11.02.2005

Was eine Naturkatastrophe zur Katastrophe macht

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Was eine Naturkatastrophe zur Katastrophe macht

Die Katastrophe in Südasien hat eine weltweite Hilfsbereitschaft ausgelöst. Wichtiger wäre es, ökologische und ökonomische Lehren, etwa zur Erhaltung der Mangrovenwälder, zu ziehen. Und die Menschen in Afrika und Asien, die von Katastrophen am meisten bedroht sind, zum nachhaltigen Wirtschaften zu befähigen.

Von FRÉDÉRIC DURAND *

BEWEGUNGEN der Erdkruste und vulkanische Aktivitäten sind seit je Ursache von Zerstörungen. Die betroffenen Regionen reichen von Kalifornien über die Côte d’Azur bis nach Japan. Besonders gefährdet sind jedoch die asiatischen Länder, weil hier vier tektonische Platten aufeinander treffen. Zwischen 1990 und 2000 erlebte Südostasien mehr als 100 Erdbeben mit einer Stärke von über 6,5 auf der Richterskala. Beim Ausbruch des zwischen Sumatra und Java gelegenen Vulkans Krakatau im Jahre 1883 kamen 37 000 Menschen ums Leben, und die Auswirkungen waren im gesamten Indischen Ozean zu spüren. Allein auf dem indonesischen Archipel gibt es 130 aktive Vulkane. Seit Anfang der 1980er-Jahre mussten dort infolge kleinerer Eruptionen rund 150 000 Menschen ihren Wohnort wechseln.1

Als sich die tektonischen Platten vor Sumatra am 26. Dezember um über 20 Meter verschoben und dabei die Energie von 30 000 Atombomben freisetzten, war dies geologisch gesehen nichts Außergewöhnliches. Die erschreckend hohe Zahl der Opfer hingegen war nicht nur Schicksal. Mit der Verdichtung menschlicher Siedlungen und ihrer Konzentration an der Küste steigt tendenziell auch die bei solchen Katastrophen zu erwartende Zahl der Opfer. In Ostasien leben über 70 Prozent der Bevölkerung in küstennahen Gegenden, weil das Meer ihnen Nahrung, Arbeit und Einkommen bietet. Für die verarmten Bevölkerungsschichten ist Fisch im Unterschied zu anderen tierischen Proteinquellen vergleichsweise billig. Doch gerade am Meer lebt ein Großteil der Bevölkerung in informellen, besonders gefährdeten Siedlungen, und die Überbeanspruchung der Naturressourcen verursacht erhebliche Umweltschäden.2

Die Mangrovenwälder, auch tropische Gezeitenwälder, wurzeln in salzhaltigem Wasser und können als Puffer zwischen Mensch und Meer fungieren – vorausgesetzt, sie werden nicht abgeholzt. Tatsächlich mussten sie aber in weiten Teilen Asiens der Shrimpszucht Platz machen, deren Erzeugnisse vornehmlich in die OECD-Länder exportiert werden. Mangrovenwälder schützen vor Bodenerosion und Überschwemmungen, sie mindern die Wucht von Wirbelstürmen und Flutwellen, und sie leisten durch Bindung von Kohlendioxid einen Beitrag zur Verlangsamung der Klimaerwärmung. Seit Beginn der 1950er-Jahre wurden infolge von Handel und „Entwicklung“ zwei Drittel der südostasiatischen Mangrovenwälder zerstört.

Ähnliches gilt für die asiatischen Korallenriffe, die durch Dynamitfischerei, unkontrollierten Küstenbau und die Verwendung von Zyanid beim Fangen tropischer Fische bereits zu 80 Prozent bedroht sind.3 Hinzu kommen die Auswirkungen der Klimaerwärmung, denn Korallen reagieren sehr empfindlich auf ein Ansteigen der Meerestemperatur. Zwar hätten natürlich auch intakte Korallenriffe und Mangrovenwälder den Tsunami nicht aufhalten können, aber sie hätten die Auswirkungen der Flutwelle reduziert und würden bei Katastrophen geringeren Ausmaßes eine wichtige Rolle spielen.

Während die Pazifikanrainer Japan und Vereinigte Staaten bereits 1949 ein Tsunami-Beobachtungszentrum auf Hawaii einrichteten, gibt es Vergleichbares für den Indischen Ozean bis heute nicht. Das Zentrum auf Hawaii hat die Erschütterung am 26. Dezember zwar registriert und konnte die zu erwartende Flutwelle auch vorhersagen – sie brauchte zwei Stunden, um Sri Lanka und Indien zu erreichen –, aber das Zentrum verfügte nicht über die nötige Infrastruktur, um seine Erkenntnisse rechtzeitig weiterzugeben.

