10.02.2012

Homo indebitus

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Homo indebitus

Schulden bringen eine eigene Moral hervor von Maurizio Lazzarato

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Die Finanzkrisen haben eine Figur ins Licht gerückt, die seit geraumer Zeit die öffentlichen Debatten beherrscht: den verschuldeten Menschen. Die Schulden sind nämlich nicht nur ein wirtschaftliches Phänomen. Sie sind auch der Schlüssel zum Verständnis sozialer Beziehungen im Neoliberalismus.

Schulden sorgen für eine dreifache Enteignung. Als Erstes ist es die Enteignung von politischer Macht, die in der repräsentativen Demokratie ohnehin in abgeschwächter Form existiert. Die zweite ist die Enteignung von der Teilhabe am wachsenden Reichtum, die in den Klassenkämpfen des 19. und 20. Jahrhunderts errungen wurde. Und zu allerletzt geht es um die Enteignung von Zukunft, jenes Zeitraums also, in dem sich unsere Alternativen und Wahlmöglichkeiten entscheiden.

Die Beziehung Gläubiger/Schuldner verstärkt die Mechanismen kapitalistischer Ausbeutung und Herrschaft quer durch die ganze Gesellschaft. Denn die Schulden haben stets denselben Effekt, für Beschäftigte wie Arbeitslose, Konsumenten wie Produzenten, Erwerbstätige wie Rentner und Sozialhilfeempfänger. Sie konstituieren ein Machtverhältnis, dem alle unterliegen; bis hin zu denen, die mangels Einkommen zwar keine Kredite bekommen, aber als Steuerzahler dennoch über den Zinsendienst mit den öffentlichen Schulden belastet werden. Die Gesellschaft als ganze ist also verschuldet, was die soziale Ungleichheit nicht etwa mildert, sondern im Gegenteil verschärft. Deshalb kann man in dieser Hinsicht durchaus von Klassenunterschieden sprechen.

Die gegenwärtige Krise zeigt unzweideutig, dass einer der wichtigsten Faktoren im neoliberalen System nach wie vor das Eigentum ist. Die Beziehung zwischen Gläubiger und Schuldner drückt also ein Machtverhältnis zwischen Eigentümern und Nichteigentümern von Geldkapital aus. Enorme Summen sind von den Gläubigern (der Mehrheit der Bevölkerung) zu den Schuldnern (Banken, Pensionsfonds, Unternehmen, reichen Haushalten) geflossen. Auch die Staatsverschuldung der Entwicklungsländer ist über den Mechanismus der Zinsakkumulation zwischen 1970 und 2009 von 70 Milliarden auf 3 545 Milliarden Dollar angewachsen, also um das 50-Fache. In diesem Zeitraum haben die Entwicklungsländer ihre Rückzahlungsquote allerdings erheblich gesteigert, und zwar um das 110-Fache.1

Die Schulden bringen zudem eine eigene Moral hervor, die sich von der Arbeitsmoral unterscheidet, sich zu dieser aber auch komplementär verhält. Die von der Arbeitsideologie geschaffene Kombination aus Anstrengung und Belohnung verdoppelt sich durch das Versprechen (zu seinen Schulden zu stehen) und die moralische Schuld (nämlich Geld geborgt zu haben). Auf den in der deutschen Sprache offensichtlichen Zusammenhang zwischen Schuld und Schulden hat Friedrich Nietzsche hingewiesen. Die von deutschen Zeitungen geführte Kampagne gegen die „griechischen Parasiten“ hat die Logik der Gewalt, die der Ökonomie der Verschuldung zugrunde liegt, erneut sichtbar gemacht. „Ihr seid Schuldner, also seid ihr schuldig“ – das ist offenbar die einzige Botschaft, die Medien, Politiker und Ökonomen für die Griechen haben. Denn die liegen faul in der Sonne herum, während sich die protestantischen Deutschen unter einem grauen Himmel für das Wohl Europas abrackern. Diese Darstellung entspringt derselben Logik, die Arbeitslose zu Hilfsbedürftigen macht und den Wohlfahrtsstaat zu „Vater Staat“.

