08.06.2023

Mitsotakis oben auf, Tsipras am Boden

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Mitsotakis oben auf, Tsipras am Boden

In Griechenland hat die rechte Nea Dimokratia am 21. Mai einen klaren Wahlsieg errungen, aber keine absolute Mehrheit im Parlament. Die will sich Regierungschef Mitsotakis beim zweiten Urnengang am 25. Juni sichern, der für die Linkspartei Syriza zur Schicksalswahl wird.

von Niels Kadritzke

Kyriakos Mitsotakis schwört seine Anhänger auf die neue Wahl am 25. Juni ein NICOLAS KOUTSOKOSTAS/picture alliance/NurPhoto
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Es war ein schockierendes Wahlergebnis. In griechische Medien war von einem „Erdbeben“ die Rede, das von „seismischen Verschiebungen“ in der Parteienlandschaft künde. Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis und seine Partei Nea Dimokratia (ND) hatten 40,8 Prozent der Wählerstimmen gewonnen, deutlich mehr als erwartet.

Das konservative Lager feierte die „triumphale Bestätigung“ der ND-Regierung, frohlockte aber noch mehr über die „vernichtende Niederlage“ der Linkspartei Syriza, die um mehr als 20 Prozentpunkte abgehängt wurde. Die 20,1 Prozent für Syriza und Oppositionsführer Alexis Tsipras bedeuten, dass sie gegenüber den letzten Wahlen im Juli 2019 ein Drittel ihres Wähleranhangs eingebüßt haben.

Einige ND-Stimmen verkündeten bereits den „Anfang vom Ende“ der Syriza. Es wäre die Erfüllung eines Traums, den ein prominenter Vertreter des rechten Parteiflügels schon 2019 definiert hatte: Die Regierung Mitsotakis müsse dafür sorgen, dass die Linke in Griechenland nie wieder an die Macht kommt. Die vier Jahre Tsipras-Regierung sollten eine „Parenthese“, ein unglücklicher politischer Zwischenfall bleiben.

Zunächst einmal wird die ND ihre Regierungszeit um weitere vier Jahre verlängern können. Allerdings erst über eine zweite Wahl am 25. Juni, denn am 21. Mai erreichte Mitsotakis noch keine absolute Mehrheit der 300 Parlamentssitze. Das liegt an dem reinen Verhältniswahlrecht, das die Tsipras-Regierung 2016 durchgesetzt hatte, das aber von der ND wieder abgeschafft wurde. Für den nächsten Urnengang gilt wieder das frühere Wahlrecht, das der stärksten Partei – je nach ihrem Prozentanteil – einen Bonus von 30 bis 50 Sitzen in der Vouli zuspricht.1

Mitsotakis plante von Anfang an, eine neue Wahl herbeizuführen, falls er am 21. Mai keine absolute Mehrheit erreichen würde. Die will er sich jetzt am 25. Juni dank der 50 Bonussitze holen, die der ND zustehen, sollte sie erneut mehr als 40 Prozent der Stimmen gewinnen. Kann sie ihr Ergebnis vom Mai wiederholen, würde sie dann auf 171 Sitze kommen. Der Vizeparteivorsitzende Adonis Georgiades, der den rechtspopulistischen Flügel der ND repräsentiert, nannte als Zielmarke sogar 180 Sitze, mit denen gewisse Verfassungsänderungen möglich wären. Aber er wurde von Mitsotakis zurückgepfiffen, der sich eher Sorgen macht, dass am 25. Juni etliche ND-Wählerinnen und -Wähler angesichts der klaren Führung zu Hause bleiben könnten.

Eine sinkende Wahlbeteiligung ist nicht die einzige Gefahr, die Mitsotakis im Auge haben muss. Am 21. Mai ist eine neue Partei namens Niki (Sieg) aus dem Stand auf 2,9 Prozent gekommen. Sollte diese ultrakonservative Partei eines Theologen, der die Nation im Geist des „orthodoxen Griechentums“ umerziehen will, die 3-Prozent-Hürde überwinden, würde sich die Schwelle für das Erreichen der absoluten Parlamentsmehrheit erhöhen. Um 180 Sitze zu erringen, müsste die ND bei einem 5-Parteien-Parlament 43,5 Prozent schaffen, bei einen 6-Parteien-Parlament wären 45,5 Prozent erforderlich, bei einem 7-Parteien-Parlament sogar 47 Prozent.

