07.09.2023

Reiches Singapur, armes Singapur

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Reiches Singapur, armes Singapur

von Martine Bulard

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Singapurs einzige Gewerkschaft, der National Trades Union Congress (NTUC), residiert mitten im ultramodernen Finanz- und Tourismuszentrum Marina Bay. Zwischen den extravaganten Wolkenkratzern, die hier dicht an dicht stehen, wirkt der schlichte Glasturm eher unscheinbar. Das Gebäude sei eine Schenkung des Staatsgründers und ersten Premiers Lee Kuan Yew (1923–2015), erklärt NTUC-Generalsekretär Patrick Tay stolz. „Er wollte, dass die Arbeiter einen eigenen Ort haben. Damals gab es praktisch kaum ein Gebäude in der Gegend.“

Mittlerweile haben Regierungsbehörden sowie nationale und multina­tio­nale Unternehmen hier ihren Sitz. Daneben stehen Luxushotels wie das 2010 errichtete Marina Bay Sands, das eine exklusive Shoppingmall und eines der größten Casinos der Welt beherbergt und vor allem für seine Schwimmhalle berühmt ist, die in 200 Metern Höhe drei 55-stöckige Hochhäuser überspannt.

Auch das NTUC-Gebäude beherbergt Büros von Regierungsbehörden und Konzernen wie Samsung. Patrick Tay empfängt uns im neunten Stock, noch etwas außer Atem, weil er gerade aus dem Parlament kommt. Der oberste Gewerkschafter ist zugleich Abgeordneter der regierenden People’s Action Party (PAP). Er sieht darin kein Problem: „Ich kann die Anliegen der Arbeitnehmer direkt ins Parlament tragen. Und als Mitglied der Legislative bin ich glücklich, wenn ich Änderungen zu ihren Gunsten erarbeiten kann.“

Er versteht die Gewerkschaft nicht als Gegenmacht, sondern sieht ihre Aufgabe darin, durch Konsultationen „eine Eskalation zu verhindern.“ Das sorge für die Stabilität, die sich die Bevölkerung wünscht. Arbeitgeber, Gewerkschaftsvertreter, Politiker, hohe Beamte und sogar Minister tauschen sich ständig untereinander aus und mitunter auch ihre Posten.

Stadtstaat, Arbeitgeber und Arbeitnehmervertreter bilden seit der Unabhängigkeit von Malaysia (1965) eine Ménage-à-trois, die nur deshalb so gut funktioniert, weil alle Barrieren zwischen ihnen beseitigt wurden. Sie sind die „Elite, die sich die Macht angeeignet hat“, sagt der australische Singapur-Experte Michael D. Barr.1 Lee Kuan Yew selbst gab 1966 zu Protokoll: „Das Überleben Singapurs hängt von 150 Personen ab.“

Lee hatte bereits 1963 den progressiven Flügel der PAP ausgeschaltet. 120 Personen wurden verhaftet. Der Codename der Operation lautete „Coldstore“ (Kühlhaus). 1987, drei Jahre vor Ende seiner über 30-jährigen Amtszeit, ging er erneut gegen Oppositionelle vor. Die Operation „Spectrum“ richtete sich gegen politische Aktivistinnen, Gewerkschafter, Anwälte, Studierende, Intellektuelle, die der „marxistischen Verschwörung“ beschuldigt wurden. Bis heute ist es fast unmöglich, öffentlich an diese Zeiten zu erinnern.

In mehr als 70 Jahren hat Singapur nur drei Premierminister erlebt, auf Lee Kuan Yew folgte Goh Chok Tong, und seit 2004 ist Lees Sohn Lee Hsien Loong im Amt. Letzterer hatte bereits für 2022 angekündigt, in den Ruhestand zu gehen. Damit wäre das Kapitel der Lee-Dynastie vorerst abgeschlossen gewesen, doch sein Abgang lässt auf sich warten (siehe Kasten).

Singapur war eine „illiberale Demokratie“, lange bevor der Begriff die Runde machte und sich Länder in anderen Teilen der Welt zu einer solchen entwickelten.2 So gilt zwar ein allgemeines Wahlrecht, aber die Opposi­tions­parteien werden in ein enges Korsett gezwängt. Das Streikrecht ist zwar in der Verfassung verankert, kann aber de facto nicht ausgeübt werden. So wurde der letzte Streik der Busfahrer im Jahr 2012 kurzerhand für illegal erklärt, und die Anführer wurden verhaftet.

