11.01.2024

Die Welt rüstet auf

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Die Welt rüstet auf

von Philippe Leymarie

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Im April 2023 berichtete das Internationale Friedensforschungsinstitut in Stockholm (Sipri), dass die weltweiten Rüstungsausgaben zum achten Mal in Folge gestiegen sind. Mit knapp 2,06 Billionen Euro – das entspricht 2,2 Prozent des globalen Bruttosozialprodukts – waren sie im Jahr 2022 so hoch wie seit 30 Jahren nicht mehr, also seit dem Ende des Kalten Krieges.

General Pierre Schill, Stabschef des französischen Heeres, warnt vor der „dramatischen Rückkehr großer Kriege, die wieder zu einem bevorzugten Mittel der Streitbeilegung geworden sind“.1 In diesen Kriegen komme es zu „exzessiver Gewaltanwendung, in deren Verlauf alle moralischen und rechtlichen Grenzen gesprengt werden, während man doch glaubte, sie seien in die Geschichtsbücher verbannt“.

Die Hemmungen scheinen zu fallen seit der faktischen Annexion der ukrainischen Regionen Krim und Donbass durch Russland im Jahr 2014. Seither rüsten die Staaten auf, die Rüstungskonzerne steigern die Produktion und konkurrieren um Kunden.

Russland, das aus mehreren Abrüstungsabkommen ausgetreten ist, sieht in seinem Haushaltsplan für 2024 eine Erhöhung der Militärausgaben um 70 Prozent vor und erreicht damit wieder das Niveau der 1980er und 1990er Jahre. „Alles für die Front, alles für den Sieg“, trompetete der russische Finanzminister Anton Siluanow bei der Vorstellung des Haushalts.

Die angekündigten 10,8 Billionen Rubel (109 Milliarden Euro) – 6 Prozent des russischen Bruttoinlandsprodukts (BIP) – sind vor allem für die Produktion von Granaten, Panzern und Drohnen vorgesehen, aber auch für die Entlohnung der Soldaten und Entschädigungen für die Familien der Gefallenen. Schätzungen zufolge hat die russische Armee im Jahr 2023 mehr als zwei Millionen Granaten verschossen, doppelt so viele wie im Jahr zuvor. Die Website Oryx beziffert die Zahl der in der Ukraine beschädigten oder zerstörten russischen Fahrzeuge mit 10 000.

Die russischen Hersteller, die bei den globalen Waffenexporten regelmäßig auf Platz zwei hinter dem unangefochtenen Champion USA stehen, lieferten bislang rund ein Fünftel der weltweit verkauften Rüstungsgüter. Dabei standen insbesondere die Märkte in Asien, Afrika und im Nahen Osten im Fokus.

Da sie nun für den Krieg in der Ukraine produzieren müssen, wo es zu seit dem letzten Weltkrieg nicht mehr dagewesenen Verlusten kommt, gerieten sie jedoch 2022 bei den Exporten ins Hintertreffen. Darüber hinaus haben westliche Sanktionen die russische Regierung am Abschluss wichtiger Lieferverträge mit den Philippinen (Hubschrauber), Indonesien (Jagdbomber) und Kuwait (Panzer) gehindert.

Russland kann auch nicht mehr auf Aufträge der Staaten des ehemaligen Warschauer Pakts oder des Baltikums zählen, die nun Mitglieder der Nato sind. Dabei sind die Militärausgaben Litauens zwischen 2014 und 2022 um 270 Prozent gestiegen, die Lettlands um 173 Prozent, und die Verteidigungshaushalte Finnlands, Ungarns, Rumäniens, Tschechiens und der Slowakei schossen ebenfalls in die Höhe.

Polen gibt mittlerweile 4 Prozent seines BIPs für die Verteidigung aus und will die Zahl seiner Soldaten verdoppeln. Das Land kauft unter anderem Abrams-Panzer, Himars-Raketenwerfer und Apache-Hubschrauber aus den USA sowie Panzer und Haubitzen aus Südkorea, wodurch es zu einem der militärischen Schwergewichte in der Nato wird – ebenso wie Deutschland.

Die Bundesregierung hat 2022 ein Sondervermögen von 100 Milliarden Euro für die Modernisierung der Bundeswehr beschlossen. Die Forderungen nach einer Privilegierung europäischer Rüstungsfirmen hat sie allerdings nicht erhört: Bestellt sind ein amerikanisch-israelisches Raketenabwehrsystem und F-35-Kampfjets von Lockheed Martin, dem größten Rüstungskonzern der Welt.

