10.02.2012

Entdeckung des Taiwanischen

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Entdeckung des Taiwanischen

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„Früher habe ich immer gesagt, ich sei Chinesin. Das hatte ich aus meinen Geschichtsbüchern gelernt. Aber als ich zum Studium nach Belgien kam, habe ich entdeckt, dass ich Taiwanerin bin.“ Wenn Iris, die gerade ihre Magisterarbeit über das Marionettentheater (ein ausgesprochen chinesisches Thema) beendet, aus ihrer Vergangenheit erzählt, ist sie tief bewegt. Erst als sie Chinesen vom Festland traf, die ebenfalls in Europa studierten, hat sie bemerkt, dass sie anders ist. Noch Jahre später steigt die Wut auf ihre Schulbildung in ihr hoch, wenn sie an diese Entdeckung denkt.

Bis Mitte der 1980er Jahre mussten sich die Schüler in Taiwan jeden Tag vor der Nationalflagge verneigen. Der gesamte Unterricht basiert auf der Geschichte des chinesischen Kaiserreichs und dem Konfuzianismus. Die französische Chinaexpertin Françoise Mengin schreibt über die Nationalisten der Kuomintang (KMT): „Sie haben die traditionelle chinesische Kultur neu erfunden, die angesichts der kommunistischen Abwege [auf dem Festland] in Taiwan auf vorbildliche Weise bewahrt werden sollte.“1 Diese Weltsicht wurde auch den Schülern eingetrichtert. Man zerstörte jede mögliche Bindung an das alte Taiwan und nährte damit den Zorn der alteingesessenen Bevölkerung: der Ureinwohner der Insel (2 Prozent der Bevölkerung) und der Bendiren (Han-Chinesen, die seit dem 17. Jahrhundert aus Fujian oder Guandong eingewandert waren und 84 Prozent der Bevölkerung stellen).

Infolge der Demokratisierung in den 1990er Jahren begannen auch die Führer der KMT sich Gedanken über ihre Kultur und Geschichte zu machen und grenzten sich zunehmend von Festlandchina ab. Ihr erklärtes Ziel bestand nun darin, ein taiwanisches Bewusstsein zu schaffen (Taiwan Yishi). Die Geschichte wurde neu interpretiert und die Tradition der Ureinwohner wieder hochgehalten.2 Allmählich nahm eine neue Version der offiziellen Geschichte Gestalt an.

Mit der Regierungsübernahme der Unabhängigkeitsbefürworter von der DPP (die von 2000 bis 2008 an der Macht waren) beschleunigte sich diese Entwicklung: Schulbücher wurden umgeschrieben, die Nationalkultur gepflegt, ethnische Unterschiede betont, und die taiwanische Sprache gelangte zu neuen Ehren. Dabei neigte man gelegentlich auch zu Übertreibungen: „Ich habe erlebt, wie ein Kulturberater der Regierung einen Opernregisseur dazu aufforderte, Helden aus der taiwanischen Geschichte auf die Bühne zu bringen“, erzählt eine junge taiwanische Intellektuelle. „Und ein anderer wollte unbedingt taiwanische Gesänge haben. So etwas ist natürlich vollkommen inakzeptabel, ganz gleich, wer gerade an der Regierung ist.“

Das Hauptproblem in Taiwan sei außerdem eher die Amerikanisierung der Alltagskultur. „Die taiwanischen Autorenfilme, die man im Ausland kennt, schauen sich die Taiwaner selbst fast gar nicht an. Tsai Ming-liang3 verkauft persönlich auf der Straße Kinokarten für seine Filme, um Publikum zu haben.“ Die neue Generation von taiwanischen Regisseuren findet jedoch inzwischen auch im eigenen Land Zuschauer.

Die früher geleugneten ethnischen Besonderheiten werden nun systematisch herausgestrichen. In der Nähe des alten Hafens von Kaohsiung mit seinem zauberhaften Panorama sitzt Herr Zhang auf einem Holzstuhl vor dem Eingang seiner Eisenwarenhandlung. Von ethnischen Schubladen hält er wenig: „Im Fernsehen erzählen sie uns, dies sei chinesisch und jenes von den Ureinwohnern und jenes taiwanisch. Vor allem im Wahlkampf. Aber ich weiß gar nicht, in welche Kategorie ich gehöre. Mein Vater ist mit 18 Jahren, Ende der 1940er Jahre, aus Festlandchina gekommen, meine Mutter stammt von den Penghu-Inseln [an der Westküste Taiwans]. Dort bin auch ich geboren. Und jetzt lebe ich in Kaohsiung, in Taiwan.“

Manchmal werden sogar chinesische Wurzeln im Namen des „Taiwanertums“ verleugnet. Eine Untersuchung des Election Study Center der Chengchi-Universität zeigt, dass der Anteil der Bürger, die sich selbst als „Taiwaner“ bezeichnen, von 17,6 Prozent im Jahr 1999 auf 52,6 Prozent im Jahr 2007 angestiegen ist; im selben Zeitraum fiel der Anteil der „Chinesen“ von 46,4 auf 3,9 Prozent, und die Zahl derjenigen, die sich „taiwanisch und chinesisch“ fühlen, stieg von 25,5 auf 39,9 Prozent.

Die Beziehungen zu den Chinesen vom Festland fasst die Studentin Shu-may so zusammen: „Wir sprechen eine ähnliche Sprache. Aber wir haben nicht denselben kulturellen Hintergrund.“ Um diese Verschiedenheit deutlich zu machen, erzählt Peini Beatrice Hsieh, die Direktorin des Kunstmuseums von Kaohsiung, von den Unterschieden bei der chinesischen Übersetzungen des englischen Worts „Laser“: „In Taiwan hat man sich bei der Übersetzung möglichst nah am Englische gehalten, die Chinesen hingegen haben versucht, den Sinn so genau wie möglich wiederzugeben. Dieses Beispiel charakterisiert sehr treffend unsere unterschiedlichen Entwicklungen. Wir teilen dasselbe Blut, aber manchmal ist es schwierig, miteinander zu reden.“

Im Laufe der Zeit und vieler Um- und Abwege hat sich Taiwan eine eigene Identität geschaffen. Der Präsident der Republik und die Abgeordneten werden in freien Wahlen gewählt, es gibt eine eigene Verfassung und eine eigene Währung. Der Soziologe Hsin-Huang Michael Hsiao fasst die Auffassung der Inselbewohner so zusammen: „Wir sind kulturell Chinesen, aber politisch gesehen Taiwaner.“

Peini Hsieh drückt den gleichen Gedanken anders aus: „Die Chinesen vom Festland sind für uns wie Geschwister, die nach der Scheidung der Eltern 1947 in einer anderen Familie aufgewachsen sind. Später traf man sich wieder und musste sich erst neu kennenlernen. Die jüngste Generation, die jetzt heranwächst, wird bestimmt eine gute Lösung für alle finden.“

Martine Bulard

Fußnoten: 1 Françoise Mengin, „Trajectoires chinoises. Taïwan, Hongkong, Pékin“, Paris (Karthala) 1998. 2 Vgl. vor allem Samia Ferhat und Sandrine Marchand (Hg.), „Taïwan. Île de mémoires“, Lyon (Tigre de papier) 2011. 3 Der in Taiwan arbeitende Regisseur Tsai Ming-liang erhielt auf der Berlinale 1997 einen Silbernen Bären für seinen Film „Der Fluss“ („He liu“).

Le Monde diplomatique vom 10.02.2012, von Martine Bulard