Ob 180 Sitze oder nicht, die Regierungspartei wird ihren flächendeckenden Sieg sehr wahrscheinlich wiederholen können. Die griechische Wahllandkarte wird also nach dem 25. Juni genauso aussehen wie nach dem 21. Mai: monochrom blau, bis auf einen roten Flecken im äußerten Nordosten. Der Wahlbezirk Rhodopen ist der einzige von 59, in dem die Syriza stärkste Partei geblieben ist, was sie einem Kandidaten verdankt, der die lokale muslimische Minderheit repräsentiert.

Der Verlust der übrigen sieben Wahlbezirke, die Syriza 2019 noch behaupten konnte, war ebenso bitter wie der Verlust von landesweit fast 600 000 Stimmen. Das Wegbrechen eines vollen Drittel ihres Wähleranhangs – bei leicht gestiegener Wahlbeteiligung – hat die Partei in eine Schockstarre versetzt.2 Auf dieses Desaster war niemand vorbereitet.

Dabei glaubte niemand in der Syriza-Führung, dass man am 21. Mai vor der ND liegen würde. Man rechnete mit einem Rückstand von 3 bis 5 Prozentpunkten und einem Stimmenanteil von über 30 Prozent. Damit wollte man eine Anti-Mitsotakis-Dynamik entfachen und der Linkspartei in den darauf folgenden Wahlen die Bonussitze der stärksten Partei verschaffen. Auf dieser Basis könnte man dann eine „progressive Koalition“ bilden, mit der sozialdemokratischen Pasok als Juniorpartner.

Dieses Wunschszenario entfaltete offenbar eine autosuggestive Wirkung. Sie verführte Tsipras dazu, noch drei Tage vor dem Wahlsonntag zu verkünden, dass die Tage von Mitsotakis in der Villa Maximos, dem Sitz des Regierungschefs, gezählt seien.

Zwei Stunden nach Schließung der Wahllokale war Tsipras von seiner Wolke sieben in die brutale Realität abgestürzt. Und seine politischen Gegner höhnten über die „schlechteste Opposition aller Zeiten“ und den „einmaligen Fall eines politischen Führers, der nicht nur von seinen Voraussagen dementiert wird, sondern sogar in einer anderen Wirklichkeit lebt“.3

Das Trugbild einer „anderen Wirklichkeit“ soll Tsipras – nach Berichten aus der Parteizentrale – seinen Gewährsleuten an der Basis angelastet haben. Die hätten ihn über die Stimmung im Lande nicht informiert. Doch für die Pflege von Illusionen ist in erster Linie der Empfänger illusionärer Botschaften verantwortlich. Und so hat Tsipras vier Tage nach den Wahlen vor dem Zentralausschuss der Partei die persönliche Verantwortung für die Niederlage übernommen.

Von einem Rücktritt war nicht die Rede, obwohl der Vorsitzende kurz vor den Wahlen erklärt hatte, bei mehr als 6 Prozentpunkten Rückstand gegenüber der ND werde es „Sanktionen“ geben. Auf der Parteikonferenz konnte dieses Thema niemand ansprechen, weil die Parteiführung beschlossen hatte, dass es nach der kritischen Bestandsaufnahme des Vorsitzenden keine weiteren Redebeiträge geben werde. Aber es würde ohnehin niemand den Rücktritt von Tsipras fordern, denn alle wissen: Ohne ihren charismatischen Anführer würde die Partei noch mehr Stimmen verlieren.

