14.01.2005

Im Recht und im Gefängnis

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Im Recht und im Gefängnis

Von THIERRY PAQUOT *

EINE Fabrik besetzen, um den Abtransport der Maschinen an einen ausländischen Standort zu verhindern; genveränderte Pflanzen ausreißen, um die Gesundheit der Menschen zu schützen; schweigend in einer Versammlung sitzen, eine Straße durch ein friedliches Sit-in blockieren – diese politischen Aktionen rangieren unter dem Begriff „ziviler Ungehorsam“. Und nicht erst seit gestern.

An einem Julitag des Jahres 1846 traf Henry David Thoreau in seiner Heimatstadt Concord, Massachusetts, den als Steuereinnehmer tätigen Gendarmen Samuel Staples, der ihn aufforderte, unverzüglich seine Steuern zu bezahlen, und sich sogar erbot, das Geld notfalls für ihn auszulegen. Thoreau, der seit fast zwei Jahren in einer Blockhütte mitten im Wald lebte und nur in die Stadt gekommen war, um seine Schuhe vom Schuster zu holen, war einigermaßen fassungslos. Nein, sagte er, er weigere sich grundsätzlich, Geld an einen Staat abzuführen, mit dessen Politik er absolut nicht einverstanden sei und dessen Krieg gegen Mexiko er unter keinen Umständen mitfinanzieren wolle. Worauf er festgenommen wurde und die Nacht auf der Polizeiwache verbringen musste, obwohl seine Steuerschuld von einer mysteriösen Dame – mit Sicherheit seiner Tante, Maria Thoreau – beglichen wurde.

In dem Städtchen, das den reformerischen Ideen des Philosophen Ralph Waldo Emerson (1803–1882) anhing und wo eine Gruppe von Intellektuellen sich um die Zeitschrift The Dial scharte, war Thoreau kein Unbekannter. Er musste wohl oder übel berichten, was geschehen war, und sein Handeln begründen. So verfasste er einen Text über die Rechte und Pflichten des Individuums gegenüber einer Regierung („The Rights and Duties of the Individual in Relation to Government“), den er im Januar 1848 bei einer Versammlung in Concord vortrug. Elizabeth Peabody – eine Schwägerin des Romanschriftstellers Hawthorne – veröffentlichte ihn im Mai 1849 unter dem Titel „The Resistance to Civil Government“ (Widerstand gegen die Zivilregierung)1 in ihrer Zeitschrift Aesthetic Papers. Dieser polemische Text geriet jedoch bald nach seiner Erstveröffentlichung in Vergessenheit, und Thoreau selbst kam nie mehr darauf zurück. In die Gesammelten Werken, die nach seinem Tode 1862 erschienen, wurde er unter dem Titel „Civil Disobedience“ aufgenommen.

Leo Tolstoi, der den Text kannte, rief in einem offenen Brief Anfang des 20. Jahrhunderts in der North American Review die Amerikaner auf, sich an der mutigen Haltung eines Einzelnen, der sich gegen den Staat zu stellen gewagt hatte, ein Beispiel zu nehmen. Kurz zuvor hatte sich ein indischer Student in Oxford namens Mohandas K. Gandhi von einem Vegetarierkollegen, dem Thoreau-Biografen Henry S. Salt, den Text ausgeliehen. Gandhi war begeistert, und nachdem er sich in Südafrika als Rechtsanwalt niedergelassen hatte, veröffentlichte er die Schrift am 26. Oktober 1907 in seiner Zeitschrift Indian Opinion.

Thoreau war beeinflusst durch einen anderen Bürger von Concord, Bronson Alcott, dessen Haltung seine Tochter, die Schriftstellerin Louisa May Alcott, in „Little Women“ (in der Person des Doktor March) nachgezeichnet hat: Er erklärte öffentlich, er werde so lange keine Steuern mehr entrichten, bis die Regierung der Sklaverei ein Ende setze. Es gab also damals schon die Vorstellung, dass sich ein einzelner Bürger aus Treue zu den Verfassungsgrundsätzen gegen die eigene Regierung stellen kann.

David Thoreau zeigt gleich in den ersten Zeilen seines Pamphlets auf, inwiefern das Bestehen jeder Art von Regierung mit dem Mangel an Reife und Gewissenhaftigkeit der Bürger zu tun hat. „Nur eine einzige Verpflichtung bin ich berechtigt einzugehen, und das ist, jederzeit zu tun, was mir recht erscheint“, schreibt er. Später konkretisiert er dieses moralische Prinzip mit der Erklärung, eine Nation, die sich zur „Freiheit“ bekenne, könne nicht zugleich ein Sechstel ihrer Bevölkerung versklaven und darum sei es „nicht zu früh für ehrliche Leute, aufzustehen und zu rebellieren“.

Da es ungerechte Gesetze gebe, sei der richtige Ort für jeden Rechtschaffenen das Gefängnis, bei den Opfern der ungerechten Regierung. Staatsdiener, die dem Guten dienen wollen, sollten den Dienst quittieren. Steuern zur Instandhaltung der Straßen oder zum Bau von Schulen war Thoreau gerne bereit zu zahlen, aber er lehnte es ab, einen Krieg zu finanzieren, der die Südstaaten und somit ihre Sklavereipolitik stärkte. Sein Wunsch nach Frieden verband sich mit seiner abolitionistischen Überzeugung. Ein Staat, der Gerechtigkeit für alle und Achtung vor dem Individuum anstrebt, kündigt, so Thoreau, sein eigenes Verschwinden an. Der Wunsch nach Gesetzen, denen die Bürger gehorchen müssen, ist in seinen Augen ein Zeichen von Unterwürfigkeit, das der Vorstellung von der Einzigartigkeit jedes Menschen widerspricht.