Dennoch wird das System von der Bevölkerung kaum infrage gestellt. Denn einerseits „leben wir immer noch mit dem Gefühl, ums Überleben kämpfen zu müssen“, erklärt Wei Chen Tan, ein ehemaliger hoher Beamter chinesischer Abstammung, der betont, dass seine Familie schon Anfang des letzten Jahrhunderts eingewandert sei und „nichts mit den Festlandchinesen gemein“ habe. Die Angst vor Einwanderern einschließlich sehr reicher Einwanderer aus Peking, Schanghai oder Hongkong ist in den wohlhabenden Schichten sehr präsent.

Andererseits sorge die Staatsmacht für Wohlstand, so Stéphane Le Queux, Professor für Arbeitsbeziehungen an der Singapurer James Cook University: „Der Staat, die Gewerkschaft und die Arbeitgeber haben ein gemeinsames Ziel: den sozialen Frieden und das Wirtschaftswachstum sichern.“ Tatsächlich wurde dieser „kleine rote Punkt auf der Weltkarte“, wie In­do­ne­siens Präsident Bacharuddin Jusuf Habibie einmal abfällig über Singapur sagte, in den 1970er und 1980er Jahren zu einem der vier asiatischen „Tigerstaaten“, zusammen mit Südkorea, dem damals britisch kontrollierten Hongkong und Taiwan.

Sie alle zeichneten sich nicht gerade durch die strenge Einhaltung von Menschenrechten aus und boten damit den multinationalen Konzernen, die die Welt mit ihren Billigwaren überschwemmten, ideale Produktionsbedingungen. Im folgenden Jahrzehnt baute Singapur eine exportorientierte Wirtschaft auf, die sich auf gut ausgebildete Arbeitskräfte ohne Rechte stütze. Als der allgemeine Lebensstandard stieg, ersetzte man die einheimischen Ar­bei­te­r:in­nen durch Migrant:innen.

Dass sich Singapur zur Hightech-Metropole entwickelte, verdankt der Stadtstaat laut Wei Chen Tan vor allem Lee Kuan Yew. Er macht keinen Hehl aus seiner Bewunderung für den „Vater der Nation“: „Als China sich zu öffnen begann, begriff Lee sofort, dass er die Wirtschaft auf Hochtechnologie ausrichten und die geografische Lage Singapurs nutzen musste, um zu einem Wirtschaftszentrum zu werden, um das niemand herumkommt.“

Drei Klassen von Arbeitsmigranten

Er schwärmt von Lees damaligen Zukunftsvisionen und dessen Entscheidung, vor allem auf Bildung zu setzen, vergisst dabei allerdings zu erwähnen, dass Singapur sich schon früh auch als Steueroase profilierte, um ausländische Investitionen anzulocken. Fast 200 Milliarden US-Dollar waren es 2022. Seit vergangenem Jahr gilt Singapur, das auch Asiens „kleine Schweiz“ genannt wird, als weltweit führender Finanzplatz.

Mittlerweile hat fast die Hälfte der großen asiatischen Konzerne in Singapur eine Niederlassung. Es gibt Gerüchte, dass viele in Hongkong ansässige ausländische Unternehmen ihr Kapital in Singapur anlegen. Auf jeden Fall gab es noch nie so viele chinesische oder Hongkonger Vermögensverwaltungen für Superreiche, sogenannte Family Offices, in der Stadt. 2021 lag ihre Zahl laut der Singapurer Währungs- und Finanzmarktbehörde bei 700. Drei Jahre zuvor waren es erst eine Handvoll.

Singapur ist jedoch nicht nur auf Finanzen, Banken und Versicherungen spezialisiert. Der Stadtstaat am östlichen Ende der Straße von Malakka hat sich zu einem Drehkreuz für Handel und Industrie entwickelt, nicht zuletzt dank des nach Schanghai zweitgrößten Containerhafens der Welt.3

Um im Rennen zu bleiben, sollen die Hafenaktivitäten in einem neuen gigantischen, vollautomatisierten Hafen gebündelt werden, für den in Tuas im Westen der Insel (siehe Karte) Land aufgeschüttet wird. Der Sand für die Landgewinnung wurde aus den Nachbarländern importiert. Die Industrie (Raffinerien, Chemie und Elektronik) soll mit umziehen, während die neueren Technologien vor allem im Süden und Osten angesiedelt werden sollen. Beide Sektoren machen laut Weltbank derzeit fast ein Viertel des Bruttoinlandsprodukts aus.

