08.06.2023

Überleben im Jemen

zurück

Überleben im Jemen

von Quentin Müller

Audio: Artikel vorlesen lassen

Dicht an dicht sitzen die Kinder auf den Schulbänken und erledigen ihre Aufgaben. Wir sind in der Re­gion Ma’rib im Zentraljemen, einer der Hochburgen unter Kontrolle der Regierungstruppen, die gegen die von Iran unterstützten Huthi-Rebellen Krieg führen. Laut Ahmed Mubarah, Sicherheitschef im Flüchtlingslager Al-Koz, leben hier 600 Familien beziehungsweise 3000 Binnenvertriebene.

In der Schule – ein schnell hochgezogener Fertigbau – sollen die Kinder und Jugendlichen überhaupt erst einmal das Lernen üben. Seit Ausbruch des Bürgerkriegs Ende 2014 haben viele von ihnen noch nie eine Schule von innen gesehen. Die Familien im Lager kommen aus dem ganzen Land. Insgesamt 13 Gouvernements sind hier vertreten. Viele der Geflüchteten kommen aus dem Nordwesten, der von den Rebellen eingenommen wurde.

Mahsah Saleh, Lehrer im Ehrenamt, tut, was er kann, um „die Kinder bei der Stange zu halten“, damit er „ihnen etwas vermitteln“ kann. Doch die Unterrichtsbedingungen sind extrem schwierig: Im linken Flügel der kleinen Schule gibt es keinen Strom mehr. „Sobald die Temperaturen ansteigen, werden die Klassenzimmer heiß wie Backöfen, weil es keine Klimaanlage gibt. Außerdem müssen sich die Schüler eine Zweier-Schulbank zu sechst teilen. Und in den Toiletten gibt es kein fließendes Wasser mehr“, zählt Saleh die Probleme auf. Noch nie zuvor in seiner Laufbahn hat er so viele Schülerinnen und Schüler unterrichtet, die weder lesen noch schreiben können.

„Das liegt daran, dass es seit Kriegsbeginn andauernd zu Vertreibungen kam und die Kinder nie zur Schule gehen konnten“, erklärt er. Laut dem UN-Flüchtlingskommissariat (UNHCR) haben im Jemen 3,5 Millionen Kinder und Jugendliche seit Jahren keine Schule mehr besucht.

Mahsah Saleh spricht auch über die psychische Traumatisierung der Schülerinnen und Schüler, die nichts anderes kennen als Krieg. Das gilt insbesondere für die Jugendlichen, die irgendwann zwangsrekrutiert wurden und bei denen der Krach auch von weit entfernten Explosionen heillose Panik auslöst. Laut Unicef wurden zwischen März 2015 und November 2022 über 11 000 Kinder getötet oder schwer verletzt, über 4000 wurden von den kriegsführenden Parteien als Kindersoldaten missbraucht.1

Auf dem Schulhof hat sich eine Menschentraube gebildet. Eine lokale muslimische NGO verteilt Essen. Seit Beginn der Militäroperation durch  Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) vor mittlerweile acht Jahren vermitteln westliche Medien oft das Bild vom Jemen als einem Land, in dem chronisch Hunger herrscht. Die Wahrheit ist jedoch vielschichtiger.

Zwar steht das Land ständig am Rand einer Hungersnot. Aber es ist nie in eine solch massive Ernährungskrise gestürzt, wie man sie zum Beispiel aus Ostafrika kennt. In der Region Ma’rib leben rund um die gleichnamige Hauptstadt über 2 Millionen Binnenflüchtlinge in Dutzenden Camps – es ist die größte Konzentration von Binnenvertriebenen im Jemen. Dementsprechend streng sind die örtlichen Behörden: Zwar können sich viele Fami­lien nicht satt essen, aber es verhungert auch niemand.

