09.11.2023

Ein Staat und gleiche Rechte für alle

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Ein Staat und gleiche Rechte für alle

von Thomas Vescovi

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Von Verhandlungen oder einem Friedensprozess kann im Nahostkonflikt schon seit Jahren keine mehr Rede sein. Trotz der Oslo-Abkommen (1993–1995), die eigentlich einen Interessenausgleich ermöglichen sollten, wurden israelische Siedlungen im Westjordanland immer weiter ausgebaut und verschärfte sich die Besatzungspolitik.

Erst im September ergab eine Meinungsumfrage des Palestinian Center for Policy and Survey Research (PSR), dass fast zwei Drittel der Pa­läs­ti­nen­se­r:in­nen ihre Lage heute noch schlechter einschätzen als vor Oslo.1 In Israel galten die Abkommen dagegen stets als „voller Erfolg“. Die palästinensischen Enklaven wurden vom politischen Establishment als interner Kompromiss begriffen, schreibt die Journalistin Amira Hass, die seit Jahrzehnten über die Zustände in den besetzten Gebieten berichtet.2

In seiner Analyse der Nahostpolitik in Zeiten von Netanjahu und Trump stellte Dominique Vidal allerdings bereits im Februar 2017 fest, dass der „andauernde Kriegszustand, das Ausmaß der medialen Manipulation, aber auch und vor allem das Fehlen jeglicher politischer Alternativen“ dazu beigetragen hätten, dass jüdische Israelis in Meinungsumfragen inzwischen zu extremistischen Positionen neigen würden, „mehrheitlich die Schaffung eines Palästinenserstaats ablehnen und eine Annexion des Westjordanlands befürworten“.3

Tatsächlich war die Aussicht auf einen vollständig souveränen palästinensischen Staat für die israelischen Verhandlungsführer nie wirklich eine Option. Für die Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO) und ihren Anführer Jassir Arafat waren die Oslo-Abkommen ein historisches Zugeständnis: Man verabschiedete sich von dem Ziel einer vollständigen „Befreiung“ Palästinas zugunsten eines Staats auf nur 22 Prozent des ursprünglichen Mandatsgebiets.

Anfang 2023 konstatierte das PSR, dass die Zustimmung zu einer Zweistaatenlösung in beiden Gesellschaften noch nie so gering war.4 Auf palästinensischer Seite sprachen sich 33 Prozent der Befragten für diese Lösung aus, 2020 waren es noch 43 Prozent gewesen. Auf israelischer Seite befürworteten 39 Prozent diese Option (34 Prozent der jüdischen Israelis).

Die Interpretation dieser Umfrageergebnisse muss jedoch relativiert werden: Die Palästinenser wenden sich nicht von der Zweistaatenlösung ab, weil sie sie nicht mehr wollen, sondern weil sie sie mittlerweile für unerreichbar halten. Auch die Alternativlösung – ein gemeinsamer demokratischer Staat mit gleichen Rechten für Israelis und Palästinenser – wird nur von einer Minderheit unterstützt: 20 Prozent der Israelis und 23 Prozent der Palästinenser halten solch ein föderales Modell für möglich.

Vier Entwicklungen haben in den letzten 30 Jahren dazu geführt, dass die palästinensische Bevölkerung den Glauben an die Zweistaatenlösung und die Hoffnung auf Souveränität aufgegeben hat:

Erstens wurde der Siedlungsbau in den besetzten Gebieten stetig fortgesetzt. Im Zuge dessen haben sich auch die gegenseitigen Abhängigkeiten immer weiter verstärkt: Während die palästinensische Bevölkerung von der israelischen Wirtschaft abhängt, dienen die besetzten Gebiete dem militärisch-industriellen Komplex Israels als Experimentierfeld. Bodenspekulanten können sich auf Kosten der lokalen Bevölkerung bereichern.

Zweitens hat sich die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) in den Augen der palästinensischen Bevölkerung völlig diskreditiert. Sie sollte eigentlich als Protostaat fungieren. Weil sie sich in Sicherheitsfragen aber mit den israelischen Streitkräften abstimmen muss, wird sie de facto viel häufiger als Stellvertreterin der Besatzungsmacht wahrgenommen. Hinzu kommt, dass Präsident Mahmud Abbas immer autoritärer regiert.

Dabei steht die PA den Annexionsbestrebungen der rechtsextremen Regierung unter Ministerpräsident Netanjahu völlig machtlos gegenüber. Selbst die internationalen diplomatischen Erfolge der PA haben nichts daran ändern können: weder die Aufnahme des Staats Palästina in die Unesco im Jahr 2011 noch die Aufnahme als Beobachter bei den Vereinten Nationen im Jahr 2012 oder die offizielle Anerkennung als Vertragsstaat des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) im Jahr 2015.