Der autoritäre Staat, der die Entwicklung plant und finanziert, die multinationalen Konzerne, die dabei auf ihre Kosten kommen, und die Gewerkschaften, die stets auf Ausgleich bedacht sind, haben das Land an die Weltspitze befördert: Das Pro-Kopf-Einkommen gehört mit 77 000 US-Dollar zu den höchsten der Welt, gleich hinter Luxemburg, einer anderen Steueroase.

Es scheint also alles in bester Ordnung zu sein auf dieser Insel, mit ihren knapp 5,5 Millionen Einwohnern, die etwa so groß ist wie Hamburg (729 Quadratkilometer) – jedenfalls für diejenigen mit singapurischer Staatsangehörigkeit oder ständigem Wohnsitz. Sie machen zwei Drittel der Bevölkerung aus, und nur sie werden in den Statistiken und in den meisten Sozialprogrammen berücksichtigt. Die anderen, die Zuwanderer, existieren quasi nicht. Dabei stellen sie 40 Prozent der Erwerbsbevölkerung und halten das Land am Laufen.

Unternehmen, Universitäten, Forschungseinrichtungen und Behörden heuern sie je nach Bedarf an. Die Glücklichen erhalten eine Aufenthaltsgenehmigung von zwei bis fünf Jahren, manchmal auch länger. Unter den Zugewanderten gibt es eine klare Hierarchie: Ganz oben stehen die hochqualifizierten Ausländer. Sie bekommen einen „Employment Pass“ (kurz E-Pass) ausgestellt, gleich danach folgen die Diplomingenieure mit dem sogenannten Skilled Labour Pass (S-Pass).

Arbeitnehmerinnen mit E- oder S-Pass dürfen nur eingestellt werden, wenn ihr Einkommen im obersten Drittel der branchenüblichen Gehälter liegt. „Um Sozialdumping zu verhindern“, wie das Arbeitsministerium erklärt. Sie dürfen ihre Familien mitbringen und haben ein Niederlassungsrecht, sofern sie es sich leisten können, denn die Mieten sind teuer. Ein junger australischer Wissenschaftler berichtet, dass er für eine Fünfzimmerwohnung am Stadtrand etwa 10 000 Singapur-Dollar (6700 Euro) im Monat zahlt. Zusammengenommen machen diese eher privilegierten Einwanderer circa 10 Prozent der Erwerbsbevölkerung aus.

Die restlichen 30 Prozent besteht aus dem Heer der Unqualifizierten, der „Work Permit Holders“ (WPH). An­wäl­t:in­nen und Menschenrechtsorganisation wie TWC2 (Transient Workers Count Too) prangern immer wieder die elenden Arbeits- und Lebensbedingungen an.

TWC2-Leiter Alex Au, ein pensionierter Manager, empfängt uns in seinem bescheidenen Büro am Rande von Little India. Er beschreibt die Hölle, die diese Arbeiter durchleben. Einen Mindestlohn gibt es nicht, sie haben keine Möglichkeit ihre Familien nachkommen zu lassen und eine Person mit singapurischem Pass zu heiraten ist strengstens verboten.4

Die große Mehrheit arbeitet im Baugewerbe, auf Werften, in der Chemie- und Ölindustrie, als Reinigungskräfte und in untergeordneten Positionen in Cafés, Restaurants und Hotels. Sie kommen aus Myanmar, China, Malaysia, Bangladesch oder von den Phi­lip­pi­nen, leisten unzählige, meist unbezahlte Überstunden und arbeiten sieben Tage die Woche, ungeachtet des gesetzlich vorgeschriebenen Ruhetags. Das Gesetz ist nämlich so formuliert, dass es dem Arbeitgeber erlaubt, „den arbeitsfreien Tag zu streichen oder den Lohn zu kürzen, sofern der Arbeitnehmer einverstanden ist“, sagt Au. „Als ob es sich um ebenbürtige Verhandlungspartner handelt. Wenn er nicht einverstanden ist, verliert er seinen Job und wird ausgewiesen.“

