15.04.2005

Vergessene Armeen, verlorene Illusionen – das Ende der Kolonialära in Südostasien

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Vergessene Armeen, verlorene Illusionen – das Ende der Kolonialära in Südostasien

DER in Europa umjubelte 8. Mai 1945 war nicht auf der ganzen Welt ein Grund für Siegesfeiern – Japan kapitulierte erst vier Monate später. So lange wurde auch auf den Landkriegsschauplätzen Südostasiens gekämpft. Hier standen die später „vergessenen Armeen“ gegeneinander: hier die Briten und ihre indischen Truppen, dort die von den Japanern geförderten nationalistischen Inder, Birmanen und Malaien. Die alliierten Siege schienen die koloniale Ordnung der Vorkriegszeit wiederherzustellen – doch dann brach sie schnell zusammen.

Von CHRISTOPHER BAYLY und TIM HARPER *

Am 8. Dezember 1941 landeten japanische Truppen im Nordosten der britischen Kolonie Malaya, nahe der Grenze zu Thailand. Die amphibische Operation erfolgte nur einen Tag nach dem japanischen Angriff auf Pearl Harbor, der den Kriegseintritt der USA auslöste. Binnen sechs Wochen schlugen die Japaner die demoralisierten britischen Truppen, nahmen Singapur ein und brachten die wichtigen Rohstoffressourcen der malaiischen Halbinsel in ihren Besitz.

Die japanische Militärführung spürte die Chance für einen epochalen Sieg, der die Briten als Kriegsgegner ausschalten und die Vereinigten Staaten an den Verhandlungstisch zwingen würde. Deshalb fasste sie den Entschluss, auch noch die britische Kolonie Birma zu erobern. Mit einem Blitzvorstoß quer durch das offiziell neutrale Thailand konnten die Japaner die Briten ein weiteres Mal überraschen. Ende Februar 1942 war die birmanische Hauptstadt Rangun eingenommen, und schon drei Monate später standen sie, begünstigt durch einen frühen Monsun, an der Grenze zu Britisch-Indien.

Dort war die Revolte gegen das Kolonialregime bereits in vollem Gange. Die zweihundert Jahre währende britische Herrschaft über Indien schien am Ende. Am 19. Februar 1942 schrieb der britische Generalstabschef Sir Alan Brooke in sein Tagebuch: „Ich hätte sicher nie damit gerechnet, dass wir so rasch zusammenbrechen und in nicht einmal drei Monaten Hongkong und Singapur verlieren würden.“1

Doch die Briten wollten sich nicht geschlagen geben. In den darauf folgenden drei Jahren mobilisierten sie Truppeneinheiten aus Großbritannien, Indien und Afrika. Unterstützt von der US-Luftwaffe, schufen sie eine letztlich siegreiche Armee. Unter Lord Louis Mountbatten und General William Slim, der zu den am höchsten geachteten britischen Kommandeuren des Zweiten Weltkriegs gehörte, schlugen die Briten zunächst einen zweiten Angriff der Japaner auf das nordostindische Assam zurück; im Juni 1944 gelang es ihnen, die Einkesselung von Imphal und Kohima aufzubrechen. Anschließend stieß die britische 14. Armee unter Slim zum Gegenangriff nach Birma vor und eroberte – fast auf den Tag drei Jahre nach dem Fall von Rangun – die birmanische Hauptstadt zurück.

Für die Japaner war es mit Verlusten von etwa 100 000 Mann eine der schwersten Niederlagen zu Lande in ihrer Militärgeschichte.2 Nach dem Abwurf der US-Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki am 6. und 9. August 1945 eroberten britische und indische Truppen die Halbinsel Malaya zurück; im Herbst besetzten sie sogar zeitweilig den Süden der französischen Kolonie Indochina und Teile des späteren Indonesien.