Die russischen Probleme haben dazu geführt, dass Frankreich mit einem Gesamtexportvolumen von 27 Milliarden Euro im Jahr 2022 auf Platz zwei in der Weltrangliste der Waffenverkäufer aufstieg. Dieser Rekord wurde vor allem dank des Vertrags erreicht, den Dassault in den Vereinigten Arabischen Emiraten an Land gezogen hat: Das Mehrzweckkampfflugzeug Rafale, das lange Zeit als praktisch unverkäuflich galt, ist zu einem wichtigen Posten in der französischen Exportpalette geworden.

Neben den üblichen europäischen Waffenherstellern wie Großbritannien, Deutschland, Italien und Spanien sind inzwischen auch neue Akteure auf dem Vormarsch. Insbesondere Südkorea, das bereits zu den Top Ten der Lieferländer gehört, strebt den vierten Platz hinter den USA, Frankreich und Russland an, wobei es stark vom „Ukraine-Effekt“ profitiert.2

Japan wiederum ist die Frage der Aufrüstung zwar eher unangenehm, doch Premierminister Fumio Kishida befürchtet, dass „das, was in der Ukraine passiert, auch in Nordostasien passieren könnte“. Die Regierung macht sich Sorgen wegen der zunehmenden Spannungen zwischen China und den USA, auf deren Seite das Land seit der Kapitulation 1945 steht. Sie hat daher beschlossen, „eine neue Seite des Pazifismus aufzuschlagen“.3 Die neue na­tio­nale Sicherheitsstrategie verweist auf die „beispiellose Herausforderung“, die Chinas Ambitionen in der Region darstellen.

Der japanische Militärhaushalt lag zuletzt bei 52 Milliarden US-Dollar, was aber nur gut 1 Prozent des BIPs ausmacht. Er soll bis 2027 auf 2 Prozent steigen. Dadurch dürfte das Land nicht nur zu einem wichtigen regionalen Akteur werden, sondern auch zu einem neuen Kunden für Rüstungskonzerne. Washington hat der Regierung in Tokio bereits Tomahawk-Langstreckenraketen versprochen – ein Privileg, das bislang Großbritannien und Australien vorbehalten war.

In Osteuropa haben mehrere Länder, darunter auch Polen, einen Teil ihrer alten, oftmals noch sowjetischen Ausrüstung an die ukrainische Armee abgegeben. Dies gilt auch für die Slowakei, deren Rüstungsindustrie seit dem Ende des Kalten Krieges mangels Kunden im Winterschlaf lag. Nun produziert das Land – ebenfalls eine Folge des russischen Angriffs gegen die Ukraine – Panzerhaubitzen für die Modernisierung ihrer eigenen Armee sowie für die ukrainischen Streitkräfte. Diese Ausrüstung wird vor Ort als billiger und moderner als das französische Pendant beworben.4

Frankreich selbst gab 2023 zwei Milliarden Euro für den Kauf von Munition aus, um seine Bestände nach größeren Lieferungen an die Ukraine wieder aufzufüllen. Sein Verteidigungsbudget für 2024 beläuft sich auf 47,2 Milliarden Euro, 7,5 Prozent mehr als im Vorjahr.

Auch gehört Frankreich laut einem Bericht der Nationalversammlung5 – zusammen mit Deutschland und Großbritannien – zu jenen Ländern, die besonders dazu beigetragen haben, „der Ukraine die Mittel zur Verfügung zu stellen, um gegen die russische Armee zu bestehen“. Insgesamt beläuft sich diese Hilfe, die auch die Lieferung von Kanonen und Panzern, Granaten und Raketen sowie die Ausbildung von ukrainischen Soldaten umfasst, auf schätzungsweise 3,2 Milliarden Euro.

Darüber hinaus leistet Frankreich – ebenso wie Deutschland – einen großen Beitrag zur Europäischen Friedensfazilität (EPF), einem von der EU außerhalb des Unionshaushalts eingerichteten Fonds, aus dem vor allem Waffenlieferungen an die Ukraine finanziert werden. Dabei betonen die beteiligten Staaten, einem Land, das angegriffen wurde, Waffen zur Selbstverteidigung zu liefern, bedeute nicht, dass man sich zur Kriegspartei mache. Und jedes Land hofft dabei selbstverständlich, dass die jeweilige nationale Rüstungsindustrie diese geschäftliche Chance wird nutzen können.

