07.12.2023

Warum Milei?

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Warum Milei?

von José Natanson

Bereit zum Kulturkampf: Milei-Anhänger in Buenos Aires GUSTAVO GARELLO/picture alliance/ap
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Der Triumph von Javier Milei war ein tiefgehender Schock für Argentinien. Milei bezeichnet sich selbst als libertär, plant eine harte Politik der Strukturanpassung und vertritt gesellschaftspolitisch äußerst konservative Positionen. In Argentinien hatte man lange geglaubt, vor der rechtsextremen Welle, die einen großen Teil der Welt erfasst hat, in Sicherheit zu sein. Wie ist nun dieser Sieg zu erklären?

In erster Linie dadurch, dass sich zu den Stimmen jener Wählerschaft, die schon in der ersten Wahlrunde am 22. Oktober für Milei votiert hatte – die Unzufriedenen, die Jungen (die erstmals schon ab 16 wählen durften), der harte Kern der Reaktionäre – jene der traditionellen Anti-Peronisten addierten. In der ersten Runde, in der der peronistische Kandidat Sergio Massa die meisten Stimmen erhielt, hatten diese für Patricia Bullrich, die klassische Mitte-rechts-Option gestimmt, die aus dem Hintergrund vom ehemaligen Präsidenten Mauricio Macri (2015–2019) gesteuert wird.

Die Rechnung Macris hätte auch schiefgehen können, aber sie ging am Ende auf. Er hatte verstanden, dass die Anhänger und Wählerschaft seiner Partei in der Stichwahl eher zu Milei neigten und dass sie die Vorstellung, dass ein Sieg der extremen Rechten die argentinische Demokratie aufs Spiel setzen würde – das zentrale Wahlkampf­thema der Peronisten –, für unwahrscheinlich hielten.

Vielleicht weil wir hier nie den Faschismus europäischer Prägung erleben mussten, gab es in Argentinien nie einen „cordon sanitaire“ wie etwa in Frankreich gegen Le Pen. Für einen Teil der argentinischen Gesellschaft ist der Anti-Peronismus die wichtigste politische Ideologie. Macri hat das begriffen, deshalb unterstützte er in der zweiten Wahlrunde explizit Milei. Und das war am Ende entscheidend für den Libertären, der damit die Gesamtheit aller Stimmen des rechten Spektrums auf sich vereinen konnte.

Es gibt aber noch eine zweite Ebene des Ganzen, und die ist die eigentlich bedeutsamere. Sie hat mit den strukturellen Veränderungen zu tun, die innerhalb der Gesellschaft stattgefunden haben – und mit dem großen Unbehagen angesichts der gegenwärtigen Wirtschaftslage.

Argentinien erlebt seit einem Jahrzehnt ein bestenfalls äußerst schwaches oder gar kein Wirtschaftswachstum, die Inflationsrate liegt bei 140 Prozent, die Armutsquote bei 40 Prozent. Die angestaute Wut ist groß angesichts unerträglicher sozialer Zustände und die Frustration ebenso. Denn es sind keine Lösungen in Sicht. Das Gehalt wird nicht ausgezahlt, im Krankenhaus gibt es keine Termine, der Bus kommt nicht.

Also passiert logischerweise das, was jedes Handbuch der Politikwissenschaft von der ersten Seite an lehrt: Wahlen sind eine Abstimmung über die Regierung, und bei einem derartigen Maß an Geldentwertung und Armut war es wenig wahrscheinlich, dass der Kandidat der Regierungspartei ­gewinnt. Es war wieder einmal die Wirtschaft. Oder, mit den Worten von Juan Perón selbst: Das empfindlichste Organ des Menschen ist sein Portemonnaie.

Neu ist allerdings, dass sich die Gesellschaft, die ja auch traditionellere und berechenbarere Kan­di­da­t:in­nen hätte wählen können, für den extremsten unter ihnen entschied; einen, der magische Lösungen versprach, seine emotionale Instabilität öffentlich zur Schau stellte und sich stets mit einem Gefolge aus Opportunisten und Losern umgab; der ein Außenseiter war, einer, der sich vom üblichen Angebot an Kandidatinnen und Kandidaten abhob. Milei ist die Verkörperung des Wunschs nach einem Reset, nach einem Schock.

Er kommt unbelastet daher und sagt Dinge, die sonst keiner sagt: Es es kann kein Zufall sein, dass in einer Zeit, in der die Jugend so prekär lebt und so wenig Perspektiven hat, Milei der jüngste Präsident sein wird, den Argentinien seit der Wiedererlangung der Demokratie 1983 hatte.