Kaum war der Krieg an der europäischen Front am 8. Mai 1945 mit der Kapitulation Deutschlands zu Ende, wurden die britischen Truppen in Asien zu einer „vergessenen Armee“. Die Tapferkeit und Standhaftigkeit dieser Armee wurde, wie damals viele meinten, im Schatten des Krieges gegen Nazi-Deutschland nicht gebührend gewürdigt, zumal diese Truppen nach dem Fall von Berlin noch drei Monate länger kämpfen mussten. Noch lauter wurden solche Klagen, als die „vergessene Armee“ in blutige und unnötige Kämpfe gegen antikoloniale Kräfte wie die Viet Minh in Indochina und die Nationalisten Sukarnos in Indonesien verwickelt wurden.

Doch um die denkwürdigen Ereignisse dieses „vergessenen“ britischen Krieges begannen sich bald heroische Legenden zu ranken. Das gilt beispielsweise für die Geschichte der „Chindit“3 , der Spezialeinheiten unter dem Kommando von Ordre Wingate, die 1943 und 1944 in Birma hinter den japanischen Linien operierten. Oder für die „Force 136“, die während des gesamten Krieges im malaiischen Dschungel an der Seite chinesischer Guerilleros gegen die Japaner kämpften. Die berühmteste Episode war das legendäre Ausharren der 14. Armee unter General Slim, die sich auf den Passhöhen zwischen Assam und Birma gegen die Japaner behauptete.

Aber es gab auch düstere Legenden. So wurde etwa die Leidensgeschichte der alliierten Kriegsgefangenen, die von den Japanern beim Bau der 414 Kilometer langen Eisenbahnlinie von Siam nach Birma verheizt wurden, zu einer Parabel menschlicher, aus dem christlichen Glauben inspirierter Seelengröße angesichts der barbarischen ostasiatischen Niedertracht. Fast zehn Jahre nach Kriegsende hat der französische Autor Pierre Boulle diese Ereignisse in einem Roman verarbeitet, der den rigiden Verhaltenskodex des britischen Militärs herausstellt. Die patriotische Beweihräucherung wurde 1957 gebrochen, als David Lean aus diesem Stoff den Film „Die Brücke am Kwai“ produzierte.

Sechzig Jahre später, am Beginn des so genannten asiatischen Zeitalters, ist es Zeit, diese Ereignisse aus asiatischer Perspektive zu betrachten und neu zu bewerten. Aus Sicht der unterworfenen Völker hatten die Eroberungen der Nazis und die der Japaner gänzlich verschiedene Bedeutungen. Als die Japaner 1941 zum ersten Mal nach Südostasien vordrangen, wurden sie nicht überall als brutale Invasoren wahrgenommen. Eine Ausnahme war die chinesische Bevölkerung dieser Regionen, der beispielsweise die „Vergewaltigung von Nanking“ warnend vor Augen stand.4

Doch im Allgemeinen wurden die Japaner weithin als Befreier angesehen, die den korrupten europäischen Kolonialherren den Garaus machen und „Asien den Asiaten“ zurückgeben konnten. In der Tat war die Herrschaft der Briten, der Franzosen und der Niederländer in den 1930er-Jahren im Zuge der Weltwirtschaftskrise noch repressiver als zuvor geworden, weil die Bauern von einer ständig wachsenden Schuldenlast erdrückt wurden, auf die sie mit Aufständen reagierten, die dann von den Kolonialregimen gewaltsam erstickt wurden.

