14.01.2005

Das große Kilometerfressen

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Das große Kilometerfressen

In unserer Gesellschaft wird zu viel transportiert. Menschen fahren vom Wohnort zur Arbeitsstelle, in den Urlaub, zum Einkaufen und zurück, Güter werden von einer Fertigungsstätte zur anderen gebracht, bis sie endlich beim Verbraucher landen.

Von PHILIPPE MÜHLSTEIN *

DIE verschiedenen Verkehrsmittel unterscheiden sich stark nach ihrer Energieeffizienz, und die „Straße“ schneidet im Hinblick auf Energieverbrauch eher schlecht ab. Je Energieeinheit und unter Berücksichtigung der Fahrzeugauslastung kann ein Reisender mit einem Hochgeschwindigkeitszug 4,5-mal so weit fahren wie mit dem Auto und 9,5-mal so weit wie mit dem Flugzeug. Im städtischen Nahverkehr kann per Straßenbahn eine 11-mal, per Bus eine 2,5-mal so lange Strecke wie mit dem Pkw zurückgelegt werden.

Mit ebenso hohem Energieverbrauch lässt sich eine Tonne Frachtgut auf dem Seeweg fünfmal so weit transportieren wie mit dem Lkw, auf der Schiene viermal so weit, in der Binnenschifffahrt zweimal so weit. Gegenüber dem inländischen Luftfrachtverkehr ist der Lkw-Transport aber immerhin zwanzigmal so sauber. Im Personen- wie im Frachtverkehr sind inländische Kurzstreckenflüge ein energie- und umweltpolitischer Unsinn, der freilich immer mehr Schule macht.

Der Einbau von Klimaanlagen in Pkws und das insgesamt wachsende Fahrzeuggewicht – Resultat der gestiegenen Ansprüche an Komfort und Sicherheit –, aber auch die Allrad-Mode heben die bedeutenden Fortschritte, die im Motorenbau der letzten zwanzig Jahre hinsichtlich des Kraftstoffverbrauchs und der CO2-Emissionen erzielt werden konnten, mehr als auf. Im Europa der Fünfundzwanzig nahm der Personen- und Güterverkehr auf der Straße zwischen 1990 und 2002 um 20 beziehungsweise 30 Prozent zu, wodurch die Emission von Treibhausgasen in der EU um mehr als ein Fünftel stieg.

Dabei ist der internationale See- und Luftverkehr in den nationalen Emissionsstatistiken noch gar nicht berücksichtigt. Weltweit beläuft sich die durch den Luftverkehr verursachte CO2-Emission auf schätzungsweise 3 Prozent der Gesamtemission und auf 13 Prozent der globalen Verkehrsemission. Und der Luftverkehr nimmt seit 1995 jährlich um 6 bis 7 Prozent zu.

Das Verkehrsaufkommen nimmt explosionsartig zu, was seit Jahrzehnten eine nichtnachhaltige Entwicklung bedeutet, die in unmittelbarem Zusammenhang mit der neoliberalen Globalisierung steht: Was in den Ländern mit den geringsten Sozial-, Fiskal- und Umweltauflagen erzeugt wird, muss möglichst kostengünstig in die kaufkraftstarken Verbraucherzonen transportiert werden, damit der Profit nicht buchstäblich auf der Strecke bleibt.

Der Transportsektor wurde also liberalisiert, und ein Ende dieser Politik, die sämtliche Verkehrsmittel betrifft, ist nicht absehbar. Möglich gemacht wurden die niedrigen Transportkosten durch Sozialdumping – Seeleute und Lkw-Fahrer sind die Sklaven der Gegenwart –, durch die Zunahme des Transportvolumens, aber auch durch Umweltbelastungen bis hin zu Tankerhavarien. Staatseigene Fluggesellschaften wurden privatisiert, während die Zahl der Billigfluggesellschaften in die Höhe schnellt.

Die Struktur des Güter- und Personenverkehrs wirkt sich unmittelbar auf die Gestaltung unserer Landschaften und Städte aus und prägt auch unsere Lebensweise. Im Zuge der „funktionalistischen“ Stadtplanung nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurden die Städte in „Zonen“ aufgeteilt: Wohngebiete am Stadtrand, Dienstleistungen im Zentrum, Industriegebiete und Handelszentren an der äußersten Peripherie. Diese Orientierung zwingt die Anwohner zu längeren und häufigeren Fahrtwegen vor allem zwischen Wohnung und Arbeit.