Allerdings wird die Situation zunehmend schwieriger. Seit 2020 ist die humanitäre Hilfe für den Jemen stark zurückgegangen. Die Zurückhaltung der Geberländer hat verschiedene Ursachen. Zuerst war es die schwächere Konjunktur infolge der Coronapandemie, und nach dem russischen Angriff auf die Ukraine im Februar 2022 verlagerte sich der Fokus. Allein für das vergangene Jahr sprechen NGO-Mitarbeiter im Jemen von einem Rückgang der humanitären Hilfe um 75 Prozent.

Die Kinder waren seit Jahren nicht mehr in Schule

In Ma’rib ist nur eine Handvoll internationaler Organisationen präsent. Sie verteilen gelegentlich Geld oder Lebensmittel und bemühen sich um die medizinische Grundversorgung. Oxfam und Ärzte ohne Grenzen (MSF) sind sehr aktiv. Nachdem Anfang 2022 zwei MSF-Mitarbeiter auf der Straße zwischen Seiyun und Ma’rib entführt worden waren, musste die Organisation ihre Aktivitäten allerdings einschränken.

„Wir verstehen nicht, warum die NGOs im Jemen ihren Hauptsitz in Sanaa eingerichtet haben und ihre Tätigkeiten auf die Region dort konzentrieren. Da herrscht kein Krieg mehr, während in Ma’rib die Not wächst und wir wegen der Kampfhandlungen ständig mehr Vertriebene aufnehmen müssen“, berichtet Saïf Nasser Muthana, der in dem Gouvernement für die Flucht­opfer zuständig ist.

Seit 2021 haben sich weitere 12 000 Familien in die 189 Lager geflüchtet, die sich über die Provinzhauptstadt und den nahegelegenen wadi im Flusstal des Dhana verteilen. „Wir können diesen Menschen wegen unseres eingeschränkten Budgets nur eine Grundversorgung bieten. Die Hälfte der Gelder fließt in den Krieg“, erklärt Saïf Nasser Muthana, der eine Beinprothese trägt, seit er auf dem Weg zu einem der Lager auf eine Mine getreten ist: „Bei Hochwasser werden im Wadi die Sprengkörper von der Front hierhergeschwemmt.“

Trotz – oder gerade wegen des starken Zustroms von Notleidenden ist Ma’rib wieder zu einem Ort kultureller Vielfalt geworden; zu einem Knotenpunkt, an dem die unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen des Landes aufeinandertreffen.

Diese Rolle besaß die Stadt schon in der Antike, zu Zeiten der polytheistischen Königreiche von Qataban, Hadramaut, Himyar oder Saba. Im 6. Jahrhundert wurde Ma’rib nach und nach aufgegeben, weil es zu mühsam geworden war, die Bewässerungssysteme zu pflegen und instandzuhalten. Die Menschen wanderten ab und zogen in die kühleren und regenreicheren Hochebenen des Jemen.

Bei Kriegsausbruch betrug die Einwohnerzahl in dem Gouvernement noch 400 000. Doch die hier beheimateten Stämme waren untereinander zerstritten, es gab keine Infrastruktur oder öffentliche Einrichtungen, und es galt allein das Gewohnheitsrecht. Diebstähle, Beschädigungen der Ölpipelines und Entführungen waren an der Tagesordnung. Dann kam die Bedrohung durch die Invasion der Huthis, womit sich die Lage grundsätzlich änderte.

Ein Drittel des Gouvernements wurde von den Rebellen nach hartnäckigen Angriffen besetzt. Die Stämme befehligen eigene Truppen und verteidigen mit großer Entschlossenheit ihren Landbesitz. Sie bildeten im Norden, Süden und Westen einen Ring um die Stadt. Die Wüste von Raghwan, 60 Kilometer nördlich von Ma’rib gelegen, war seither immer wieder Schauplatz blutiger Kämpfe.