Bei asiatischen Jugendlichen hatte Japan große Bewunderung ausgelöst, seit sich das Land im 19. Jahrhundert mit einer gewaltigen Kraftanstrengung modernisiert und dann auch noch im Russisch-Japanischen Krieg von 1904/1905 die Oberhand behalten hatte. Nach dem Ersten Weltkrieg hatten japanische Geschäftsleute und Experten ihre Aktivitäten unauffällig auf die gesamte südostasiatische Region ausgeweitet. Als die kaiserliche Armee 1941 in Malaya einfiel, meinte einer ihrer Sympathisanten über einen Japaner, der schon seit längerem als Geheimdienstoffizier in Malaya tätig gewesen war: „Von Beruf war er nur ein Barbier, aber er konnte Tennis spielen … Warum waren die Briten vor solchen Leuten nicht auf der Hut?“5

Bei Beginn der japanische Invasion im Jahre 1941 schätzten die britischen Geheimdienstler, dass etwa zehn Prozent der Bevölkerung auf der Seite der Kolonialmacht waren, und zwar vornehmlich die ethnischen Minderheiten wie die Karen oder die Schan in Birma. Weitere zehn Prozent würden die Japaner unterstützen. Der Rest der Bevölkerung, so die Geheimdienstberichte, warte einfach ab, wie der Konflikt ausgeht.

Aber damit unterschätzte man die Entschlossenheit von radikalen Gruppen in Malaya, Birma und Indien, die den Japanern aktiv zu Hilfe kamen, weil sie glaubten, die Invasoren würden ihnen unverzüglich die Unabhängigkeit gewähren. In Birma zum Beispiel hatte eine Gruppe innerhalb der noch jungen nationalistischen Partei, die so genannten Thakins, von den Japanern bereits eine militärische Ausbildung auf der südchinesischen Insel Hainan bekommen. Als die Invasion begann, marschierten sie als Birmanische Unabhängigkeitsarmee (BIA) an der Seite der Japaner in ihr Heimatland ein. Diese nationalistische Guerilla hoffte, dass ihre neuen Herren sie als Verbündete und nicht als Untergebene behandeln würden. Ihr japanischer Kommandeur Suzuku Keji war durchaus ein ehrlicher Verfechter der Freiheit Asiens von kolonialer Herrschaft.

Der berühmteste Führer der BIA war Aung San, dessen Tochter Aung San Suu Kyi heute die prominenteste Figur der birmanischen Demokratiebewegung ist. Der begeisterte Nationalist Aung San hatte allerdings von Beginn an Zweifel an der Bereitschaft der Japaner, seinem Land weit gehende Unabhängigkeit zuzugestehen. Selbst als im Sommer 1943 eine unabhängige birmanische Regierung unter Dr. Ba Maw zustande kam, blieb Aung San skeptisch. Er fing heimlich an, einen Aufstand gegen die Japaner zu planen. Einige seiner kommunistischen Kollegen nahmen sogar Kontakt zu den britischen Stellen in Indien auf.6

Auch in Malaya hatten radikale junge Muslime die Japaner unterstützt und sich davon ebenfalls eine rasche Entwicklung in Richtung Unabhängigkeit versprochen. Doch sie sollten schnell enttäuscht werden. Ihr weitsichtiger Führer Mustafa Hussain meinte, als die Japaner das Land erobert hatten, zu seinen Anhängern: „Dieser Sieg ist nicht unser Sieg!“

Tatsächlich fand der lange chinesisch-japanische Krieg in Malaya eine furchtbare Fortsetzung. Die Auslandschinesen hatten die Japaner seit 1937 mit ihrer finanziellen Macht bekämpft, indem sie schätzungsweise ein Drittel der Kriegskosten für die nationalistische Regierung des Generals Tschiang Kai-schek aufbrachten.7 Die Rache der Japaner war grausam. Im Februar und März 1942 wurden in Malaya und Singapur zehntausende Chinesen während der „Sook Ching“-Massaker8 abgeschlachtet. Viele konnten jedoch in den Dschungel oder in die Berge flüchten, wo sie einen langen Guerillakrieg gegen die Besatzer organisierten, der von britischen Agenten der Spezialeinheit „Force 136“ unterstützt wurde.9 Dennoch blieb die japanische Herrschaft in Malaya bis in die letzten Kriegswochen hinein bemerkenswert intakt.

