber nur den Irrtum, dass die Niederwerfung des Aufstands gleichbedeutend sei mit der physischen Liquidierung der Gegner. Man wollte also die Bevölkerung von ihren neuen Unterdrückern „befreien“, und dafür schien kein Preis zu hoch: Da konnte man alle Männer zwischen 15 und 55 Jahren in der belagerten Stadt einschließen1 oder den Bewohnern das Wasser abdrehen, um den Widerstand gegen die Marines zu schwächen, oder die Versorgung von Kranken und Verletzten durch Besetzung des Krankenhauses unterbinden (und damit die NGOs auf Distanz halten, die sonst wieder den Mythos der „chirurgischen, präzisen“ Kriegführung beschädigt hätten).

Obwohl in zahllosen Unterweisungsblättern und Erfahrungsberichten der US-Streitkräfte, und vor allem der Marines, darauf hingewiesen wird, dass der Aufstand „aus der Mitte der Bevölkerung“ komme, und es diese zu „gewinnen“ gelte, wenn man den Feind schlagen wolle, dürfte die Befreiung Falludschas eher eine Stärkung des gegnerischen Lagers bedeuten. Solange das Versprechen des Wiederaufbaus nicht eingelöst ist – und das wird gewiss lange dauern –, bleibt die Realität einer zerstörten Stadt, und das Ausmaß dieser Zerstörung dient beiden Seiten als Bestätigung ihrer vorgefassten Einschätzungen: Den Amerikanern beweist es nur, dass das Böse, das ausgetrieben werden musste, auch tatsächlich vorhanden war; den Einwohnern gilt es als der letzte Beweis dafür, dass die USA es speziell auf Falludscha abgesehen haben.

Diese absurde Wechselbeziehung war von Anfang an gegeben: Je eindeutiger die US-Truppen ihre Vorurteile über die Stadt bestätigt fanden und entsprechend auftraten, um so eindeutiger sahen die Einwohner in ihnen nur noch die arroganten, brutalen und ungerechten Besatzer. Damit entwickelte sich parallel zum Mythos vom heldenhaften Widerstand auch die Selbstwahrnehmung in der Rolle des Opfers. Widerstand und Märtyrertum verschmolzen symbolisch in der Idee der Aufopferung: Falludscha opfert sich mutig für den Irak und den Islam. Unzählige Videos und Internetseiten nähren sich aus solchen Vorstellungen, deren Wirkung natürlich nicht auf die umkämpfte Stadt beschränkt bleibt.

So wie die irakisch-amerikanische Offensive angelegt war, konnte sie den Mythos von der Stadt, die sich opfert, nur bekräftigen. Eine militärische Einkreisung, die keine kampflose Kapitulation vorsah, der hohe symbolische Rang der Stadt in der Vorstellung bestimmter bewaffneter Widerstandsgruppen – das Blutbad war fast unausweichlich. Die Erstürmung des Krankenhauses mochte den Effekt haben, die Verbreitung ständig neuer Bilder von blutenden Opfern zu stoppen, doch bei den Irakern musste sie die Anteilnahme am Schicksal der eingeschlossenen Kämpfer und erst recht der Zivilisten verstärken. Die Zerstörung der Infrastruktur wird noch viel Stoff für ganze Serien kalkulierter Bilder abgeben. Zumal es trotz großer Versprechungen keinerlei Pläne für eine Wiederaufbauhilfe und die – ohnehin schwierige – Einrichtung einer funktionierenden Zivilverwaltung gibt.

Falludscha könnte also zum Symbol für die Brutalität der Besatzer und die Unterwürfigkeit ihrer irakischen Helfer werden. Und ein Schaufenster, in dem zu besichtigen ist, was die Staatsführung zu bieten hat, wenn es keine Terroristen mehr gibt, die angeblich jegliche Aufbauarbeit untergraben. Bislang gibt es an dem Ort, wo die angeblich antiirakischen Kräfte ausgeschaltet sind, keine Anzeichen von Stabilität oder gar Wiederaufbau. Und so ist kaum vorstellbar, wie die so genannte Befreiung Falludschas eine misstrauisch gewordene Bevölkerung wieder in den politischen Prozess einbinden soll. Auch bei den jüngsten Kämpfen in Nadschaf und Samarra war von unterstützenden politischen und wirtschaftlichen Maßnahmen weit und breit nichts zu sehen. Aber wen kümmert das, solange man nur den Feind verfolgen darf. Der auch schon längst durch die Lücken entschlüpft ist, die sich ihm aufgetan haben, während alle Aufmerksamkeit und alle militärischen Mittel auf Falludscha konzentriert waren.

deutsch von Edgar Peinelt

* Zurzeit Berater der International Crisis Group (Brüssel); Autor von „Vivre la tyrannie et lui survivre. L‘Irak en transition“, Paris (Mille et une nuits) 2004.

Fußnote: 1 Statt Kombattanten wie Zivilisten in der Stadt einzuschließen, hätten die Amerikaner an den Kontrollpunkten rund um Falludscha die Ausreisewilligen auf Kontakt mit Sprengstoff untersuchen können – es gibt ein einfaches und schnelles Verfahren, um festzustellen, ob eine Person mit Sprengstoff oder Waffen in Berührung gekommen ist. Diese Prozedur wurde erst eingeführt, als die heftigsten Kämpfe vorüber waren.

Le Monde diplomatique vom 10.12.2004, von DAVID BARAN