Die Stämme al-Dschedaan und Bani Schaddad haben hier Stellung bezogen. Am Ortsausgang des Dorfs al-Dschauf treffen wir auf gut 50 Krieger, die sich unter einem Zeltdach im Schatten von Dattelpalmen ausruhen. Manche Gesichter sehen so kindlich und glatt aus, der Bartwuchs hat noch nicht einmal eingesetzt.

Ein kleines Mädchen mit langem Zopf steigt über die Sandalen am Zelteingang und entrollt ein Plakat mit der Aufschrift „Stop the war“. Ihr junger Vater, Scheich Ali Zuaiza al-Schadadi, meint: „Ich sorge mich um die Zukunft meiner Kinder. Wir kämpfen hier um unser Überleben. Warum müssen wir dem Himmel so viele unserer Söhne geben?“

In Raghwan wechseln Ruhephasen mit heftigen Gefechten ab. In dieser gigantischen Wüste haben die Stammesführer von Bani Schaddad auf jedem Berg oder Hügel aus Vulkangestein ihre Männer postiert, die nach potenziellen Feinden Ausschau halten sollen. Die Huthi wiederum haben einen Großteil der Demarkationslinie vermint, um jeder Gegenoffensive den Schwung zu nehmen.

Manche Kämpfer besitzen Satellitentelefone, um im Fall einer Rebellenoffensive Luftunterstützung von Saudi-Arabien anzufordern. Unsere Gesprächspartner räumen jedoch ein, dass die Unterstützung durch saudische Kampfflugzeuge seltener geworden ist. Das hat wohl vor allem mit der Normalisierung der Beziehungen zwischen Riad und Teheran zu tun – und mit der Absicht der Saudis, sich allmählich aus diesem Konflikt herauszuziehen.

Scheich Murdhi Ka’alan, ein einflussreicher Stammesführer der al-Dschedaan, musste wie viele seine Heimat verlassen. Als seine Geburtsstadt Modghel besetzt wurde, flüchtete er zusammen mit tausenden anderen. Heute lebt er mit seinen Leuten in einem notdürftigen Zeltlager mitten in der endlosen Mondlandschaft von Raghwan.

„Abgesehen vom Wasserproblem, den Lebensmittelpreisen, dem fehlenden Strom und dem Mangel an Schulen sind die größte Herausforderung die Landminen, die die Huthis im ganzen Land verlegt haben“, sagt Ka’alan, eine Kalaschnikow auf den Knien.

Die Organisation Conflict Armament Research dokumentiert, welche Waffen in den zahlreichen Konflikten der Welt zum Einsatz kommen. Laut der in London ansässigen Organisation stellen die Huthis im Jemen „massenweise selbst Minen her, in einem Ausmaß, wie dies vorher nur die Kämpfer des Islamischen Staats im Irak und in Syrien taten.“2

Dasselbe Institut stellte auch fest, dass ein Großteil der Bauteile für die Sprengsätze aus Iran stammt. 2019 verurteilte Human Rights Watch den Einsatz von Minen durch die Huthis und betonte, dass dies möglicherweise „ein Kriegsverbrechen darstellt“.3

Um sein eigenes Gewissen zu beruhigen, hat Saudi-Arabien, seit 2015 der Hauptakteur in dem jemenitischen Kriegsdrama, in den Vertriebenenlagern ein Rehabilitationszentrum für die Kindersoldaten der Huthi eingerichtet, die gefangen genommen oder hier und da aufgegriffen wurden. Über die Stiftung King Salman Humanita­rian Aid and Relief Centre (KSRelief) hat Riad außerdem 2020 im öffentlichen Krankenhaus von Ma’rib eine Station für Reha-Maßnahmen und eine Werkstatt für Prothesen nach Maß für Minenopfer eröffnet. Alle Leistungen sind dort kostenfrei. 2018 haben die Saudis überdies das Masam-Projekt gestartet, ein Programm zur Minenräumung in ganz Jemen.