Das lag unter anderem daran, dass die große Mehrzahl der einheimischen Inder – Geschäftsleute, Freiberufler und Plantagenarbeiter – an ihrer antibritischen Haltung festhielten. In ihr wurden sie noch durch die Präsenz der Indian National Army (INA) bestärkt wurden. Diese etwa 40 000 Mann starke Truppe bestand hauptsächlich aus entlassenen indischen Soldaten der britischen Indienarmee, die in japanische Gefangenschaft geraten waren, als die kaiserlichen Truppen 1942 in Singapur einrückten.

Aber schon vor der japanischen Invasion hatte der Rassismus der Kolonialgesellschaft viele dieser indischen Soldaten von ihren britischen Befehlshabern entfremdet. Das galt auch für Captain Mohan Singh, den ersten Kommandanten der INA. Zudem waren seine Truppen vom Schicksal der vielen armen indischen Arbeiter schockiert, die vor den Kampfhandlungen nach Indien fliehen wollten und dabei elend umkamen. Viele der indischen Soldaten waren im Herzen immer Nationalisten gewesen und hatten jetzt das Gefühl, der britischen Krone keine Gefolgschaft mehr zu schulden. Zum Teil stützte sich die INA auch auf Zwangsrekrutierungen. Insgesamt jedoch waren die meisten dieser Inder nach dem Zusammenbruch des britischen Regimes und der schmählichen Flucht ihrer ehemaligen weißen Herren davon überzeugt, dass die britische Herrschaft über Indien zu Ende ging.

Zusätzlich geschürt wurde ihr Hass auf das Kolonialregime durch die harte Repressionspolitik, die die Kolonialregierung im Herbst 1942 gegenüber Gandhis „Quit India“-Bewegung einschlug. 1943 folgte dann die schreckliche Hungersnot in Bengalen mit mindestens drei Millionen Opfern. Der unmittelbare Auslöser dieser Tragödie war zwar der Ausfall der birmanischen Reisernte nach der japanischen Invasion, aber der tiefere Grund war das totale Versagen der Kolonialwirtschaft. Auch die Untätigkeit der britischen Verwaltung in Indien und des britischen Kriegskabinetts in London hatten zur Verschärfung dieser Hungersnot beigetragen.

1943 ging die Führung der INA auf Subhas Chandra Bose über. Dieser radikale Nationalist, der in Cambridge studiert hatte, propagierte die Überzeugung, dass Indien für seine Freiheit kämpfen müsse. Den Aufruf Gandhis zum gewaltfreien Widerstand lehnte er ab. Nach seiner Flucht aus einem britischen Gefängnis in Kalkutta nahm Bose als Erstes Kontakt zur Nazi-Führung auf und ließ sich von einem deutschen U-Boot an die Front im Osten transportieren. Er ernannte sich zum Haupt der Regierung des „Freien Indien“ (Azad Hind), die ein Gegenstück zu der nominell unabhängigen birmanischen Regierung von Ba Maw war. Doch sein Territorium beschränkte sich auf die Inselgruppen der Andamanen und der Nikobaren, die mehr als 1 000 Kilometer vom indischen Subkontinent entfernt vor der birmanischen Küste liegen.

1944 marschierte Bose mit seiner INA gegen die britischen, britisch-indischen und US-amerikanischen Truppen, die in Assam zusammengezogen wurden. Vor dem Abmarsch überreichte man ihm in einer Schatulle die Asche aus einem Grabmal des letzten indischen Mogulherrschers, der nach dem Aufstand von 1857 in seinem Exil in Rangun gestorben war. Dabei adoptierte die Armee Boses den Kampfruf, der die indischen Rebellentruppen schon 87 Jahre zuvor beflügelt hatte: „Chalo Delhi!“, „Auf nach Delhi!“10