Genau das macht das Dilemma der Syriza nach dem 21. Mai aus. Ein Kolumnist der linken Zeitung Efimerida ton Syntakton formuliert es so: Für die Partei ist Tsipras „sowohl ein Ass als auch eine verbrannte Karte“. Und ein publizistischer Intimfeind der Linkspartei frohlockt: „Syriza kann es mit Tsipras nicht schaffen, aber ohne Tsip­ras auch nicht.“

Was die Syriza am 25. Juni schaffen will, ist nicht nur die Reduzierung des Rückstands gegenüber der ND. Das wird schwer genug, aber ebenso schwierig wird es sein, die dritte Partei, die sozialdemokratische Pasok, auf Distanz zu halten. Mit ihrem vor 18 Monaten neu gewählten Vorsitzenden Nikos Androulakis ist der einst von Andreas Papandreou gegründeten Partei, die in den Krisenjahren fast in der Bedeutungslosigkeit versunken war, ein bemerkenswertes Comeback gelungen. Gegen über den Wahlen von 2019 konnte sie ihren Stimmenanteil von 8,1 auf 11,5 Prozent steigern.

Damit hat für die Syriza bereits das Duell mit der Pasok um die Hegemonie in der griechischen Linken begonnen. Sollte sie weiter an Boden verlieren und die Pasok erneut zulegen, könnte das eine Wählerdynamik in Gang setzen, die auf mittlere Sicht die Pasok erneut zur stärksten Kraft im linken politischen Spektrum machen würde.

Am Horizont scheint eine Parteienlandschaft auf, die sehr an die „Normalität“ erinnerte, die in der Ära zwischen dem Ende der Militärdiktatur (1974) und dem Beginn der Grexit-Krise (2009) erinnert: ein bipolares System, in dem sich eine Rechtspartei (ND) und eine Partei der linken Mitte (Pasok) an der Macht abwechseln.

Aus dieser Perspektive verliert das Wahlergebnis vom 21. Mai erheblich an Dramatik. Was der Syriza eine schwarze Wahlnacht bescherte, ist bei Tageslicht betrachtet keineswegs ein „tektonisches“ Ereignis, wie es die Rede vom politischen Erdbeben suggeriert. Tatsächlich lag der Wählerzuspruch für die ND im Bereich des Erwartbaren und war schockierend nur für realitätsblinde Linke, die Mitsotakis auf der Verliererstraße sahen. Auch der Zuwachs für die Pasok war keine Überraschung.

Beide Entwicklungen scheinen die Theorie zu bestätigen, dass der Aufstieg der Linkspartei nur ein Produkt der Krise ist, dass also ihre Tage mit dem Ende der Krise gezählt seien. So sehen es nicht nur konservative Kommentatoren. Auch ein Pasok-Veteran, der vor 20 Jahren Bildungsminister in der Simitis-Regierung war, interpretiert die Niederlage der Syriza als „Schlusskapitel“ der politischen Ära nach der Junta (1974), „die mit diesen Wahlen ihren Kreis vollendet hat“.

In dieser Sichtweise steckt ein Stück unangenehmer Wahrheit, die Tsipras und die Syriza lange Zeit verdrängt haben. Der Aufstieg der Syriza basierte auf einem soliden Sockel von Pasok-Wählerinnen und -Wählern, die gut zwei Drittel ihrer Gefolgschaft ausmachten. Einen Teil dieser Wählerschaft hat sich die heutige Pasok zurückgeholt, und sie will natürlich auch den Rest. Sollte sie das schaffen, würde die Syriza wieder zu der 5-Prozent-Partei schrumpfen, die sie vor Beginn der Krise war.

Die zyklische Theorie über „Aufstieg und Fall der Linkspartei“ ist jedoch zu einfach – und zu bequem. Da sie den Verschleiß der Syriza als „natürliche“ Entwicklung zeichnet, verstellt sie die Frage, welchen Anteil die Partei und ihre Führung an dem Wahldesaster haben. Eine Antwort auf diese Frage setzt eine nüchterne Bestandsaufnahme ihrer Wählerverluste voraus.

Die Linkspartei hat Stimmen nicht nur verloren, sondern großzügig in allen Himmelsrichtungen verstreut – auf der parteipolitischen wie auf der so­zia­len Ebene. Von den 1,78 Millionen Stimmen, die sie 2019 verbuchen konnte, verlor sie rund 11 Prozent an die ND, 10 Prozent an die Pasok, 5 Prozent an die KKE und 3 Prozent an die MeRA25. Der größere Teil wanderte also nach rechts: zur ND und zur sozialdemokratischen Pasok; der kleinere nach links: zu den orthodox-leninistischen Kommunisten und zur Partei von Ex-Finanzminister Jannis Varoufakis.