Die Philosophin Hannah Arendt untersuchte in einem Aufsatz Thoreaus Text im Hinblick auf die Bürgerrechtsbewegungen in den USA.2 Thoreau, so meint sie, habe nicht aufgezeigt, was zu tun wäre, um die Ungerechtigkeiten zu korrigieren, sondern, wie man sie vermeiden könne. Im Einvernehmen mit Montesquieu glaubt sie, es gebe einen „Geist der Gesetze“, der von Land zu Land variiere; der zivile Ungehorsam, so argumentiert sie, sei „dem Ursprung und Gehalt nach ein amerikanisches Phänomen“. Sie erkennt darin das Ideal des „Konsenses“ und das dazugehörige „Recht auf Dissens“. Dies seien die Grundlagen jener „Kunst, sich zu assoziieren“, die schon de Tocqueville an den Siedlern und ihren Nachkommen rühmte.

Eine Regierung, die in Vietnam einen Krieg führt, den sie nicht erklärt hat, und die in der Vergangenheit nicht in der Lage war, Schwarzen und Weißen gleiche Recht zu gewährleisten, ruft, so Arendt, zivilen Ungehorsam auf den Plan. In aller Welt häuften sich – als Ergebnis institutioneller Fehlleistungen – Ausnahmesituationen, in denen Hannah Arendt die Tendenz einer Verallgemeinerung des Dissenses erkennt, der sich in Widerstand verwandelt hat.

Einen solchen allgemeinen Widerstand hatte schon Gandhi mit dem von ihm geprägten Begriff „Satyagraha“ – Hingabe an die Wahrheit – propagiert. Satyagraha sei nichts anderes als „Wahrheit und Sanftmut im politischen Leben“ und stehe für Gewaltlosigkeit, nicht aber für Passivität. Ziviler Ungehorsam dagegen sei „ein ziviler Bruch unmoralischer Verordnungen, die per Gesetz erlassen worden sind“. Seine Gefängnisaufenthalte, seine Beständigkeit in dieser redlichen Haltung, seine Offenheit für andere und seine Achtung jedes einzelnen Menschen – auch seiner Feinde – brachten Gandhi eine große Anhängerschaft. Doch sein Kampf ist offensichtlich endlos, denn wie es aussieht, haben ungerechte Gesetze, korrumpierte Institutionen und bestechliche Entscheidungsträger eine erschreckende Fähigkeit zur ständigen Selbsterneuerung.

Zu manchen Zeiten und unter manchen Machtverhältnissen ist ziviler Ungehorsam die einzig mögliche politische Aktionsform. Dies wusste der dänische König Christian X., als er den Nazis nach der Besetzung seines Landes drohte, sich den gelben Stern selbst an den Mantel zu heften, wenn die Juden ihn tragen müssten. Viele Dänen waren bereit, seinem Beispiel zu folgen, und die Nazis gaben nach – was nicht verhinderte, dass es andere Repressalien gab. In Frankreich stellte der Whitman-Spezialist Léon Bazalgette 1894 Thoreaus Schrift im Magazine International vor, 1921 veröffentlichte er eine Übersetzung. Diese verwendete Romain Rolland für sein „Vie de Vivekananda“, und Jean Giono inspirierte sie in den 1930er-Jahren zu seinem Antikriegspamphlet.

In Frankreich waren es also zuallererst die Schriftsteller, die von Thoreau geprägt wurden, es folgten die Anarchoaktivisten und schließlich, über Gandhi und das mystische Indien, die Schüler des Gründers der Arche-Kommunen, Lanza del Vastos (1901 bis 1981). „Ungehorsam“ ist ein Wort, das von Politikern und politisch engagierten Vordenkern selten in den Mund genommen wird. In jüngster Zeit jedoch haben einige Globalisierungsgegner die Idee aufgegriffen und begonnen, im Namen der Achtung vor dem Menschen Recht und Gesetz zu hinterfragen. Wie können Politiker so hartnäckig darüber hinwegsehen, dass bestimmte Gesetze überholt sind, dass die Bedingungen sich gewandelt haben, dass manche Gesetze einzelnen Menschen oder Gruppen Unrecht zufügen, dass sie im Namen eines wirklichkeitsfremden Staates Gewalt ausüben? Das Recht auf Dissens und der zivile Ungehorsam sind für alle Individuen, die ein Gewissen besitzen, eine Pflicht.

deutsch von Grete Osterwald

* Professor für Philosophie an der Universität Paris-XII, Autor von „Demeure terrestre. Enquête vagabonde sur l‘habiter“, Paris (Les Éditions de l‘Imprimeur) 2005.

Fußnoten: 1 Die deutsche Erstausgabe mit dem Titel „Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat“ erschien 1966 als Handpressendruck im Galerie Patio Verlag, Frankfurt am Main; eine zweisprachige Neuausgabe, deutsch von Walter E. Richartz, 2004 im Diogenes Verlag, Zürich. 2 Hannah Arendt, „Ziviler Ungehorsam“, in: „H. Arendt, ‚Zur Zeit. Politische Essays‘ “, herausgegeben von Marie Luise Knott, Berlin (Rotbuch) 1986.

Le Monde diplomatique vom 14.01.2005, von THIERRY PAQUOT