Am Ende wurden die Japaner und ihre nationalistischen Verbündeten von den alliierten Truppen besiegt. Die kaiserliche Armee und ihre indischen und birmanischen Hilfstruppen von der INA und der BIA waren zu schlecht ausgerüstet und auch zu schlecht ernährt, um ihren Vorstoß auf Britisch-Indien 1944 erfolgreich abschließen zu können. Die japanischen Truppen selbst waren, da auf sämtliche asiatischen Kriegsschauplätze verteilt, völlig überfordert. An der pazifischen Front hatten sie massive amphibische Operationen von amerikanischen und australischen Verbänden abzuwehren. Auf chinesischem Gebiet waren sie nördlich von Tschunking noch immer in einen blutigen Krieg gegen Tschiang Kai-scheks Truppen verwickelt, obwohl sie so lange seinen Nachschub über die Straße von Birma blockiert hatten. Jetzt mussten sie sich auch noch einer neuerlichen Invasion der alliierten Armee erwehren, die unter Mountbatten und General Slim – und mit US-Luftunterstützung – aus Assam in den Norden Birmas vorstieß.11

Millionen Asiaten wurden zu Hilfsdiensten gezwungen

IN einer Art letztem Kraftakt war es der britischen Kolonialherrschaft in Indien gelungen, noch einmal die Ressourcen des riesigen Subkontinents zu mobilisieren. Aber es handelte sich um eine indische, nicht um eine britische Mobilisierung. Die Voraussetzungen für den Sieg an der birmanischen Front wurden in erster Linie von indischen Soldaten, Pionieren, Ärzten, Krankenschwestern und Geschäftsleuten geschaffen. Sie alle waren sich bewusst, dass dieser Kraftakt ihre nationalen Ziele verwirklichen half und dass die britische Herrschaft ihrem Ende entgegenging. Zwar sahen viele Inder, wie Gandhi es tat, in der INA eine Truppe „irregeleiteter Patrioten“. Aber auf keinen Fall wollten sie, dass ihre irregeleiteten Landsleute nach dem Ende des Krieges von den Briten abgestraft wurden.

Als die britischen Truppen 1945, nachdem die Atombomben auf Japan gefallen waren, nach Malaya, Französisch-Indochina und Indonesien weitermarschierten, glaubten einige Strategen in London, das britische Empire werde sich in dieser Region noch mindestens eine Generation lang halten können. Ein besseres Gespür hatte man in den Vereinigten Staaten. In Washington las man die Abkürzung SEAC, „South East Asia Command“, für das gemeinsame Südostasienkommando als „Save England’s Asian Colonies“, also: Rettet Englands asiatische Kolonien. Doch dem Empire schlug bereits die Totenglocke. In ganz Südostasien bewaffneten sich Armeen von jungen militanten Männern und schickten sich an, die europäischen Mächte im Laufe eines Jahrzehnts fast vollständig aus der Region zu vertreiben.

Es begann in Birma. Die Truppen von Aung San hatten schon Anfang 1945 gegen die Japaner rebelliert, aber die birmanische Bevölkerung empfing auch die zurückkommenden britischen Truppen mit feindseligen Gefühlen und in Waffen.12 Und da die englisch geführte indische Armee, je näher die Unabhängigkeit Indiens rückte, immer stärker unter den Einfluss indischer Politiker geriet, waren die Briten nicht mehr in der Lage, indische Truppen zur Niederschlagung des birmanischen Aufstands einzusetzen.