Bereits in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts orientierte sich die Raumplanung am Prinzip der funktionalen Teilung in landwirtschaftliche, industrielle, kommerzielle und touristische Entwicklungszonen. Die Bedeutung einer kohärenten Regionalentwicklung, die geografischen Gegebenheiten und die schädlichen Auswirkungen des enormen Verkehrswachstums wurden hingegen nicht ausreichend berücksichtigt. Komplementär zu dieser künstlichen Funktionsteilung wurde das Autobahnnetz ausgebaut, wie es hieß, zur „Förderung der lokalen Entwicklung“ und einer „besseren Anbindung des Umlands“. Übersehen wurde dabei, dass eine Autobahnanbindung wegen der starken Sogwirkung von Städten vielfach mit einer Ausdünnung der Umlandgemeinden einhergeht.

Moderne Logistikstrategien wie „Lean Production“, „bedarfsorientierte Lieferung“ oder „Just-in-time-Lagerhaltung“ erhöhen das Verkehrsaufkommen durch eine Minimierung der Lagermengen. Die Kostensenkung in der Waren- und Beschaffungslogistik wird dadurch erkauft, dass riesige Gütermengen ständig „auf Achse“ sind. Hier zeigt sich auch ein Nebenaspekt der so genannten Lokalisierung der Produktion: Die Produktionskette wird nach rein betriebswirtschaftlichen Kriterien in oft weit voneinander entfernte Kleinsteinheiten zerlegt, deren Standort sich danach richtet, wo die Sozialabgaben, Steuern und Umweltauflagen jeweils am günstigsten sind.

So errechnete das Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie 1993, dass die diversen Roh- und Hilfsstoffe zur Herstellung eines Bechers Erdbeerjoghurt eine Gesamtstrecke von 3 500 Kilometern zurücklegen, bis sie am Produktionsort ankommen. Bekannt ist auch die Geschichte eines deutschen Industriellen, der seine Kartoffeln nach Italien karrt, dort waschen und in Stücke schneiden lässt, um sie anschließend auf den deutschen Markt zu bringen. Oder die von den dänischer Krabben, die per Lkw nach Marokko gelangen, dort kostengünstig geschält werden und dann zurück nach Dänemark und endlich an ihren Verkaufsort transportiert werden.

Möglich ist diese Art betriebswirtschaftlicher „Optimierung“ nur aufgrund des Preisverfalls im Transportsektor und aufgrund eines globalen Überangebots von Transportleistungen. Dadurch werden die betriebswirtschaftlichen Entscheidungen in der Industrie wie im Handel grundlegend beeinflusst. Das Überangebot entstand zum einen aus der bereits erwähnten Deregulierung des Sektors, zum anderen aber auch daraus, dass die erheblichen Folgewirkungen des Güterverkehrs für Mensch und Umwelt bei den Auftraggebern nicht als Kosten zu Buche schlagen. Rollende Lagerhallen dienen also der „Vergesellschaftung“ von Produktionskosten.

Die verheerenden Auswirkungen des wachsenden Verkehrsaufkommens auf den Energieverbrauch, die Umwelt und die sozialen Verhältnisse machen eine grundlegende Neuorientierung notwendig. Der gesamtwirtschaftliche Stellenwert des Transportsektors muss neu definiert werden. Politische Entscheidungen sind hier gefragt. Im Folgenden eine Reihe von Vorschlägen.

Die Bürger und Volksvertreter müssen bei verkehrspolitischen Entscheidungen ein Mitspracherecht erhalten. Verkehrspolitische Entscheidungen werden von technokratischen Gremien vorbereitet und durchgedrückt. Parlamentarier können mit Infrastrukturversprechen auf Wählerfang gehen, kritische Bürger können Demonstrationen und Blockaden organisieren – darin kann sich die Interessenvertretung in der Verkehrspolitik nicht erschöpfen. Wer sich Nachhaltigkeit ohne wirkliche Mitbestimmung der Verkehrsmittelbenutzer und der Anwohner vorstellt, kann schwerlich als seriös gelten. Seit fünfzehn Jahren treibt die EU-Kommission die „Liberalisierung“ des Transportsektors voran, ohne auch nur den geringsten Beweis für die Vorteilhaftigkeit dieser Politik vorzulegen. Hier wäre die Öffentlichkeit gefordert, diese Politik in demokratischer Diskussion zu überprüfen.

Öffentliche Dienstleistungen sind neu zu bestimmen. Um der marktwirtschaftlichen Entfremdung etwas entgegenzusetzen, brauchen wir eine politische Bewertung öffentlicher Dienstleistungen, die Gesellschaft und Wirtschaft zusammendenkt. Als „öffentliche Dienstleistung“ hat dabei jede Dienstleistung oder materielle Produktion zu gelten, die in demokratischer Entscheidungsfindung als solche definiert wurde. Offenkundig nicht in diese Richtung weist die Europäische Verfassung, die den Regeln des Wettbewerbs unterwirft, was sie als „Dienstleistungen von allgemeinem Interesse“ (sic) bezeichnet.