Fatal war sicherlich, dass sich das Seebeben an einem Sonntagvormittag ereignete. Auf der anderen Seite offenbarte es aber auch, wie wenig die meisten Regierungen auf solche Katastrophen vorbereitet sind. Zudem war manche Katastrophenprävention offiziell unerwünscht. So musste der Leiter des meteorologischen Dienstes in Thailand seinen Hut nehmen, weil er aus Angst vor negativen Auswirkungen auf den Tourismus nichts unternahm. Er hatte gute Gründe: Ein Amtsvorgänger, der sich wegen der Tsunami-Gefahr für ein Bauverbot unmittelbar entlang der Küste ausgesprochen hatte, wurde von der Regierung wegen Panikmache strafversetzt – und kehrte jetzt an die Spitze des meteorologischen Dienstes zurück.4 Doch das Problem ist damit nicht gelöst. Gerade der Tourismus, der bei ausbleibendem Wachstum oft als Allheilmittel gilt, verfolgt kurzfristige Ziele, lässt eine durchdachte Entwicklungsplanung vermissen und führt rasch zu Umweltschäden.

Die wirtschaftlich schwierige Lage vieler Länder, die die Schwächen in der örtlichen Infrastruktur und die seltene Befolgung der Vorschriften zur Erdbebensicherheit bei Neubauten zum Teil erklärt, erschwert den Transport von Hilfslieferungen und treibt die Opferzahlen in die Höhe. Wie viele Menschen in den ersten Stunden nach der Katastrophe an den Folgen ihrer Verletzungen starben, weil keine schnelle Hilfe möglich war, wird ungeklärt bleiben. Immerhin konnte durch die schnelle nationale und internationale Hilfe der Ausbruch von Seuchen verhindert und die Grundversorgung der Überlebenden gesichert werden.

Aber auch politische Spannungen behindern die Hilfsaktionen. In Aceh zum Beispiel, wo die Befreiungsbewegung für Aceh (GAM) aufgrund des humanitären Notstands eine einseitige Waffenpause erklärte, erinnerte der Befehlshaber des indonesischen Heers seine Truppen daran, dass die Suche nach Rebellen nach wie vor zu ihren Aufgaben gehöre. Auf Sri Lanka wurde Kritik laut, weil die Hilfe in den von den Tamil Tigers (LTTE) kontrollierten nördlichen Provinzen sehr langsam eintraf. Die Verteilung der Lieferungen soll dort allerdings zügig vonstatten gegangen sein. In Birma ist mangels detaillierter Informationen nicht sicher, ob tatsächlich nur die offiziell genannten 90 Menschen ums Leben gekommen sind. Allerdings sollen die hier weitgehend intakten Mangrovenwälder die Welle gedämpft haben.

Wenigstens brachte die Katastrophe die Schuldenfrage wieder ins Gespräch. Die staatlichen Auslandsschulden, so ein Vorschlag, sollen eingefroren werden, damit die betroffenen Länder der Bevölkerung helfen können, anstatt den wachsenden Schuldenberg abzutragen. Die Regierungen sind darüber allerdings geteilter Meinung. Indien und Thailand haben einen solchen Plan sofort zurückgewiesen, weil die Unterbrechung der Rückzahlungen ihre internationale Kreditwürdigkeit in Frage stellen und ihren Zugang zum Kapitalmarkt verteuern würde. Zudem besteht international kein großes Interesse daran, der indonesischen Regierung entgegenzukommen, wenn diese wieder militärisch gegen die GAM in Aceh vorgeht.

Einen Augenblick lang war die Menschheit in Brüderlichkeit vereint. Man muss sich jedoch fragen, warum sich die Weltöffentlichkeit gerade mit diesem Notstand so ausgiebig beschäftigte: weil die Katastrophe auch viele Urlauber aus den Industrieländern traf und weil die omnipräsenten Videokameras hinreichend Material für den unersättlichen medialen Weltmarkt für Katastrophenbilder lieferten. Dabei finden viele „unsichtbare Desaster“ so wenig Aufmerksamkeit: Genannt seien die Überschwemmungen in Bangladesch, die Flüchtlingsdramen in Zentralafrika und Darfur, die 2 Millionen Menschen, die jedes Jahr an Malaria sterben, und die jährlich 2,3 Millionen Aidstoten. Auch Trockenheit und Wüstenbildung, die in erster Linie die Entwicklungsländer betreffen, haben bislang kaum zum Nachdenken oder gar Handeln geführt. Vielleicht sollten wir die Flutkatastrophe zum Anlass nehmen, über all die anderen Leiden nachzudenken, die die „reichen“ Länder lieber nicht sehen wollen, und die von manchen vorgeschlagene Tobinsteuer einführen, die Abgabe auf internationale Finanztransaktionen zugunsten der Entwicklungsländer. Zahlreiche Szenarien über die Konsequenzen der Klimaerwärmung lassen Katastrophen erwarten, die nicht weniger dramatisch ausfallen dürften als das jüngste Tsunami-Drama.

deutsch von Bodo Schulze

* Assistenzprofessor an der Universität Toulouse-Le Mirail, Autor von „La Jungle, la nation et le marché. Chronique indonésienne“, Nantes (L‘Atalante) 2001.

Fußnoten: 1 Dazu das Kapitel „Risques naturels et environnementaux en Asie du Sud-Est“, in: Michel Foucher, „Asies Nouvelles“, Paris (Berlin) 2002, S. 166. 2 Dazu „Conserving Our Coastal Environment“, United Nations University, Tokio 2002. 3 Dazu die Untersuchungen der International coral Reef Initiative (ICRI), www.icriforum.org. 4 Laut Bericht der Bangkok Post, 5. Januar 2005.

Le Monde diplomatique vom 11.02.2005, von FRÉDÉRIC DURAND