08.05.2009

Wagemut und die Gunst des Augenblicks

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Wagemut und die Gunst des Augenblicks

Wie in der Nacht des 4. August 1789 Bürger und Adlige zu Umstürzlern wurden von Laurent Bonelli

In „Was tun?“ schrieb Lenin 1902, eine fundamentale gesellschaftliche Umwälzung müsse „nach allen Regeln der Kunst von Leuten organisiert werden, denen die revolutionäre Arbeit zum Beruf geworden ist“.1 Zu ihnen zählte er geschulte Agitatoren, Organisatoren und Propagandisten. Die Bolschewiki übernahmen dieses Modell und fanden später viele Nachahmer – auch bei Anhängern anderer Ideologien. Berufsrevolutionäre spielten eine entscheidende Rolle bei Streiks und Aufständen sowie bei der Entwicklung und Verbreitung von Ideen, deshalb wurden sie zu den Ikonen der Revolutionen.

Diese aktiven Minderheiten gerieten schnell ins Visier der Geheimdienste, die hinter jeder sozialen Bewegung das Treiben subversiver Organisationen mit ganz andere Zielen vermuteten und ihre Zusammenarbeit laufend verbesserten. Die Internationalisierung der Geheimdienste schritt schneller voran als die des Proletariats. Einig waren sich die beiden ansonsten gegnerischen Lager lediglich darin, dass revolutionäre Dynamik aus bewusster, planvoller und organisierter Aktion einiger weniger entsteht.

Der Verlauf der Französischen Revolution indes deutet darauf hin, dass diese Vorstellung unzulänglich ist. Der US-amerikanische Historiker Timothy Tackett2 hat sich mit den im Mai 1789 einberufenen Generalständen – Klerus, Adel und Dritter Stand – beschäftigt und festgestellt, dass die üblichen Aufrührer in ihren Reihen fehlten. Die Versammlung bestand vielmehr aus den respektabelsten Persönlichkeiten des Königreichs: Prinzen, Herzöge, Marquis, Grafen, Barone, Erzbischöfe, Bischöfe, Richter, Anwälte, Ärzte, Hochschulprofessoren, Bankdirektoren. Abgesehen von etwa 100 Abgeordneten des Dritten Standes und einem Teil des Klerus, den Gemeindepfarrern, kamen in Versailles rund 1 000 Vertreter der privilegiertesten Gruppen des Ancien Régime zusammen.

Doch gerade sie waren es, die binnen weniger Wochen die Grundfeste der Monarchie zum Einsturz brachten. Noch Jahre später wunderte sich Pierre-Victor Malouet, Mitglied der Verfassunggebenden Versammlung, wie es zu den Ereignissen von 1789 kommen konnte: „Man fragt sich, wie Männer ohne Plan, ohne klares Ziel, mit ganz unterschiedlichen Absichten, Gewohnheiten und Interessen denselben Weg einschlagen und gemeinsam den totalen Umsturz erreichen konnten.“3

Historiker wie Albert Soboul oder Michel Vovelle vermuten die Gründe im Wesentlichen in der tiefen Finanzkrise des Ancien Régime, in der die Interessen des reichen Bürgertums und der adligen Grundbesitzer aufeinanderprallten. Die Bourgeoisie finanzierte nämlich die ständig anwachsenden Schulden der Monarchie, ohne an der Macht zu partizipieren, die der Adel qua Geburt für sich beanspruchte.

Diese Analyse greift allerdings zu kurz. Sie übersieht die Verkettung der Umstände, die aus den Vertretern der Generalstände schließlich Revolutionäre machte und sie zu dem gemeinsamen Schluss gelangen ließ, dass sie ihre gewohnte politische und institutionelle Welt zum Einsturz bringen mussten.

Die Revolution verlief schubweise, und niemand war in der Lage, sie völlig zu kontrollieren. Es begann damit, dass der Dritte Stand an Stärke gewann. Dafür hatte ungewollt die Haltung von Klerus und Adel gesorgt: Die privilegierten Stände weigerten sich nämlich, mit Vertretern des Bürgertums zusammenzuarbeiten, und nötigten sie zu getrennten Versammlungen. Dadurch entwickelten die Bürgerlichen – trotz aller Unterschiede in Herkunft und Motivation – ein Zusammengehörigkeitsgefühl, mit dem niemand gerechnet hatte. Die konservativste Fraktion der Adligen zog den Zorn der bürgerlichen Abgeordneten auf sich. Ihr Starrsinn und ihr Dünkel ärgerten selbst die gemäßigten Vertreter des Dritten Standes derartig, dass sie beschlossen, auf eigene Faust zu handeln: Am 17. Juni konstituierten sie sich ohne die anderen Stände als „Nationalversammlung“ und riefen sich zum Souverän für die Steuererhebung aus.

Dieser ungeheuerliche Schritt rief den König auf den Plan. Der verkündete, dass er die Versammlung unverzüglich auflösen werde, und ließ Truppen vor dem Saal aufmarschieren. Aber der Eklat war nicht mehr aufzuhalten: Die Abgeordneten nahmen ihre neue Aufgabe ernst und erklärten unter dem Beifall von hunderten Zuschauern aus Versailles und Paris, dass jeder, der die Versammlung auflösen oder die Abgeordneten festnehmen wolle, „ein Kapitalverbrechen begehe“.