Entscheidend war allerdings der „Verlust der Mitte“. Auch in Griechenland ist es dieses umworbene Wählerspektrum, das über Sieg und Niederlage entscheidet. Die Wählerinnen und Wähler, die sich selbst der politischen Mitte zurechnen, machen ein gutes Fünftel aller Wahlberechtigten aus. Von denen gingen 40,6 Prozent an die ND und 25,1 Prozent an die Pasok. Für die Syriza, deren strategisches Wahlziel die Eroberung der „linken Mitte“ war, stimmten gerade mal 12,4 Prozent.

Das Scheitern dieser Strategie zeigt sich auch auf der sozialen Ebene. Hier erlitt die Partei ihre größten Verluste bei den Klassen und Berufsgruppen, die Tsipras und seine Partei am intensivsten umworben hatten: zum einen die „Armen und Unterprivilegierten“, zum anderen die wichtigen Kohorten der Mittelklasse.

Die größten Stimmenverluste gegenüber den Wahlen von 2019 erlitt die Syriza in den proletarisch-kleinbürgerlichen Vierteln von Athen, Piräus und Thessaloniki. Aber selbst bei den Arbeitslosen fiel sie von 42 auf 26 Prozent zurück. Einzig bei den abhängig Beschäftigten im Privatsektor lag die Linkspartei noch knapp vor der ND. Bei den Beschäftigten des öffentlichen Dienstes dagegen, bei denen sie 2019 noch in Führung gelegen hatte, blieb sie um 5,2 Prozentpunkte hinter der ND (35,1 Prozent) zurück. Die Regierungspartei bekam auch bei den Hausfrauen (44,3 Prozent) und Rentnern (46,4 Prozent) fast doppelt so viele Stimmen wie die Syriza; bei der bäuerlichen Bevölkerung waren es sogar dreimal so viele.

Katastrophale Einbrüche erlebte die Partei auch bei der Gruppe, die den Kern der griechischen Mittelschicht ausmacht: die Freiberufler. Von denen stimmten 55 Prozent für die ND und nur 13 Prozent für die Syriza. Der Vorsprung von 42 Prozentpunkten bei dieser Wählerkohorte wurde von der ND nur noch in der Altersgruppe der über 65-Jährigen übertroffen. Aber auch in allen übrigen Altersgruppen hatte die Mitsotakis-Partei einen deutlichen Vorsprung – sogar bei der jüngsten (17 bis 29 Jahre), bei der die Syriza bei allen Vorwahlumfragen noch vorn gelegen hatte.3

All die Stimmenverluste der Linkspartei gehen sowohl auf eine illusionäre Strategie als auch auf taktische Fehler zurück, die sich zu einer selbstzerstörerischen Rezeptur summierten. Tsipras selbst hat einen guten Teil der linken Stammwähler verprellt, als er in einem Interview äußerte, die Syriza wolle auch die Stimmen „irregeleiteter“ Ex-Wähler der verbotenen neonazistischen Chrysi Avgi gewinnen. Der Schuss ging nach hinten los, denn er vertrieb tausende engagierter Antifaschisten in Richtung der KKE und kleiner Linksparteien, die es nicht ins Parlament schafften.

Dass die Syriza keine Hemmungen hatte, in rechten Gewässern zu fischen, bewies sie auch mit ihrer Positionierung in einer absurden, chauvinistisch aufgeheizten Debatte über das Label „TurkAegean“, das die Türkei für ihre Tourismuswerbung nutzt. Die Regierung habe gegen diesen „Missbrauch“ nichts unternommen, behauptete Ex-Außenminister Giorgos Katroungalos vier Wochen vor den Wahlen, und geißelte die „mangelnde Entschlossenheit, unsere nationalen Interessen zu verteidigen“.