Die Produktion von und der Handel mit Waffen sind ein Geschäftsbereich, in dem Ethik und Moral nicht an erster Stelle stehen. So entschloss sich die US-Regierung beispielsweise im vergangenen Juni zur Lieferung von Streumunition an die Ukraine. Es sei „eine sehr schwierige Entscheidung“ gewesen, versicherte Präsident Biden, auch wenn es seiner Meinung nach „das Richtige“ war. 120 Staaten – nicht aber die USA, Russland oder die Ukraine – haben diese Munition geächtet, die ziellos tötet und über einen längeren Zeitraum hinweg viele zivile Opfer fordert.

Ein weiteres Beispiel ist die politische Reinwaschung von Wiktor But, einem russischstämmigen Waffenhändler, der spätestens dann weltweiten Ruhm erlangte, als er das Vorbild für die Hauptfigur (gespielt von Nicolas Cage) in dem Film „Lord of War“ von Andrew Niccol (2005) wurde. Nach 15 Jahren Haft in den USA wurde But im Dezember 2022 gegen eine US-amerikanische Basketballspielerin ausgetauscht, die von den russischen Behörden des Drogenmissbrauchs beschuldigt worden war. Im September durfte er als Abgeordneter der „Opposition“ ins Parlament von Uljanowsk, einer abgelegenen russischen Region, einziehen.

Einen schlagenden Beleg dafür, wie in diesem Business von hehren Prinzipien abgewichen wird, lieferte im Juni die Kyiv School of Economics (KSE) in Zusammenarbeit mit der internationalen Yermak-McFaul-Expertengruppe. Ihr Thema war die Umgehung von Sanktionen: In einem Großteil der russischen Waffen, sogar in ballistischen Raketen und Marschflugkörpern, stecken elektronische Bauteile aus den USA, Großbritannien, Deutschland, den Niederlanden, Japan, Israel und China. Es handelt sich um sensible Ausrüstung, die eigentlich den Sanktionen unterliegt, aber auf Umwegen mit Hilfe chinesischer Händler trotzdem erworben werden konnte.

Im Waffenhandel trifft man mitunter auch auf unerwartete Akteure. So ist die ukrainische NGO „Komm lebend zurück“ die wohl einzige Organisation der Welt, die mit offizieller Zulassung Spenden sammeln kann, um Soldaten mit Drohnen, Raketenwerfern oder anderen Waffen auszustatten. Andere Organisationen in der Ukraine liefern Dinge, die den Alltag der Kämpfer erleichtern, etwa Tablet-Computer zur Lenkung von Artilleriegeschossen oder persönliche Schutzausrüstung.6

Der weltweite Waffenmarkt, der durch die aktuellen Kriege wie elektrisiert ist, profitiert zudem von der Ausweitung auf neue Geschäftsbereiche. So werden neben Drohnen aller Art, die aus den Arsenalen schon nicht mehr wegzudenken sind, immer häufiger Satelliten für militärische Zwecke eingesetzt.

Die US-Amerikaner haben einen erheblichen Vorsprung bei deren Nutzung. Zu nennen sind auch Instrumente zur Erforschung des Meeresbodens – um diesen zu kontrollieren, zum Beispiel für Unterseekabel, oder für die künftige Ausbeutung von Rohstoffen, etwa Manganknollen.

Auch Hyperschallwaffen, für die sich immer mehr Staaten interessieren, zählen dazu. Hier liefern sich die USA und Russland einen Wettlauf. Weitere Beispiele sind Instrumente für Cyberabwehr und Cyberangriffe, für den „Informationskrieg“ und zur Verteidigung von Kommunikationsnetzen. Und selbstverständlich werden ständig neue Versionen von Panzern, Jagdflugzeugen und Kampfschiffen entwickelt. Der Zeithorizont für ihren Einsatz sind die Jahre 2035 bis 2045.

1 „Le retour des guerres majeurs“, B2 Le quotidien de l’Europe géopolitique, Brüssel, 13. Oktober 2023.

2 Samuel Emch, „Südkoreanische Waffen: Panzer und Munition aus Ostasien für den Krieg in Europa“, SRF, 25. Dezember 2023.

3 Siehe Jordan Pouille, „Zeitenwende in Tokio“, LMd, März 2023.

4 Anne Dastakian, „En temps de guerre, l‘armement prospère“, Marianne, 28. September 2023.

5 Information über die Bilanz der militärischen Unterstützung für die Ukraine, vorgelegt von Lionel Royer-Perreault und Christophe Naegelen vor dem Verteidigungsausschuss der Nationalversammlung, 8. November 2023.

6 Siehe Hélène Richard, „Arbeiten, kämpfen, durchhalten“, LMd, November 2023.

Aus dem Französischen von Nicola Liebert

Philippe Leymarie ist Journalist.

Le Monde diplomatique vom 11.01.2024, von Philippe Leymarie