Dabei ist die Macht der Schulden weder auf Repression noch auf Ideologie angewiesen. Der Schuldner ist „frei“ und dennoch in seinen Handlungen und Wahlmöglichkeiten in den Rahmen gezwängt, der durch die von ihm aufgenommenen Schulden vorgegeben ist. Frei sind nur diejenigen, denen es die Lebensumstände gestatten, ihren finanziellen „Verpflichtungen nachzukommen“. In den USA haben 80 Prozent der abgeschlossenen Master-Studierenden auf Privatuniversitäten Schulden in Höhe von durchschnittlich 77 000 Dollar und auf öffentlichen Unis 50 000 Dollar. Auf der Website von Occupy Wall Street berichtete ein Student: „Ich musste mir fast 75 000 Dollar leihen. Bald kann ich nicht mehr zahlen. Mein Vater, der für mich gebürgt hat, muss nun meine Schulden übernehmen. Bald kann auch er nicht mehr zahlen. Mein sozialer Ehrgeiz hat meine Familie ruiniert.“2

Was hier einem Individuum widerfährt, gilt für die gesamte Gesellschaft. Der ehemalige irische Finanzminister Brian Lenihan erklärte einige Wochen vor seinem Rücktritt: „Seit meiner Ernennung im Mai 2008 hatte ich den Eindruck, dass unsere Schwierigkeiten im Bankensektor und dem öffentlichen Haushalt so groß wurden, dass wir praktisch unsere staatliche Souveränität eingebüßt haben.“ Laut Lenihand hat Irland mit seinem Hilferuf an die Europäische Union und den IWF „die Zuständigkeit, sein Schicksal selbst zu bestimmen, offiziell abgetreten“.3

Die Dominanz des Gläubigers über den Schuldner erinnert an die Definition von Macht, wie sie Michel Foucault formuliert hat: als ein Verhalten, das denjenigen, auf den sie gerichtet ist, noch als „freies Subjekt“ behandelt.4 Die Macht der Schulden macht dich kurzfristig zwar frei, zwingt dich aber auch, auf das entscheidende Ziel hinzuwirken, nämlich deine Schulden zu bedienen. Wobei man allerdings bei der EU und dem IWF den Eindruck gewinnt, dass die rezessionsfördernden Sparprogramme eher dazu angetan sind, die Schuldnerstaaten zu schwächen.

Die Beziehung zwischen Gläubigern und Schuldnern ist dabei nicht nur für die gegenwärtige Bevölkerung von Belang. Solange die Schulden nicht durch eine höhere Besteuerung der oberen Einkommen und der Unternehmen zurückgeführt werden – sprich durch Umkehrung jenes Machtgefälles zwischen den Klassen, aus dem die Schulden erst erwachsen sind5 –, bleiben auch die kommenden Generationen von ihnen betroffen. Indem der Kapitalismus die Regierten auf die Rückzahlung der staatlichen Schulden verpflichtet, konfisziert er im Grunde ihre Zukunft. Auf diese Weise kann er Vorhersagen treffen, Entwicklungen kalkulieren und Parallelen zwischen gegenwärtigen und künftigen Verhaltensweisen ziehen.

Das kapitalistische System reduziert das, was sein wird, auf das, was ist: die Zukunft und ihre Möglichkeiten auf die aktuellen Machtverhältnisse. Die Schulden sind eine der Ursachen für das merkwürdige Gefühl, das die „Empörten“ so empört: in einer Gesellschaft ohne Zeit zu leben, ohne die Dimension des Möglichen, ohne einen Bruch imaginieren zu können.