Fahrtwege sind zu minimieren. Das Auswuchern der Städte ins Umland (die EU schreibt kurz: Verstädterung) ist mit dem Schutz der Umwelt und einer nachhaltigen Verkehrspolitik unvereinbar, da den Umlandbewohnern für die Fahrt zur Arbeit, zum Einkaufen und zu Vergnügungsstätten keine andere Wahl als das Auto bleibt. Eine neuerliche Wohnraumverdichtung ist unerlässlich. Die Stadt erscheint heute wieder als lebbare Alternative; wo das nicht der Fall ist, muss diese Rekonstruktion als politische Aufgabe begriffen werden.

Zur Begrenzung des Energieverbrauchs und der verkehrsbedingten Umweltverschmutzung sind die Besteuerung fossiler Brennstoffe und die Reglementierung der CO2 -Emissionen erfolgversprechender und bieten ein höheres Maß an Kontrolle durch die Allgemeinheit als die künstliche Schaffung eines „Marktes für handelbare Emissionsrechte“, wie er logischerweise von Neoliberalen vorgeschlagen und von einer gewissen Spielart des grünen Neokapitalismus unterstützt wird. Der Steuersatz steigt dabei über mehrere Jahre schrittweise an, um den Produktions- und Transportsystemen Zeit zur Anpassung zu geben.

Der Einsatz moderner Technologie, so nötig er auch sein mag, wird freilich nicht ausreichen, um die skizzierten Ziele zu erreichen, wenn das Verkehrsaufkommen weiterhin steigt. Aus diesem Grund bleibt es vordringlich, die Billigtarife im Transportwesen abzuschaffen. Steigen müssen die Preise vor allem in Sektoren, die von Sozialdumping profitieren. Für Seeleute und Lkw-Fahrer sind menschenwürdige Arbeitsbedingungen durchzusetzen. Die Angleichung hat nach oben hin zu geschehen, wobei die Europäische Union mit gutem Beispiel vorangehen könnte – wenn die Europäische Verfassung dem nicht im Wege stünde.1

Anders als häufig verlautbart, investieren Staat und Kommunen in Frankreich nicht zu wenig in die Verkehrsinfrastruktur. In konstanten Werten des Jahres 2003 beliefen sich die Gesamtinvestitionen zwischen 1980 und 2003 auf 310 Milliarden Euro. Zwei Drittel hiervon flossen allerdings in den Straßenbau. Nicht höhere Ausgaben sind daher vonnöten, sondern eine Umorientierung auf umweltschonende und Energie sparende öffentliche Verkehrsmittel ist überfällig. Zumindest in bestimmten Fällen sollte die Beförderung kostenlos sein. Die Volksvertreter auf kommunaler Ebene könnten in Sachen Verkehrspolitik und Städteplanung durchaus mehr Initiative zeigen und durchaus auch Einfluss nehmen – vorausgesetzt, die Bürger üben den nötigen Druck aus.

Die Bürger müssen sensibilisiert werden – in Frage zu stellen ist in erster Linie die Gleichung „Wohlstand + Moderne = viele Fahrtwege“. Die gewiss nicht leichte Aufgabe besteht darin, ein halbes Jahrhundert mentale Konditionierung aufzubrechen, die unsere Vorstellungen von Gesellschaft tief geprägt hat. Wir brauchen, recht besehen, einen Kulturwandel.

Der Vorschlag, die Zahl der Fahrtwege durch Tariferhöhungen zu senken, mag schockieren. Doch unter „marktwirtschaftlichen“ Ausgangsbedingungen kann nur so erreicht werden, dass die Transportkosten nicht mehr die Rolle der Anpassungsvariablen spielen, die ihnen von der neoliberalen Ökonomie zugedacht ist. Dass wir eine stärkere Regulierung und Relokalisierung der Wirtschaftstätigkeit brauchen, diese Ansicht gewinnt in der Öffentlichkeit langsam an Boden. Sie auch politisch durchzusetzen wird schwierig werden, denn die Bürger denken oft weiter als ihre parlamentarischen Vertreter.

deutsch von Bodo Schulze

* Ingenieur, wissenschaftlicher Berater von Attac.

Fußnote: 1 Artikel III-210 der Europäischen Verfassung schließt für die Sozialpolitik der Union „jegliche Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten“ aus. Text im Internet: europa.eu.int/eur-lex/lex/LexUriServ/site/de/oj/2004/c_310/c_31020041216de00550185.pdf.

Le Monde diplomatique vom 14.01.2005, von PHILIPPE MÜHLSTEIN