Saudi-Arabiens Vorgehen im Jemen kann man nicht anders als paradox bezeichnen. Auf der einen Seite begeht das Königreich Kriegsverbrechen durch willkürliche Bombardierungen, bei denen schon zahlreiche Zivilisten ums Leben gekommen sind. Auch die Bildung tausender paramilitärischer Splittergruppen, die völlig unkontrollierbar geworden sind, geht auf Riads Konto. Auf der anderen Seite greift man der lokalen Bevölkerung mit Hilfen und Dienstleistungen unter die Arme. Jüngst haben die Saudis sogar Friedensverhandlungen zwischen verschiedenen jemenitischen Gruppierungen initiiert.

In den Flüchtlingslagern trifft man nur wenige, die dem Königreich kritisch gegenüberstehen – trotz der zahlreichen Luftangriffe. Alle sind sie grundsätzlich vor dem Krieg geflohen, aber insbesondere vor dem brutalen Joch der Huthis und der Zwangsrekrutierung junger Männer in deren Armee.

In Ma'rib haben sie etwas Ruhe gefunden. Auf Veranlassung des Gouverneurs Sultan al-Arada werden mehr Schulen, Krankenhäuser und Straßen gebaut. Die Gehälter der Beamten werden jeden Monat ausbezahlt (eine Ausnahme im Jemen). Auch die Sicherheitslage hat sich verbessert, nachdem mehr Polizisten und Richter eingestellt wurden.

Bereits 2015 hat die Verwaltung in Ma’rib von der damaligen Regierung unter Präsident Abed Rabbo Man­sur Hadi die Zusage erhalten, dass sie 20 Prozent der Einnahmen aus dem Verkauf von Erdöl und Gas behalten darf. So soll der Reichtum gerechter auf die Regionen verteilt werden. Nicht zuletzt ist es auch um die politische Meinungsfreiheit und die Pressefreiheit in der Provinz besser bestellt als im Rest des Landes.

„Wir möchten, dass das politische Modell, das wir hier schaffen, sich im ganzen Land verbreitet. Ohne Freiheit kann keine Regierung stabil sein. Wir müssen es den Menschen deshalb erlauben, ihre Meinung zu äußern.“ So fordert es der Gouverneur von Marib, der sowohl von den Muslimbrüdern als auch von Nasseristen, Sozialisten, Baathis­ten und den Anhängern der ehemaligen Präsidentenpartei Allgemeiner Volkskongress unterstützt wird.

Im Süden des Jemen liegt Aden, die Hauptstadt der ehemaligen Demokratischen Volksrepublik Jemen (1967–1990). Auch sie ist vom Krieg gezeichnet. Von ihren Hochburgen im Nordwesten stießen die Huthis im Laufe des Jahres 2015 schnell nach Süden vor. Die Rebellen errangen einen militärischen Sieg nach dem anderen. Im Sommer 2015 stand die Hafenstadt an der Südküste kurz vor dem Fall.

Gruppierungen aus dem ganzen Jemen stellten sich ihnen entgegen: Kämpfer von al-Qaida oder dem Islamischen Staat (IS), Salafisten und Freiwillige aus allen Landesteilen – gemeinsam boten sie den Rebellen die Stirn.

Im Luxushotel nisten Raben

Ala al-Hajj war Teil dieser bunt zusammengewürfelten Armee, die einzig der Hass auf die Huthis einte: „Ohne die Intervention der Koalition unter Führung der Saudis hätten wir vor einer Niederlage gestanden. Wir waren am Ende unserer Kräfte, schlecht organisiert und ausgerüstet. Die Kämpfe um die Stadt waren blutig. Auf beiden Seiten haben viele Kinder und Jugendliche gekämpft. In den Moscheen der Stadt wurde zum Widerstand aufgerufen. Die Mütter verabschiedeten sich alle von ihren Söhnen.“