Drittens ist nicht nur das palästinensisch kontrollierte Territorium im Westjordanland in separate Enklaven zersplittert und vom Gazastreifen getrennt. Auch die politische Führung ist gespalten zwischen der autokratischen Verwaltung durch die Fatah im Westjordanland und dem religiös fundamentalistischen Regime durch die Hamas in Gaza.

Hinzu kommt außerdem, dass die israelisch-ägyptische Blockade des Gazastreifens jegliche Souveränität verhindert: Die Palästinenser kontrollieren weder den Luft- und Seeraum noch die Ein- und Ausreise von Personen und Waren. Nur aufgrund dieser eingeschränkten Souveränität konnte Israels Verteidigungsminister Joaw Galant am 8. Oktober die Stromzufuhr und die Versorgung mit Wasser und Lebensmitteln blockieren.

Viertens hat der sogenannte Friedensprozess, der eigentlich zur Gründung eines palästinensischen Staats führen sollte, der israelischen Führung Zeit verschafft, ihre Kontrolle über die besetzten Gebiete auszubauen – während die Länder, die sich zur finanziellen und diplomatischen Unterstützung der Oslo-Abkommen verpflichtet hatten, so taten, als handele es sich um einen Konflikt zwischen zwei souveränen Nationen. So brauchten sie keine Sanktionen wegen der Missachtung des Völkerrechts zu verhängen.

Die Zweitstaatenlösung ist schon seit Jahrzehnten überholt

Würde die israelische Regierung jedoch so behandelt werden, wie sie auftritt, nämlich als Regierung eines Staats, der sich nicht an die Auflagen einer ihn betreffenden UN-Resolution gehalten hat, wäre die Konsequenz ganz klar: Druck ausüben und sie zu der Einsicht bringen, dass die Anerkennung der Rechte der Palästinenser lebensnotwendig für den Fortbestand des eigenen Staats sind.

Wie weit diese davon entfernt ist, zeigt das aktuelle Stimmungsbild im israelischen Parlament, der Knesset: Mindestens 100 der 120 Abgeordneten befürworten die Fortsetzung des Siedlungsbaus und eine Mehrheit sogar die totale oder zumindest anteilige Annexion des West­jor­dan­lands.

In Israel und in den palästinensischen Gebieten leben 7,1 Millionen Araber und 7 Millionen Juden. Auf dem gesamten Territorium zwischen Jordan und Mittelmeer existiert nur eine wirkliche Grenze – die von Israel kontrolliert wird – und eine einzige Währung, der Schekel. Es gibt zwar sowohl materielle als auch institutionelle Elemente, die darauf abzielen, die beiden Bevölkerungsgruppen zu trennen, de facto handelt es sich aber eigentlich bereits um einen einzigen Staat.5

Die von Israel errichtete Grenzanlage folgt nur auf etwa einem Fünftel ihrer Länge der Waffenstillstandslinie von 1967 (grüne Linie). Sie kann nicht als zukünftige Staatsgrenze fungieren, weil 10 Prozent des Westjordanlands auf israelischer Seite liegen. Außerdem leben fast 700 000 jüdische Israelis in den Siedlungen im West­jor­dan­land und in Ostjerusalem. Sie teilen in vielen Bereichen ihren Alltag mit der palästinensischen Bevölkerung. Vor der Attacke der Hamas am frühen Morgen des 7. Oktober, bei der mindestens 1400 israelische Zivilisten ermordet und 3000 verletzt wurden, pendelten täglich etwa 150 000 Pa­läs­ti­nen­se­r:in­nen aus dem West­jor­dan­land und 17 000 aus dem Gazastreifen nach Israel, um dort zu arbeiten.

De facto organisieren die israelischen Institutionen den Alltag nicht nur der israelischen Bevölkerung, sondern größtenteils auch den der 5 Millionen Pa­läs­ti­nen­se­r:in­nen in den besetzten Gebieten – mit dem Unterschied, dass Letztere auf die von Tel Aviv getroffenen Entscheidungen keinen Einfluss haben.

Für die arabische und die jüdische Bevölkerung in den besetzten Gebieten gelten unterschiedliche Gesetze und Gerichtsbarkeiten. Das ist einer der Gründe, warum die Siedlungspolitik von vielen israelischen, palästinensischen und internationalen NGOs als eine Form der Apartheid bezeichnet wird.

Die Pa­läs­ti­nen­se­r:in­nen sind den Entscheidungen der Besatzungsarmee und den Übergriffen durch Sied­le­r:in­nen schutzlos ausgeliefert – mit der Folge, dass sich viele Jugendliche in den besetzten Gebieten6 radikalisiert und militanten Gruppen wie zuletzt der „Arin al-Ussud“ (Höhle der Löwen) angeschlossen haben. In den Teilen der israelischen Gesellschaft, die praktisch kaum Berührungspunkte mit den besetzten Gebieten hatten, schien man sich an diesen Zustand gewöhnt zu haben – die Maßnahmen, die nach der Zweiten Intifada (2000–2005) ergriffen wurden, haben die Palästinenser quasi unsichtbar gemacht.