Die argentinische Gesellschaft ist kaputt, in tausend Stücke zerbrochen, von ihrer Führung abgekoppelt. Dass eine ganze Flut an Unterstützungsbekundungen von Politikerinnen, Unternehmern, Anführerinnen sozialer Bewegungen, Intellektuellen und Künstlern für den Peronismus nichts am Wahlergebnis ändern konnte, bestätigt nur, dass die Elite und die meisten Menschen durch einen tiefen Graben voneinander getrennt sind. Die Welt, in der die Mächtigen – auch die nur symbolisch Mächtigen – leben, ist Lichtjahre entfernt von der Welt der anderen.

Es gibt ein starkes Gefühl der Fremdheit, dass das, was „die da oben“ reden, nichts zu tun hat mit dem, was „da unten“ geschieht. Man kann dies als kulturellen Reflex verstehen auf eine Entwicklung, bei der das Land in den letzten Jahrzehnten seine Integrationsfähigkeit und den Egalitarismus eines ganzen Jahrhunderts aufgegeben hat. Stattdessen hat sich Argentinien – ganz im Stil der oligarchisierten Gesellschaften Lateinamerikas – sozial fragmentiert. Man muss nicht in die Ferne sehen, um zu verstehen, was hier gerade passiert: Es reicht, sich Peru, Kolumbien oder Chile anzuschauen.

Obwohl Milei bei einigen seiner radikalsten wirtschaftlichen Absichten inzwischen zurückgerudert ist, ist das Herzstück seines Programms eine starke Beschneidung öffentlicher Ausgaben, das Ende des Pesos als Währung und die Verzwergung des Staats. In seinen eigenen Worten: „drastische Veränderungen, ohne Abstufungen“.

Man wird sehen, wie der Präsident reagieren wird, wenn die Mobilisierung gegen sein Programm beginnt und die ersten Streiks ausgerufen werden. Als 1984 in Großbritannien die Bergarbeiter monatelang einen erbitterten Arbeitskampf führten, ging die neoliberale Ikone Margaret Thatcher so weit, die Schulbehörden anzuweisen, an die Kinder von Streikenden keine Schuluniformen auszugeben und sie vom Schulessen auszuschließen.

Milei bezieht sich mit seinem politischen Programm – der Dollarisierung der Wirtschaft und radikalen Privatisierungen – auf den früheren Präsident Carlos Menem (1989–1999) von der peronistischen Partei, der sein Amt in einer ähnlich desaströsen wirt­schaftlichen Lage wie der heutigen antrat.1 Menem setzte in einer ideologischen Kehrtwende hin zum Neoliberalismus die Strukturanpassungsprogramme des IWF um und oszillierte ständig zwischen der Notwendigkeit, sein neoliberales Credo durch drakonische Maßnahmen zu beweisen und dem Aushandeln von Zugeständnissen an die mächtigsten Gewerkschaften.

Wie wird Milei auf den vorhersehbaren Widerstand reagieren, den seine Politik hervorrufen wird? Die beiden jüngsten Erfahrungen mit ähnlich gestrickten Regierungschefs, Donald Trump und Jair Bolsonaro, eignen sich nicht wirklich als Vergleich, denn in beiden Ländern sind gesellschaftliche Organisationen und Mobilisierungen kein so bestimmender Faktor im Mächtespiel der Politik wie in Argentinien. Die Macht der Gewerkschaften ist dort ungleich geringer, und die Hauptstädte sind weit entfernt von den wichtigsten urbanen Zentren.

Im Gegensatz zu den Vereinigten Staaten und Brasilien ist die Gesellschaft Argentiniens eine hoch mobilisierte Gesellschaft mit einer langen Geschichte des Egalitarismus. In seiner Neigung zum Jakobinertum ähnelt sie eher der französischen. Unter diesen Umständen, mit Gewerkschaften und sozialen Organisationen, die im Protestieren ausgesprochen geübt sind, und mit schlecht ausgebildeten Ordnungskräften, die einem Hang zum schnellen Schusswaffengebrauch pflegen, kann jeder Versuch, sozialen Protesten Einhalt zu gebieten, einen tragischen Ausgang nehmen.

Ein anderer wichtiger Punkt ist die liberale Ausrichtung unserer Demokratie. Seit 1983 haben verschiedene Regierungen eine Reihe von Gesetzen auf den Weg gebracht, die es ermöglichen sollen, dass jedes Individuum sein Leben in einer geschützten Privatsphäre gestalten und seine Sexualität frei praktizieren kann. Ergebnis ist ein Reihe von Verordnungen und administrativen Entscheidungen, die die Rechte von Frauen und von Minderheiten garantieren: das Recht auf Scheidung, eine Frauenquote, die Ehe für alle, das Recht auf Abtreibung. Das alles sind keineswegs Selbstverständlichkeiten in Lateinamerika.