Auch die nationalistische indonesische Revolte im ehemaligen Niederländisch-Indien ab 1945 konnte mit britischen Truppen nicht niedergekämpft werden. In Indochina dagegen sorgte der britische Kommandeur General Gracey dafür, dass die alliierten Truppen des „Freien Frankreich“ im Winter 1945 die französische Kolonialherrschaft wiederherstellen konnten, wenn auch nur bis zur Niederlage von Dien Bien Phu 1954.13

In Indien spielte die „vergessene Armee“ der Gegenseite, die INA, trotz ihrer Niederlage beim Schlussakt für das britische Imperium eine bedeutsame Rolle. Die feindselige Stimmung gegenüber den Briten hatte noch deutlich zugenommen, als die Kolonialherren die Offiziere der INA im Roten Fort von Delhi vor ein Kriegsgericht stellten. Als die Briten diese Prozesse unter dem Druck patriotischer Massenmobilisierung schließlich einstellten, war es gleichsam das Eingeständnis, dass die britische Herrschaft zu Ende war. Sie war offenbar nicht einmal mehr in der Lage, einer „Rebellion gegen die Krone“ den Prozess zu machen. Damit war klar, dass die einstige Kolonie frei sein würde – wenn auch später als dreigeteiltes Land.14

Nur über Malaya konnten die Briten ihre Herrschaft noch weitere zehn Jahre aufrechterhalten. Kautschuk und Zinn, die Rohstoffe der Halbinsel, blieben für die Nachkriegswirtschaft des verarmten England ein entscheidender Faktor. Noch wichtiger war allerdings, dass die chinesische Geschäftswelt und die konservative malaiische Bevölkerungsmehrheit sich hinter das Kolonialregime stellten, als 1948 der Aufstand der Kommunisten begann. Die malaiischen Revolutionäre, die unter Führung von Chin Peng an der Seite der britischen Spezialtruppe „Force 136“ gegen die Japaner gekämpft hatten, waren im Grunde die letzte der „vergessenen Armeen“. Obwohl diese „kommunistische Bedrohung“ schon 1955 niedergeschlagen war, hat Chin Peng einen Friedensvertrag mit der Regierung Malaysias erst 1989 unterzeichnet. Und auch heute noch kämpft der 81-Jährige für das Recht auf Rückkehr, um in der Heimat die Gräber seiner Vorfahren besuchen zu können.15

Doch die „vergessenen Armeen“ dieses Krieges sind nicht nur die kämpfenden Truppen. Vergessen waren auch die riesigen „Armeen“ asiatischer Arbeiter, die sich unter den fürchterlichen Kriegsbedingungen, wie sie in ganz Britisch-Asien herrschten, zu Tode geschuftet hatten. Zudem waren 1942 ganze Heerscharen indischer Flüchtlinge aus Birma nach Indien eingeströmt. Tausende von ihnen starben auf den schlammigen Pisten und in der „grünen Hölle“ von Manipur und Assam, auf den bewaldeten Passhöhen dieser beiden indischen Grenzprovinzen. Die Zahl der asiatischen Arbeitskräfte – Männer, Frauen und Kinder –, die beim Bau der Eisenbahnlinie zwischen Birma und Siam (Thailand) arbeiteten und umkamen, lag vielleicht zehnmal so hoch wie die Zahl der alliierten Soldaten, die in japanische Gefangenschaft gerieten.16

Auch diese Menschen sind weitgehend vergessen. Hunderttausende indische Kulis, Plantagenarbeiter und Angehörige von Urvölkern wurden durch schiere Not oder die Hoffnung auf Entlohnung dazu gedrängt, die japanische bzw. die britische Armee oder die mit ihnen verbündeten Guerillatruppen zu unterstützen und zu versorgen. In der ganzen Region wurden 200 000 Frauen und Mädchen zu sexuellen Sklavendiensten gedrängt, darunter viele durch direkten Zwang wie die „Trostfrauen“ in japanischen Diensten.17 Die überlebenden Opfer kämpfen bis heute um die Anerkennung ihrer Leiden und um Entschädigungszahlungen.