Nachdem die Aussicht auf einen wirklich unabhängigen palästinensischen Staat in immer weitere Ferne rückte, sind in den letzten Jahren auf beiden Seiten zivilgesellschaftliche Initiativen entstanden, die einen neuen Ansatz verfolgen. So gründeten der palästinensische Fatah-Aktivist Awni al-Mashni und der israelische Journalist Meron Rapoport 2012 zusammen die Organisation „A Land for All“: Sie tritt für ein binationales Modell in einem gemeinsamen Staat ein, mit gleichberechtigtem Zugang zu Justiz und Sicherheit, Bewegungs- und Niederlassungsfreiheit und geteilter Souveränität, etwa über Jerusalem oder die natürlichen Ressourcen.

Auch die Kampagne „One Democratic State Campaign“, die 2018 in der arabisch-jüdisch-is­rae­li­schen Stadt Haifa gegründet wurde, geht von einem gemeinsamen Staat aus. In ihrem Zehnpunkteprogramm fordert sie unter anderem ein Rückkehrrecht für alle seit 1948 aus Palästina Vertriebenen und – wie „A Land for All“ – Bewegungs- und Niederlassungsfreiheit und den gleichberechtigten Zugang zu Justiz und Sicherheit.

Auch wenn diese Initiativen sicherlich fortbestehen werden, dürften ihre Einflussmöglichkeiten erst einmal stark schwinden. Nach dem 7. Oktober steht das ganze Land unter Schock. Schon früher war es nicht einfach, größere Teile der israelischen Bevölkerung für das Schicksal der Palästinenser zu interessieren. Selbst in den 40 langen Protestwochen gegen die geplante Justizreform ist es den Besatzungsgegnern nicht gelungen, die De­mons­trierenden davon zu überzeugen, dass die ungelöste Palästinafrage im Vordergrund stehen müsste, da das Apartheid- und Besatzungsregime die Demokratie zerstört.7

Kurz nach der Attacke der Hamas kamen fast aus dem gesamten politischen Spektrum Israels Forderungen nach einer groß angelegten Operation, um den „Krieg“ gegen die Hamas zu „gewinnen“. Es darf bezweifelt werden, ob es überhaupt möglich ist, eine Organisation auszuschalten, die als vollwertiges Mitglied der palästinensischen Nationalbewegung angesehen wird. Und selbst wenn dies gelingen sollte, stellt sich die Frage, was Netanjahu danach tun wird, falls er überhaupt an der Macht bleibt.

Und wenn er nach dem Krieg abtreten muss, stellt sich für die nachfolgende Regierung die Frage, ob sie in der Lage sein wird, in der Palästinafrage einen Ansatz zu verfolgen, bei dem alle Bürgerinnen und Bürger zwischen Jordan und Mittelmeer ganz und gar unabhängig von ihrer Herkunft und ihrer Religion die gleichen Rechte haben werden.

1 Siehe Palestinian Center for Policy and Survey Research, Ramallah, „Public opinion poll n° 89, 13. September 2023“, www.pcpsr.org. Die Arbeitslosenquote der unter 29-Jährigen liegt in Gaza bei 75 Prozent. 80 Prozent der 2,2 Millionen Be­woh­ne­r:in­nen sind auf humanitäre Hilfe angewiesen.

2 Amira Hass, „For Israel, the Oslo Accords were a resounding success “, Ha’aretz, 12. September 2023.

3 Siehe Dominique Vidal, „Israel macht weiter“, LMd, Februar 2017.

4 „The Palestine/Israeli pulse, a joint poll summary report“, Pales­ti­nian Center for Policy and Survey Research, 24. Januar 2023.

5 Michael Barnett, Nathan Brown, Marc Lynch und Shibley Telhami, „Israel’s one-state reality“, Foreign Affairs, 14. April 2023.

6 Siehe Akram Belkaïd und Olivier Pironet, „Wütend, müde, unbeugsam“, LMd, Februar 2018.

7 Siehe Charles Enderlin, „Israels Demokratie vor dem Obersten Gerichtshof“, LMd, Oktober 2023.

Aus dem Französischen von Jakob Farah

Thomas Vescovi ist Zeithistoriker und forscht zum Nahostkonflikt; er ist Autor von „L’échec d’une utopie. Une histoire des gauches en Israël“, Paris (La Découverte) 2021.

Le Monde diplomatique vom 09.11.2023, von Thomas Vescovi