Diese Arbeiter müssen nicht nur harte und schlecht bezahlte Arbeit leisten, sie werden auch in Massenunterkünften, sogenannten Dormitories zusammengepfercht. Hinter hohen Zäunen reihen sich die Containerbauten manchmal über hunderte Meter an­ein­ander. So auch im Zentrum von ­Tuas. Zur Endstation der Metro braucht man von hier aus eine gute halbe Stunde mit dem Bus inklusive Fußmarsch zur Haltestelle. Die Unterkunft wird vom Arbeitgeber gestellt. Sollte ein Arbeitnehmer kündigen, wird er obdachlos und kann aus Singapur abgeschoben werden.

Zu ihren Arbeitsplätzen werden die meisten auf offenen Laster-Ladeflächen transportiert, ohne Schutz vor Regen und Sonne. Dann schuften sie den ganzen Tag auf Baustellen oder beim Unkrautjäten am Straßenrand. „Ein Mensch kostet weniger als ein Unkrautvernichtungsmittel“, kommentiert Stéphane Le Queux den zynischen Umgang mit den Arbeitsmigranten. Man sieht sie in der Mittagspause im Schatten auf dem Boden dösen und spätabends darauf wartend, dass der Fahrer sie wieder einsammelt und zurück nach Tuas fährt.

Für die meisten Singapurer ist der Anblick nichts Ungewöhnliches. Jede Familie, die etwas auf sich hält, beschäftigt ihrerseits mindestens einen „Helper“: junge Frauen von den Phi­lip­pi­nen, aus Myanmar, Malaysia oder China, die mit im Haushalt wohnen, keine festen Arbeitszeiten kennen, ihren Arbeitgebern auf Gedeih und Verderb ausgeliefert sind und manchmal auch misshandelt werden. „Nach jahrelangem Kampf haben wir erreicht, dass diesen Dienstmädchen einmal im Monat ein freier Tag garantiert wird“, erzählt Au. Ein Tag im Monat!

„Unser Modell lässt sich einfach beschreiben“, so Au weiter. „Wir sind reich, weil sich unsere hohe Produktivität auf schlecht bezahlte ausländische Arbeitskräfte stützt. Als Singapur seine Produktion hochfuhr, um mit der chinesischen Konkurrenz mithalten zu können, stieß es auf die japanische Konkurrenz. Um die Lohnkosten niedrig zu halten, aber gleichzeitig die Hochtechnologie zu fördern, entschied sich die Regierung, diese Art der Arbeitsmigration zu fördern.“

Abgesehen von einigen Ak­ti­vis­t:in­nen und NGOs stößt dieses System auf allgemeine Akzeptanz. Der NTUC versichert, sich um die Probleme zu kümmern. Im Jahresbericht der Gewerkschaft, für den der Premierminister persönlich das Vorwort geschrieben hat, wird von einem Arbeitnehmer berichtet, der die Bezahlung von Überstunden durchgesetzt hat, und von einem anderen, der sich erfolgreich weiterqualifiziert hat. Das ist dann allerdings auch schon alles.

Auch für die beiden Oppositionsparteien ist das kein großes Thema: Tan Cheng Bock, der Gründer der Singapore Progressive Party (PSP), die nur mit zwei außerordentlichen Abgeordneten, sogenannten Non-constituency Member of Parliament (NCPM)5, im Parlament vertreten ist, meint lediglich, man solle „diejenigen, die man ins Land holt, angemessen empfangen“. Die Arbeiterpartei (WP) verfügt nach zwei Rücktritten immerhin über acht reguläre Abgeordnete, so viele wie seit 1965 nicht mehr. Sie ist allerdings eher das Sprachrohr junger Singapurer, die sich darum sorgen, dass mittel- und hochqualifizierte Ausländer ihnen ihren Job im Bankensektor streitig machen.

„Der Zustrom von Ausländern muss den Singapurern greifbare Vorteile bringen“, erklärte der WP-Oppositionsführer Pritam Singh am 21. April 2022. Einige Tage zuvor hatte er gefordert, dass „nur Ausländer, die einen Englischtest bestanden haben“, eine ständige Aufenthaltserlaubnis erhalten oder eingebürgert werden sollen. Die Forderung sorgte durchaus für Kontroversen. Schließlich gelten in dem Land vier Amtssprachen: Englisch, Mandarin, Malaiisch und Tamil. 74,3 Prozent der Singapurer sind chinesischer, 13,6 Prozent malaiischer und 8,9 Prozent indischer Abstammung, dazu kommen 3,2 Prozent „andere“.