Die Erinnerung an diese Armeen hält sich am längsten in der Region selbst. In Indien gilt der Krieg als heroische Ära des nationalen Kampfes, und der INA-Führer Bose wurde zum Helden eines neuen Filmepos des Regisseurs Shyam Benegal. In Birma setzt die Erinnerung an Aung San vielen militärischen Führern noch heute zu – in Gestalt von dessen Tochter Aung San Suu Kyi. In Malaysia und Singapur erinnert man sich an den Krieg wie an ein dunkles Tal, das die Menschen hinter sich gelassen haben. In Singapur empfinden Politiker wie der erste Premierminister Lee Kuan Yew die gemeinsame Gegnerschaft und das gemeinsame Leid als prägendes Erlebnis, aus dem ein neues nationales Bewusstsein erwachsen ist. In Malaysia dagegen löst die Besinnung auf den Krieg eher traurige Erinnerungen an ethnische Konflikte und Unruhen aus.18 Wenn die Geschehnisse der Jahre 1941 bis 1945 nicht vergessen werden, können die kommenden Generationen aus dieser Zeit ihre eigenen Schlüsse ziehen.

deutsch von Niels Kadritzke

* Autoren des Buches: „Forgotten Armies. The Fall of British Asia 1941–1945“, London (Allen Lane) 2004.

Fußnoten: 1 Field Marshall Alanbrooke, „War Diaries 1939–1945“, ed. Alex Danchev and Daniel Todman, London 2001, S. 232. 2 Louis Allen, „Burma – The longest war“, London 1984. 3 Das Wort kommt von dem mythischen birmanischen Tier Chinte, das die Einheit in ihrem Wappen führte. 4 Nach Einnahme der damaligen chinesischen Hauptstadt Nanking im Dezember 1937 hatten die japanischen Truppen ein Massaker an der Zivilbevölkerung angerichtet, dem bis Anfang Februar 1938 mindestens 200 000 Menschen zum Opfer fielen und bei dem zehntausende Frauen vergewaltigt wurden. 5 KS Jomo (Hg.), „Malay Nationalism Before Umno: The Memoirs of Mustapha Hussain, 1910–1957“, Kapitel 21 und 22. 6 Ba Maw, „Breakthrough in Burma: memoirs of a revolution 1939–1946“, New Haven 1968. 7 C. F. Yong, Tan Kah-Kee, „The Making of an Overseas Chinese legend“, Singapore 1989, S. 229–279. 8 „Sook ching“, chinesisch, bedeutet etwa „Ausrottung“. 9 Cheah Boon Kheng, „Red star over Malaya: resistance and social conflict during and after the Japanese occupation of Malaya, 1941–1946“, Singapore 1983. 10 Leonard A. Gordon, „Brothers against the Raj: a biography of Indian nationalists Sarat and Subhas Chandra Bose“, New York 1990. 11 Sir William Slim, „Defeat into victory“, London 1955. 12 Angelene Naw, „Aung San and the struggle for Burmese independence“, Kopenhagen 2001; Mary P. Callahan, „Making Enemies. War and state building in Burma“, Ithaca, N. Y. (Ithaca Press) 2004. 13 Das Terrritorium wurde 1947 zwischen Indien, West- und Ostpakistan aufgeteilt. Ostpakistan erklärte sich 1972 als Bangladesch unabhängig. 14 John Springhall, „Kicking out the Vietminh. How Britain allowed France to reoccupy south Indochina“, in: Journal of Contemporary History, 40.1 (2005), S. 115 bis 130. 15 Chin Peng, „My side of History“, Singapore 2004. 16 Michiko, Nakahara, „Labour recruitment in Malaya under the Japanese occupation: the case of the Burma Siam railway“, in: KS Jomo (Hg.), Rethinking Malaysia, Kuala Lumpur 1997, S. 215–245. 17 Yuki Tanaka, „Japan’s comfort women: sexual slavery and prostitution during World War II and the US occupation“, London 2002. 18 Patricia Lim Pui Huen, Diana Wong (eds.), „War and memory in Malaysia and Singapore“, Singapur 2000.

Le Monde diplomatique vom 15.04.2005, von CHRISTOPHER BAYLY und TIM HARPER