Die Beziehung zwischen Zeit und Schulden, dem Verleihen von Geld und der Aneignung von Zeit durch den Gläubiger ist seit Jahrhunderten bekannt. Im Mittelalter unterschied man noch nicht grundsätzlich zwischen Wucher und Zins, Wucher galt nur als exzessive Zinsforderung. Man erkannte also sehr genau, worin der „Raub“ des Geldverleihers und seiner Schuld bestand: Er verkaufte die Zeit, etwas, das nicht ihm gehörte, sondern einzig und allein Gott. Der Historiker Jacques Le Goff bringt die mittelalterliche Logik auf den Punkt, wenn er sagt, der Wucherer handele im Grunde nur „mit der Zeit, die zwischen den Zeitpunkten verstreicht, an denen er zunächst verleiht und später die verzinste Rückzahlung erhält“. Doch da die Zeit nur Gott gehört, ist der Wucherer „ein Dieb des Eigentums Gottes“.6

Karl Marx dagegen sah die historische Bedeutung des Wucherkredits eher in der Tatsache, dass dieser im Gegensatz zu den konsumierten Reichtümern einen produktiven Prozess repräsentiert, der bereits dem der Kapitalbildung, das heißt dem Geld heckenden Geld ähnelt (und zugleich vorausgeht).

Ein Manuskript aus dem 18. Jahrhundert bringt genau diesen Punkt mit dem Typus von Zeit zusammen, den der Geldleiher sich aneignet: „Die Wucherer sündigen gegen die Natur, indem sie aus Geld Geld erzeugen wollen, wie ein Pferd aus einem Pferd oder einen Esel aus einem Esel. Obendrein sind die Wucherer Diebe, denn sie verleihen Zeit, die ihnen nicht gehört, und mit einem fremden Gut gegen den Willen des Besitzers zu handeln ist Diebstahl. Und da sie außerdem mit nichts anderem als mit erwartetem Geld, das bedeutet, mit Zeit handeln, treiben sie mit Tagen und Nächten Handel. Der Tag aber ist die Zeit der Heiligkeit und die Nacht die Zeit der friedvollen Ruhe.“7

Der globale Finanzsektor setzt alles daran, dass das Geld-erzeugt-Geld-Prinzip sämtliche anderen Möglichkeiten erstickt, damit die tautologische Produktion um der Produktion willen als einzig realistische Alternative erscheint. Wo also in den Industriegesellschaften noch eine Vorstellung von „offener“ Zeit existiert – als sozialer Fortschritt oder als Revolution –, bringt der Finanzsektor unglaubliche Geldsummen auf, um die kapitalistischen Machtbeziehungen ständig neu zu reproduzieren – und damit die Zukunft und ihre Möglichkeiten zu blockieren. Damit neutralisieren die Schulden die Zeit, die – als Voraussetzung für das Entstehen neuer Möglichkeiten – sozusagen der Rohstoff aller politischen, sozialen oder ästhetischen Veränderungen ist.

Fußnoten: 1 Damien Millet, Daniel Munevar und Eric Toussaint, Les Chiffres de la Dette 2011: www.cadtm.org/IMG/pdf/Les_chiffres_de_la_dette_2011_DEf.pdf. 2 Zitiert nach Tim Mark in: „Unpaid student loans top $1 trillion“, 19. Oktober 2011: www.politico.com. 3 The Irish Times, 25. April 2011. 4 Michel Foucault, „Schriften in vier Bänden. Dits et Écrits“, Bd. 4: 1980–1988, Frankfurt am Main (Suhrkamp) 2005. 5 Siehe Laurent Cordonnier, „Im Falle eines Staatsbankrotts“, Le Monde diplomatique, März 2010. 6 Jacques Le Goff, „Wucherzins und Höllenqualen“, Stuttgart (Klett-Cotta) 2008, S. 52. 7 Zitiert nach Le Goff, Anmerkung 6, S. 53. Aus dem Französischen von Stephan Geene Maurizio Lazzarato ist Soziologe und Philosoph. Dieser Text ist ein Auszug aus dem im April erscheinenden Buch „Die Fabrik des verschuldeten Menschen. Essay über das neoliberale Leben“, Berlin (b_books) 2012.

Le Monde diplomatique vom 10.02.2012, von Maurizio Lazzarato