„Machen schlechte Englischkenntnisse einige von uns etwa weniger singapurisch?“, fragten die beiden Wissenschaftler Mathew Mathews und Melvin Tay in einem Gastbeitrag der Singapurer Tageszeitung The Straits Times.6 Während die wohlhabenden und gebildeten Kreise ein perfektes Englisch pflegen, spricht die einfache Bevölkerung „Singlish“. Nachdem dieser melodische historische Dialekt, in dem sich alle vier Sprachen mischen, lange Zeit in Zeitungen, Werbeanzeigen und im Fernsehen – wo jede ethnische Gruppe ihren eigenen Sender hat – verboten war, kehrt er inzwischen wieder in den öffentlichen Raum zurück. Die von Singh angestoßene Debatte fand jedoch bei manchen Anklang. Auch zwischen den Singapurern nimmt die Konkurrenz zu, mit Englisch als Distink­tions­merkmal.

Das beginnt bereits in der Schule. Im Westen blickt man häufig voller Neid auf das „Singapurer Modell“, weil singapurische Schü­le­r:in­nen in internationalen Schulvergleichen regelmäßig am besten abschneiden. Die ersten beiden Grundschuljahre sind dem Erlernen von Englisch in Wort und Schrift, Mathematik und einer Muttersprache nach Wahl vorbehalten. In den folgenden beiden Jahren kommen Naturwissenschaften und außerschulische Aktivitäten hinzu.

Am Ende der sechsjährigen Grundschulzeit steht jedoch eine hochselektive Abschlussprüfung, die PSLE (Primary School Leaving Examination). Im Alter von zwölf Jahren entscheidet sich, wer auf die besten Highschools gehen darf und damit später Zugang zu den renommiertesten Universitäten und den bestbezahlten Jobs erhält. Unnötig zu sagen, dass der Druck auf die Schülerinnen und Schüler groß ist, manche Eltern sagen sogar, „verrückt“.

Außerdem werden auf diese Weise „Klassen- und ethnische Ungleichheiten“ reproduziert, sagt die malaiische Managerin eines Start-ups, die anonym bleiben möchte. Sie ist Mitte 30, modebewusst mit Kopftuch und redegewandt. Die Voraussetzung für beruflichen Erfolg sei, dass zu Hause perfektes Englisch gesprochen wird und, ganz wichtig, dass man Einzelunterricht an Privatschulen erhält. Der Preis dieser Schulen bemisst sich nach ihrer Erfolgsquote bei den PSLE-Prüfungen. Ihre Eltern, beide Kleinunternehmer, „weder reich noch arm“, hätten für ihren Erfolg viele Opfer gebracht.

Laut dem bekannten Historiker und Demokratieaktivisten Thum Ping Tjin, genannt PJ Thum, geben die reichsten 20 Prozent fast viermal so viel Geld für die Bildung ihrer Kinder aus wie die Haushalte am unteren Ende der Skala.7 Außerdem haben 59,2 Prozent der Singapurer chinesischer Abstammung im Alter von 20 bis 39 Jahren einen Universitätsabschluss, während es bei den Malaien nur 16,5 Prozent sind.8

Todesstrafe für Kleindealer

Offiziell gibt es keine Diskriminierung nach Herkunft. Es gibt zwar ethnisch geprägte Stadtteile – Little India, China Town, Kampung Glam (das muslimische Viertel) –, sie dienen aber eher als Treffpunkte oder sind Einkaufsorte und weniger ethnisch homogene Wohngebiete. 80 Prozent der Bevölkerung sind Wohneigentümer, was in Singapur bedeutet, dass sie einen Pachtvertrag über 99 Jahre für ein Apartment in einem großen staatlichen Wohnkomplex abgeschlossen haben. Die staatliche Wohnungsbaubehörde HDB (Housing and Development Board) muss jede ethnische Gruppe entsprechend ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung aufnehmen, also zum Beispiel zu 13,6 Prozent Malaien. Es gibt demzufolge keine Ghettos auf der Insel. Und dennoch sind einige gleicher als andere.