Derselbe Katroungalos schaffte es, drei Tage vor den Wahlen die Kohorte der Freiberufler zu verschrecken – die wichtigste Zielgruppe im „Kampf um die Mitte“. Er ließ sich in einer TV-Debatte zu der Feststellung verleiten, dass diese große Berufsgruppe zu wenig Beiträge in die Rentenversicherung abführt. Das ist völlig korrekt, denn ein Großteil der Ärzte, Rechtsanwältinnen und Handwerker meldet viel zu niedrige Einkommen, womit sie auch ihre Einkommensteuer minimieren. Aber natürlich war die Aussage eine Steilvorlage für die ND, die behaupten konnte, die „heimliche Agenda“ der Syriza sehe Beitrags- und Steuererhöhungen für die Freiberufler vor. Das wurde von Tsipras zwar umgehend dementiert, der den Übeltäter auch von der Liste der Parlamentskandidaten strich. Aber der Schaden war nicht mehr zu reparieren. Demoskopen schätzten den Stimmenverlust, den Katroungalos verursacht hat, auf 3 bis 5 Prozentpunkte.

Hier zeigt sich das grundsätzliche Dilemma einer Linkspartei, die ohne politischen Raumgewinn in der Mitte keine Chance auf eine Regierungsmehrheit hat. Natürlich muss sie die Mittelschicht umwerben, die viele ihrer früheren Privilegien in dem Krisenjahrzehnt verloren hat. Aber sie muss sich vor allem um den Teil der Gesellschaft kümmern, der von Armut oder sozialer Exklusion bedroht ist. Das sind in Griechenland – auch nach dem Ende der akuten Krise – noch fast 30 Prozent der Bevölkerung, von denen allerdings viele seit Langem nicht mehr wählen gehen.

Ein Wahlprogramm, das alle wichtigen Gruppen gewinnen will, muss dennoch eine „Resultante“ haben, argumentiert Tassos Pappas, der Chefkolumnist der linken Zeitung EfSyn. Eine solche Generallinie habe die Syriza nicht erkennen lassen. Vielmehr habe sie allen Zielgruppen das erzählt, was die hören wollten. Damit schuf sich die Oppositionspartei ein weiteres Pro­blem, das ihr die ND ständig vorhalten konnte. Sie musste die Frage beantworten, wer die Zeche bezahlen soll.

Die Syriza versprach, die extremen sozialen Ungleichheiten zu mildern, die sich in den Krisenjahren und unter der Mitsotakis-Regierung noch verstärkt haben. Aber ihre klassisch „sozialdemokratische“ Agenda – höhere Mindestlöhne, höhere Renten, Schutz des Wohneigentums, Verbesserung der öffentlichen Dienstleistungen, insbesondere des Gesundheitssystems – muss gegenfinanziert werden, ohne umworbene Wählergruppen abzuschrecken, wie es Katroungalos getan hat.

Auch deshalb brachte die Partei ihr „positives“ Programm im Wahlkampf kaum zur Sprache. Stattdessen setzte sie auf „negative“ Themen und betete die Liste der Skandale herunter, die sich Mitsotakis und die ND in vier Jahren geleistet haben: die unverhüllte Subventionierung der regierungsfreundlichen Medien, die Lauschangriffe des von Mitsotakis kontrollierten Geheimdienstes;4 die notorische Vetternwirtschaft; die skandalöse Unterfinanzierung der öffentlichen Krankenhäuser, die sich auch in der hohen Zahl von Coronatoten zeigt; das Versagen der staatlichen Kontrolle und Vorsorge, das für die Waldbrände verantwortlich ist oder für die 57 Toten des Zugunglücks vom 28. Februar.5

Niemand redet über die Klimakrise

Fast alle Punkte auf dieser Negativliste sind echte Skandale. Aber von denen wollte das Wählervolk schon deshalb nichts hören, weil sie sattsam bekannt waren. Man hatte sie zur Kenntnis genommen, aber auch abgehakt. Die Skandalbilanz hatte auch deshalb nur begrenzte Wirkung, weil die Syriza – als Regierungspartei der Jahre 2015 bis 2019 – von vielen als Teil des „Systems“ wahrgenommen wird, das immer neue Katastrophen hervorbringt.

Dass die „negative“ Wahlpropaganda jenseits der Stammwählerschaft nicht ankam, erklärt noch nicht, warum Mitsotakis mit der zentralen ND-Parole „Stabilität oder Chaos“ so durchschlagenden Erfolg hatte. Dieser Erfolg geht zu einem erheblichen Teil auf den strategischen Kardinalfehler der Syriza zurück.