Die Fassade des Hotel Aden, ehemals eine Luxusadresse in der Stadt, ist gespickt mit Einschusslöchern. Wo einst reiche Geschäftsleute und durchreisende Diplomaten logierten, nisten heute Raben. Ein Graffiti an der Wand erinnert an den Sieg der Widerstandskräfte. Auch den Vereinigten Arabischen Emiraten und ihrem ersten Souverän, dem 2004 verstorbenen Scheich Zayid bin Sultan Al Nah­yan, wird gehuldigt: „Möge Allah Zayid gnädig sein, dem weisen Mann der Araber und der Emirate.“

Im Kampf gegen die Huthi-Rebellen bildeten die VAE über viele Jahre tausende von jemenitischen Milizionären aus. Diese sollten eigentlich der in Not geratenen Zentralregierung unterstehen. Doch als die Rebellen allmählich aus Aden zurückgedrängt wurden, entstand der Plan von der Unabhängigkeit des südlichen Jemen – unter tätiger Mithilfe der VAE.

Im August 2019 griffen von Abu Dhabi unterstützte Jemeniten zu den Waffen und bekämpften ihre eigene Regierung. Der Übergangsrat des Südens (Southern Transitional Council, STC) forderte den Rücktritt des ehemaligen Präsidenten Hadi und die Wiederherstellung des Südstaats in den Grenzen der früheren sozialistischen Republik. Ein Glücksfall für Abu Dhabi, das sich die Verwaltung der strategischen Häfen an der Südküste sichern konnte.

Der Bevölkerung von Aden kam diese Übernahme jedoch nicht zugute. In der Stadt gibt es nur alle vier Stunden und für eine Dauer von zwei Stunden öffentlichen Strom. Haushalte und Familien, die keine Generatoren oder Solarmodule haben, sind gezwungen, in diesem Rhythmus zu leben.

„Wir brauchen ein neues Kraftwerk, um unseren Bedarf zu decken, denn das alte funktioniert nicht mehr“, erklärt Intesar Seead, eine Beamtin im Ministerium für Planung und internationale Zusammenarbeit. „Zurzeit kaufen wir Strom von einem Geschäftsmann, der kleine private Kraftwerke mit Öl betreibt. Er erhöht ständig seine Preise. Wenn wir mit seinem Tarif nicht einverstanden sind, kappt er die Versorgung und mehrere Stadtviertel sitzen im Dunkeln!“

Im Himalaja-Lager in Aden teilen sich elf Familien ein verlassenes großes Haus im Schatten riesiger, düsterer Wohnblöcke. Die Klimaanlage kann hier gegen die Kombination aus Hitze und Feuchtigkeit nichts ausrichten.

Mu­na Fadel lebt hier mit ihrer Familie: „Wir haben kein Geld, und es fehlt uns an Wasser und an Medikamenten. Drei von uns leiden außerdem sehr unter der psychischen Belastung wegen der Traumatisierung durch den Krieg.“

Fadels Familie kommt aus Hudaida. In der Stadt an der Westküste tobten zwischen 2017 und 2018 heftige Kämpfe. Aber dorthin zurückkehren werden sie wohl nicht. Schuld tragen unter anderem die Minen, die es auch entlang der Westküste gibt. Aber auch die Berichte über die Brutalität der Rebellen haben die Familie bisher von der Rückkehr abgehalten.

Muna Fadel sagt, sie würden keiner einzigen angekündigten Feuerpause trauen: „Unser Haus lag unweit der Frontlinie, und die Huthi-Scharfschützen machten sich einen Spaß daraus, nachts auf Zivilisten zu schießen.“ Jede Familie lebt von weniger als 2 Dollar pro Tag. Sie sammeln Plastikmüll zum Recyceln.

Die US-amerikanische NGO Givedirectly, eine der wenigen Organisationen, die ihre Zelte nicht abgebrochen hat, leistet finanzielle Hilfe. Nur so konnten zahlreiche Familien die Schulden zurückzuzahlen, die durch die Flucht vor den Kampfhandlungen, aber auch durch den Kauf von Lebensmitteln und Kleidung aufgelaufen waren.