Die wachsende Unruhe in der bislang relativ geschützten Mittelschicht haben den stellvertretenden Premierminister und designierten künftigen Premier Lawrence Wong dazu veranlasst, im Juni 2022 einen einjährigen Konsultationsprozess namens Forward Singapore ins Leben zu rufen. Er nahm dabei kein Blatt vor den Mund: „Studierende fühlen sich in einem System eingesperrt, in dem schon in jungen Jahren viel auf dem Spiel steht, während Uniabsolventen und Arbeitnehmer Angst um ihre Karriere haben und fürchten, sich keine Wohnung leisten zu können.“9

Anders als für ihre Eltern ist es für junge Menschen praktisch unmöglich geworden, eine Immobilie zu kaufen. Selbst verheiratete Paare wohnen häufig noch bei den Eltern. Dabei nimmt der Reichtum absolut zu – die Hälfte der Singapurer gehört zu den reichsten 10 Prozent der Weltbevölkerung.10

Singapurs sozialer Kitt, eine Mischung aus instrumentalisierten „konfuzianischen“ Werten wie Respekt vor Hierarchien, Gehorsam und Gerechtigkeit und vermeintlich westlichen Werten, beginnt zu bröckeln. Bei den letzten Parlamentswahlen 2020 erhielt die Regierungspartei zwar 83 von 93 Sitzen. Doch damit erzielte sie trotz maßgeschneiderter Wahlkreise und dominanter Medienpräsenz (die Opposition hatte praktisch so gut wie keinen Zugang) eines ihrer schlechtesten Ergebnisse.

Wird der künftige Premierminister wirklich eine Lehre daraus ziehen? Das ist keineswegs sicher. Jegliche öffentliche Debatte, auch über Umweltfragen, wird als potenzielle Bedrohung für die Stabilität angesehen und daher eingeschränkt. Auf die Kritik am Bau der Metrolinie 8, der „Cross Island Line“, für die das größte Naturschutzgebiet der Insel untertunnelt und drei Hektar Wald gerodet werden müssen, reagierte das Verkehrsministerium lediglich mit dem Hinweis, dass sich die Fahrzeit um sechs Minuten verkürzen würde, und versprach, die Fahrpreise um 15 Prozent zu senken.

Die Marina Bay war ähnlich umstritten, berichtet Caroline Wong, Vizedekanin an der James Cook University. Die Antwort war dieselbe: „Im Namen des Gemeinwohls, das allein ökonomisch definiert wird, werden kritische Stimmen und abweichende Meinungen ignoriert. Lebensqualität und Wachstum sind aber nicht dasselbe.“

Bisher hat die Regierung Kri­ti­ke­r:in­nen einfach mundtot gemacht. Sie verfügt dafür über ein ganzes Arsenal an Möglichkeiten. So kann sie zum Beispiel die Vorstandsmitglieder und Chefredakteure der großen Medien direkt ernennen.

Singapur steht auf der Rangliste der Pressefreiheit von Reporter ohne Grenzen auf Platz 129 von 180. 2021 wurde etwa die Nachrichtenseite The Online Citizen dichtgemacht und einige Monate später der Herausgeber Terry Xu und der Redakteur Daniel de Costa zu drei Wochen Gefängnis verurteilt.

Seit 2019 gibt es ein Gesetz „zum Schutz vor Lügen und Manipulation“. Das sogenannte Fake-News-Gesetz ermöglicht es, nicht genehme Interpretationen als „Lüge“ zu bezeichnen, was entsprechende Sanktionen nach sich zieht. Besonders hart trifft es Aktivist:innen, die sich gegen die Todesstrafe engagieren. Diese wird in Singapur, das zu den Ländern mit den schärfsten Drogengesetzen weltweit gehört, schon beim Handel mit sehr geringen Rauschgiftmengen verhängt.

Seit die Regierung die Vollstreckung von Todesurteilen im März 2022 nach einer zweijährigen Coronapause wiederaufgenommen hat, wurden schon 16 Menschen wegen Drogendelikten hingerichtet – in oftmals kaum als fair zu bezeichnenden Verfahren.