Tsipras proklamierte als Wahlziel – da eine absolute Syriza-Mehrheit unerreichbar war – eine Koalition der „progressiven“ Kräfte. Für griechische Verhältnisse ist eine Koalition aber nur eine Art Notregierung, also Symptom einer schweren Krise. Eine „freiwillige“ Koalition von Parteien, die sich die „Beute der Macht“ teilen, ist im politischen System nicht vorgesehen.

Dass die Syriza so etwas vorschlug, wurde als Zeichen der Verzweiflung wahrgenommen. Zudem kamen als Koalitionspartner nur zwei Parteien infrage: die Pasok und die MeRA25. Die Pasok verweigerte sich schon deshalb, weil die neue Parteiführung unter Nikos Androulakis nicht als „Juniorpartner“ der Syriza antreten wollte. Vielmehr strebt sie selbst die Dominanz innerhalb der griechischen Linken an, die die alte Pasok in den Krisenjahren verloren hatte.

Der zweite theoretische Partner war die MeRA25 von Jannis Varoufakis. Doch zu einer Koalition mit Varou­fa­kis konnte sich die Syriza nicht offen bekennen, weil sie sonst Wähler und Wählerinnen der linken Mitte verloren hätte. Die identifizieren den Finanzminister der ersten Tsipras-Regierung noch immer mit dem Grexit-Szenario, das dem Land im Sommer 2015 drohte. Aus demselben Grund war Varoufakis auch für die Pasok ein rotes Tuch.

Schon das machte ein Bündnis dieser drei Parteien undenkbar. Auch rein numerisch war für eine linke Mehrheit noch eine weitere Linkspartei vonnöten. Doch die KKE zeigte der „Koaliton des Fortschritts“ die kalte Schulter. Das war keine Überraschung. Die Kommunistische Partei Griechenlands ist ein Solitär in der europäischen Parteienlandschaft. Sie verweigert jede Regierungsbeteiligung im Rahmen der „bürgerlichen Demokratie“, in der für sie alle anderen Parteien „dieselben“ sind, weil sie das Spiel der Monopole mitmachen.

Das Projekt einer linken Koalition hatte also nicht nur keine ausreichende Basis, es war von vornherein in die Luft gebaut. Und so wählten viele Wählerinnen und Wähler der linken Mitte statt eines Luftschlosses lieber ein bereits stehendes und offenbar solides Gebäude. Denn statt eines realistischen Gegenentwurfs sahen sie etwas, was Tassos Pappas mit dem griechisch-osmanischen Wort achtarmas beschreibt: ein einziges Kuddelmuddel, das noch verwirrender wurde, als Tsipras – statt der verweigerten Koalition – eine weiteres „Denkmodell“ ins Spiel brachte. Er schlug eine von Pasok und KKE tolerierte Minderheitsregierung vor, die von den angesprochenen Parteien nur mit Hohn und Spott bedacht wurde. Ex-Außenministerin Dora Bakoyanni, die ältere Schwester von Mitsotakis, bedankte sich bei Tsipras für das „Geschenk“ an die ND.

Stabilität oder Chaos lautete die Zauberformel des Kyriakos Mitsotakis. Aber erst Tsipras’ unrealistische Vorschläge verlieh diesem Slogan seine fast ultimative Überzeugungskraft. „Die Bürger wollen eine starke Regierung mit einem Horizont von vier Jahren“, erklärte der Regierungschef am Tag nach seinem unerwartet hohen Wahlsieg, zu dem die Opposi­tion maßgeblich beigetragen hatte.

Aber entscheidend war wohl ein psychologischer, also irrationaler Faktor: das Bedürfnis eines Großteils der griechischen Gesellschaft, zu einer Art „Normalität“ zurückzukehren, nachdem der „Zyklus des Staatsbankrotts“ abgeschlossen ist.