Milei sagte im Wahlkampf, der Sexualkundeunterricht (Educación Sexual Integra, ESI) ziele darauf ab, „die Familie zu zerstören“. Mehrere seiner Mitarbeiter haben vorgeschlagen, das Recht auf Abtreibung wieder abzuschaffen und ein Gesetz zu erlassen, dass Vätern den „freiwilligen Verzicht auf die Vaterschaft“ erlaubt. Die gleichgeschlechtliche Ehe ist für diese Leute dasselbe „wie Läusebefall“. Auch wenn das Zusammenwirken von geltenden Gesetzen und sozialem Widerstand solche extreme Pläne behindern wird, scheint ein Rollback unvermeidlich.

Der letzte Punkt, den es zu betrachten gilt, ist die Frage der Menschenrechte und die Aufarbeitung der Militärdiktatur – ein sehr empfindlicher Aspekt der argentinischen Demokratie.2 Erinnern wir uns, dass bereits der erste Präsident nach der Militärdiktatur, Raúl Alfonsín (1983–1989), Gerichtsverfahren gegen Angehörige der Militärjunta in Gang setzte (ein einzigartiger Vorgang) und Néstor Kirchner (2003–2007) die Verfahren gegen die Angehörigen des Unterdrückungsapparats.

Was wird Milei tun? Wird er es wagen, die Erfolge auf dem Gebiet der historischen Gerechtigkeit zunichte zu machen, wie es seine Vizepräsidentin, die den Militärs nahestehende Tochter eines Oberstleutnants, von ihm verlangt?

Es bleibt abzuwarten, aber das Regierungsprogramm von Milei und die bereits bekannt gewordenen Besetzungen von Ministerposten legen nahe, dass wir am Anfang einer neuen politischen Epoche stehen. Wie weit wird Milei gehen? Wird er sich womöglich darauf beschränken eine neoliberale Politik umzusetzen um eine „makroökonomische Normalität“ wiederherzustellen – also die Wirtschaft anzukurbeln gemäß der klassischen neoliberalen Agenda, durch Privatisierungen, Öffnung der Märkte und Deregulierung? Oder wird er sich darüber hinaus in den Kulturkampf stürzen?

Die erste Option ist für Milei schwierig umzusetzen, aber machbar. Die Erfahrung mit Menem und das Wahlergebnis von 2019, als der amtierende neoliberale Präsident Macri mit seinem konservativen Bündnis mit lediglich knapp 8 Prozentpunkten Rückstand gegen den Peronisten Kirchner verlor, zeigen, dass die argentinische Gesellschaft nichts grundsätzlich gegen Strukturanpassungen hat. Sie verlangt aber, dass die versprochene Stabilität auch eintritt. Der Sozialpakt der 1990er Jahre, der durch die Wiederwahl von Menem 1995 legitimiert wurde, beinhaltete weniger Gleichheit und höhere Arbeitslosenquoten im Austausch für zehn Jahre Stabilität und Konsum.

Die andere Option ist sehr viel riskanter für ihn. Kulturkampf ist aufreibend und konfliktträchtig, doch zweifellos lässt sich damit ein harter Kern dauerhafter Unterstützer gewinnen. Da der neue Präsident über keine mächtige politische Partei, keine Verbündeten in den Provinzen und keine Mehrheiten in den Parlamenten verfügt, wird er seine Regierung und die Durchsetzung seines Reformprogramms auf irgend­eine Säule stützen müssen, mag sie auch noch so dünn sein.

Die Mobilisierung eines militanten Kerns stellt da eine gewisse Versuchung dar. Radikalisierte Minderheiten spalten die öffentliche Debatte und stellen das demokratische Zusammenleben infrage. Sie sind ressentimentgeladen und gefährlich, aber sie garantieren mit ihrem unermüdlichen Aktivismus auch eine schmale Basis dauerhafter Unterstützung unter schwierigen Umständen – und nicht zuletzt bieten sie eine Kampftruppe bei Zusammenstößen auf der Straße.

Die Option der neoliberalen Anpassung ist schlimm genug, aber immerhin bekannt; das zweite Szenario wird die Demokratie in einem Abgrund führen, so tief wie in unseren schlimmsten Befürchtungen.

1 Siehe Claudio Scaletta, „Déjà-vu in Buenos Aires“, LMd, November 2018.

2 Zu sehen war das zum Beispiel am großen Erfolg des Spielfilms „Argentina, 1985“ von 2022 des Regisseurs Santiago Mitre über die Arbeit der ermittelnden Staatsanwälte. Er erhielt den iberoamerikanischen Filmpreis Goya und wurde international ausgezeichnet.

Aus dem Spanischen von Katharina Döbler

José Natanson ist Leiter der argentinischen Ausgabe von Le Monde diplomatique.

© Cono Sur; für die deutsche Übersetzung LMd, Berlin

Le Monde diplomatique vom 07.12.2023, von José Natanson