Der Bürgerkrieg hat die öffentliche Infrastruktur des Jemen zerstört, einschließlich der Krankenhäuser. Der Arzt Riad Hamood, der sein Diplom zu Sowjetzeiten in der Ukraine erworben hat, musste mit ansehen, wie das Gesundheitssystem zusammenbrach. Inzwischen ist er von seinem Ministerium mit einer Mission beauftragt worden, die ihm „täglich das Herz bricht“. Er ist Ansprechpartner für schwerkranke Patienten, häufig mit Krebsleiden oder Niereninsuffizienz, die dringend eine Notfallbehandlung im Ausland benötigen.

„Wir schreiben die Patienten auf eine Liste mit Personen, die im Jemen nicht angemessen behandelt werden können“, erzählt Hamood. „Wir versuchen, sie nach Ägypten zu schicken, nach Jordanien, nach Indien oder nach Saudi-Arabien. Wir nehmen auch Kontakt zu unseren Botschaften in diesen Ländern auf, damit die versuchen, ein karitatives Krankenhaus zu finden, das die Menschen kostenlos oder mit einem Preisnachlass behandeln ­könnte.“

Im Jahr 2022 hat Hamood 1050 Anfragen bearbeitet – aber nur 270 Kranke konnten für eine Behandlung ins Ausland reisen.

1 Siehe Unicef, „Yémen: les drames d’une guerre oubliée“, 24. März 2023.

2 Conflict Armament Research, „Dispatch from the Fields. Mines and iIEDs employed by Huthi forces on yemen’s west coast“, London, September 2018.

3 Siehe Human Rights Watch, „Yemen: Houthi Land­mines Kill Civilians, Block Aid“, 22. April 2019.

Aus dem Französischen von Birgit Bayerlein

Quentin Müller ist Journalist.

Die Huthi-Rebellion

von Quentin Müller

Der Aufstand der Huthis begann Anfang der 1990er Jahre. Bis heute bildet er einen der Schlüsselkonflikte im Jemen. Es gibt zwar auch andere bewaffnete Akteure im Land, wie den jemenitischen Zweig von al-Qaida oder die Autonomiebewegung im Süden. Aber weil es den Huthis 2014 gelang, die Hauptstadt Sanaa einzunehmen, sind sie der größte Feind der von Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE) unterstützten Regierungstruppen.

Die regional verwurzelte und stammesgebundene Huthi-Bewegung hat ihren Aufstand lange damit gerechtfertigt, dass es ihr Ziel sei, die Marginalisierung Nordwestjemens zu beenden. Außerdem vertreten sie als eine religiöse Minderheit den Zaydismus. Diese Strömung wird häufig dem schiitischen Islam zugeschrieben. Einige Islamwissenschaftler sind jedoch der Meinung, sie stünde dem Sunnismus näher, und manche bezeichnen sie sogar als dessen fünfte Rechtsschule. Diese Nuance ist wichtig, weil sie die ­religiösen Bande relativiert, die zwischen den Huthi-Rebellen und Iran bestehen sollen.

Die Huthis kontrollieren heute etwa ein Viertel Jemens und positionieren sich klar im antisaudischen Lager. Der Gewalt der von Riad geführten Koalition, die zahlreiche Opfer unter der Zivilbevölkerung in Kauf nimmt, setzen die Huthis ihre unversöhnliche Logik der Vergeltung entgegen. Dabei zögern sie nicht, auch Kindersoldaten zu rekrutieren und auf Terror zu setzen, um in den von ihnen beherrschten Gebieten jeden Widerspruch und jede Kritik zum Schweigen zu bringen – auch die Stimme von Journalistinnen und Journalisten.⇥Akram Belkaïd

Le Monde diplomatique vom 08.06.2023, von Quentin Müller