Die Normalität mag eine andere sein als vor der großen Krise und in mancher Hinsicht nur ein Schein. Aber viele Leute sind bereit, der Erzählung zu glauben, dass es wieder aufwärts geht, wenn die Arbeitslosigkeit sinkt, obwohl viele der neuen Stellen nur schlecht bezahlte Saisonjobs im Tourismussektor sind; wenn der Mindestlohn steigt, auch wenn die Kaufkraft zu den niedrigsten der Eurozone gehört; wenn ärmere Familien mit Einkaufscoupons beglückt werden, obgleich ihr Warenkorb damit immer noch teurer ist als vor einem Jahr. Und das alles garniert mit der neoliberalen Trickle-down-Erzählung, dass irgendwann alles besser wird, weil die Regierung mit ihrer neoliberalen Wirtschaftspolitik ausländische Investitionen anzieht.

Die von einer hochprofessionellen PR-Maschine verbreitete Botschaft wurde von vielen schon deshalb geglaubt, weil sie die schlechten Nachrichten satthaben. Die Skandale sind deswegen zwar nicht vergessen, werden aber von nüchternen Erwägungen überlagert. Eine Umfrage unter den Wählerinnen und Wählern vom Wahltag, welche Kriterien für ihre Stimmabgabe die wichtigsten waren (wobei die Befragten drei Kriterien nennen konnten), ergab folgende Rangfolge: An der Spitze lag das Kriterium „ein gut funktionierender Staat“ mit 32 Prozent; knapp dahinter die Themen Wirtschaft sowie nationale Fragen, also Außenpolitik; an vierter Stelle folgte das Kriterium „besseres Führungspersonal“.

Das heißt: Die vier wichtigsten Wahlkriterien betreffen Bereiche, in denen die ND und Regierungschef Mitsotakis laut Umfragen regelmäßig besser bewertet werden als die Syriza und Tsipras. Die Kriterien, die für die Oppositionspartei sprechen, folgen erst auf Platz 5 und 6: der Kampf gegen die Armut und gegen Korruption. Auf den letzten beiden (von 14) Plätzen finden sich die Themen, mit denen die Linkspartei gegen die Regierung punkten wollte: das Eisenbahnunglück und der Abhörskandals (mit 6 und 5 Prozent).

Das bedarf keines Kommentars, aber einer kleinen Anmerkung: ND-Verkehrsminister Kostas Karamanlis, der nach dem Tempi-Unglück von Mitsotakis zurückgetreten wurde, durfte sich gleichwohl am 21. Mai um das Direktmandat seines nordgriechischen Wahlkreises Serres bewerben. Er erzielte für die ND das landesweit sechstbeste Ergebnis.

Ein abschließender Hinweis, der nicht die nächste Regierungsperiode, sondern die fernere Zukunft betrifft. Griechenland wird diesen Sommer einen touristischen Rekordboom erleben, für den bereits Reinigungs- und Küchenpersonal aus Pakistan und Bangladesch angeheuert wird. Aber die Klimaforscher sagen auch neue Hitzerekorde voraus, die das Thema hochkochen werden, das in diesem Wahlkampf alle Parteien gemieden haben.

Weder ND noch Syriza noch Pasok noch KKE wollten die Bürgerinnen und Bürger mit der Klimakrise konfrontieren, die ihr Land in eine subtropische Zone verwandeln wird. Die wichtigste Zukunftsfrage wurde nur von zwei grünen Kleinstparteien thematisiert. Sie erhielten zusammen unter 1 Prozent der Wählerstimmen.

1 Die Änderung des Wahlrechts gilt jeweils erst für die übernächsten Wahlen.

2 Die Zahl der Syriza-Stimmen ging von 1,78 auf 1,18 Millionen zurück; die Wahlbeteiligung stieg um 3 Prozentpunkte auf 60,94 Prozent.

3 Alle genannten Zahlen beruhen auf den Exit-Polls vom 21. Juni; präzisere Zahlen werden die Meinungsforschungsinstitute erst später ermitteln. Weitere Details und genaue Quellenangaben wird meine aus­führliche Wahlanalyse auf dem Griechenland-Blog von LMd enthalten; siehe www.monde-diplomatique.de/blog.

4 Siehe „Predator über Griechenland“, LMd-Blog Griechenland, 23. November 2022.

5 Siehe „Ruf mich an, falls du ankommst“, LMd-Blog Griechenland, 16. Mai 2023.

© LMd, Berlin

Le Monde diplomatique vom 08.06.2023, von Niels Kadritzke