Menschenrechtsaktivist:innen, die dagegen protestieren, werden auf unterschiedliche Weise schikaniert. Sie werden überwacht, erhalten polizeiliche Vorladungen und ihre Webseiten werden zensiert. Gewiss, Singapur ist nicht Peking. Aber selbst ein bekannter und beliebter Intellektueller wie PJ Thum erklärt uns, dass er irgendwann keine andere Alternative mehr sah, als ins Exil zu gehen: „Es wurde einfach zu hart.“ Seine Beiträge für die regierungskritische Plattform New Naratif schreibt er mittlerweile von Großbritannien aus.

1 Michael D. Barr, „The Ruling Elite of Singapore: Networks of Power and Influence“, London (I.B.Tauris) 2014.

2 Siehe dazu die Reportage aus vier Dekaden (1983–2023) von Sven Hansen, „Singapur revisited“, in: Edition LMd No. 33, „Süd.Ost.Asien“, Berlin (taz Verlag) 2023.

3 Siehe Philippe Revelli, „Der Drache, der Tiger und die Armen“, LMd, Juli 2016.

4 Siehe die Erfahrungsberichte: www.twc2.org.sg.

5 Die Abgeordneten werden nach einem kombinierten System aus Direkt- und Listenwahlen gewählt. NCMP steht für Non-constituency Member of Parliament. Um sicherzustellen, dass nicht alle oder fast alle Sitze von der führenden Partei besetzt werden, müssen mindestens 12 Sitze an Oppositionskandidaten gehen. Wird diese Zahl in der regulären Wahl nicht erreicht, werden sie durch ein „Lucky-Loser-Prinzip“ mit NCMPs aufgestockt.

6 Mathew Mathews und Melvin Tay, „Must you speak English to qualify as Singapore PR or new citizen“, The Straits Times, 4. März 2023.

7 Thum Ping Tjin, „Explainer: Inequality in Singapore“, New Naratif, 28. April 2023.

8 Statistikamt von Singapur, 2023.

9 „Lawrence Wong launches,Forward S’pore‘ to set out road map for a society that benefits many, not a few“, The Straits Times, 28. Juni 2022.

10 „2019 Global Wealth Report“, Credit Suisse, 2020.

Aus dem Französischen von Nicola Liebert

Skandale an der Spitze

von Martine Bulard

Seit Singapurs langjähriger Premierminister Lee Hsien Loong, der älteste Sohn des Staatsgründers und ersten Premiers Lee Kuan Yew, seinen baldigen Rückzug aus der Politik angekündigt hat, rappelt es gehörig im Karton: Im Juli etwa entließ der 71-jährige Premier, der seit 2004 regiert, seinen Verkehrsminister Subramaniam Iswaran, der wie der bekannte Unternehmer und Milliardär Ong Ben Seng wegen des Verdachts auf Korruption verhaftet worden war.

Einige Wochen zuvor waren der Außenminister und der Minister für Inneres und Justiz wegen der Luxusrenovierung ihrer Häuser unter Verdacht geraten. Sie wurden zwar von den Vorwürfen entlastet, doch die Bilder ihrer Anwesen sorgten für einige Empörung. Und dann musste auch noch der Parlamentspräsident zurücktreten, weil er einen Abgeordneten aus der Opposition, der die Einführung eines Mindestlohns fordert, als „fucking populist“ bezeichnet hatte. Er hatte die Worte zwar bloß gemurmelt, aber das direkt in ein angeschaltetes Mikrofon.

Überdies trat Tharman Shanmugarat­nam, ein Schwergewicht sowohl in der herrschenden People’s Action Party (PAP) als auch in der Regierung, von all seinen Ämtern zurück, um bei der Präsidentschaftswahl kandidieren zu können. Seine Kandidatur war so gut eingefädelt, dass er bei den Wahlen am 1. September wenig überraschend gewann.

Singapurs Präsident hat in der Republik nur eine repräsentative Rolle – mit einer Ausnahme: die Besetzung von Schlüsselpositionen in der öffentlichen Verwaltung. Damit könnte er auf den designierten Premierminister Lawrence Wong Einfluss nehmen. Dieser soll entweder vor oder nach den nächsten Parlamentswahlen die Nachfolge von Lee Hsien Loong antreten. Die Wahlen sollen spätestens am 23. November 2025 stattfinden, im Vorfeld könnten die politischen Turbulenzen wieder Fahrt aufnehmen.

Le Monde diplomatique vom 07.09.2023, von Martine Bulard