Ihr kollektiver Wagemut beschleunigte die Mobilisierung: Ein Großteil des Klerus sowie 47 Adlige erklärten ihren Beitritt zur Nationalversammlung. Der König musste klein beigeben. Er änderte seine Strategie und befahl dem Klerus und dem Adel, gemeinsam mit den Bürgerlichen wieder unter dem Namen „Generalstände“ zu tagen. Die Abgeordneten der drei Stände machten sich daraufhin in zahlreichen Untergruppen und Ausschüssen an die Arbeit. Nach und nach gelang es ihnen, die Meinungsverschiedenheiten zu schlichten, die sie noch wenige Tage zuvor gegeneinander in Stellung gebracht hatten.

Während sich die Lage in Versailles allmählich beruhigte, geriet die Situation im Rest des Landes außer Kontrolle. Am 12. Juli kam es in Paris zu einem gewalttätigen Aufstand. Am 14. Juli stürmten die aufgebrachten Massen die Bastille. Es gab etliche Fälle von Lynchjustiz (darunter der Intendant von Paris und sein Schwiegersohn, die beide für die Versorgungsengpässe in der Stadt verantwortlich gemacht wurden). Plünderungen und Aufstände erreichten nun auch die Provinz und führten zur „Grande Peur“ (Große Furcht). Der König war nicht mehr Herr der Lage. Die Abgeordneten waren beunruhigt – und teilweise entsetzt – über die Geschehnisse und debattierten mehrfach darüber, wie man den Unruhen ein Ende setzen könnte. Die historische Versammlung vom 4. August 1789 begann zunächst mit der Diskussion über einen Erlass zur Wiederherstellung von Recht und Ordnung.

Mitten in der Debatte schlossen sich zur allgemeinen Verblüffung zwei Vertreter des Hochadels, der Vicomte de Noailles und der Duc d’Aiguillon, den Forderungen des Dritten Standes an. Sie schlugen einen Verzicht auf die Feudalrechte und die Einführung einer einkommensbezogenen Steuer vor. Ihnen folgte der Duc du Châtelet, der als Hofadliger und Pair von Frankreich dem König sehr nahe stand. Noch bei den Juli-Unruhen hatte er als Oberkommandeur der königlichen Truppen mit aller Härte durchgegriffen. Jetzt erklärte er sich öffentlich bereit, gegen eine „angemessene Entschädigung“ auf seine Rechte als Grundbesitzer zu verzichten.

Daraufhin verbreitete sich in der Versammlung eine Art Euphorie, und nach und nach überboten sich die Abgeordneten mit ihren Vorschlägen: kostenloser Zugang zur Justiz, Verzicht des Klerus auf den Kirchenzehnten, Abschaffung des adligen Jagdprivilegs, Steuer- und Zollreform, Abschaffung verschiedener Provinz- und Stadtprivilegien. Um zwei Uhr morgens gab es praktisch nichts mehr zu verteilen. Es war nur ein kurzer Moment gewesen, eine seltsame Mischung aus Idealismus, Aufregung und Brüderlichkeit, die die Abgeordneten aller Stände geeint hatte. Ein Moment, über den der Abgeordnete Pellerin spät in der Nacht in sein Tagebuch schrieb: „Die Nachwelt wird nicht glauben können, was die Nationalversammlung binnen fünf Stunden geleistet hat. (Sie) hat dem Missbrauch von Vorrechten ein Ende gesetzt, die neunhundert Jahre lang bestanden und die hundert Jahre Aufklärung erfolglos bekämpft hatten.“4

Wenig später brachen die Konflikte an anderer Stelle auf, etwa als es um die Verstaatlichung der Güter des Klerus ging oder als die Nationalversammlung am 19. Juni 1790 die Abschaffung des Erbadels beschloss. Dieser Beschluss trieb viele Adlige in die Reihen der Emigrantenarmeen, die die Revolution bekämpften. Dennoch illustriert die Nacht des 4. August 1789 eindrücklich, wie sich in Krisensituationen eine Eigendynamik entwickeln kann, die ein Parlament dazu bringt, revolutionäre Positionen zu beziehen, die wenige Wochen zuvor noch vollkommen undenkbar gewesen wären.

Fußnoten: 1 Wladimir Iljitsch Lenin, „Was tun? Kapitel IV: Die Handwerklerei der Ökonomisten und die Organisation der Revolutionäre“, Stuttgart 1902. 2 Timothy Tackett, „Becoming a Revolutionary. The Deputies of the French National Assembly and the Emergence of a Revolutionary Culture (1789–1790)“, Philadelphia (Penn State University Press) 2006. 3 a. a. O., S. 113. 4 a. a. O., S. 168.

Aus dem Französischen von Veronika Kabis

Laurent Bonelli ist Politologe an der Universität Paris X Nanterre.

Le Monde diplomatique vom 08.05.2009, von Laurent Bonelli