11.05.2012

Die gespaltene Arabellion

zurück

Die gespaltene Arabellion

Das Bündnis zwischen Arbeiterschaft und Mittelschicht hielt nur für einen kurzen Frühling von Gilbert Achcar

Audio: Artikel vorlesen lassen

Die Vorstellung ist nicht neu, und der Arabische Aufstand hat sie weitgehend bestätigt: Wenn der Widerstand gegen ein herrschendes Regime zu einer Massenbewegung wird, die der Wunsch nach demokratischem Wandel eint, verbündet sich oft ein Großteil der Mittelschicht mit den sozial Benachteiligten.

Der junge Mohammed Bouazizi, mit dessen Selbstverbrennung im tunesischen Sidi Bouzid am 17. Dezember 2010 alles begann, war ein Straßenhändler, der in ärmlichen und prekären Verhältnissen lebte. Damit entsprach er dem typischen Profil der Protestierenden des Arabischen Frühlings: einer Masse von Millionen von Jugendlichen und nicht mehr ganz so jungen Menschen, die entweder zur Gruppe der offiziell Arbeitslosen zählen oder im informellen Sektor arbeiten – gewissermaßen als „maskierte Arbeitslose“, die von der Hand in den Mund leben und darauf warten, irgendwann einen richtigen Job zu finden.

In Tunesien und Ägypten haben sich diesem Heer der Hoffnungslosen auch viele – teils organisierte – Kräfte der Arbeiterschaft angeschlossen. Deren Proteste und Streiks haben in beiden Ländern wichtige Voraussetzungen für den Arabischen Frühling geschaffen.

Dort, wo es die massivsten Proteste gab, also in Ägypten, Bahrain, Jemen, Libyen, Syrien und Tunesien, schloss sich dem breiten Bündnis der Benachteiligten ein Großteil der Mittelschicht an: Selbstständige – vom Handwerker über den Ladenbesitzer und Kleinunternehmer bis hin zu freiberuflichen Anwälten, Ingenieuren oder Ärzten – sowie abhängig Beschäftigte (Professoren, Lehrer, Journalisten, Beamte und Angestellte des öffentlichen Dienstes).

In den Ländern, wo das Regime nicht ganz so viel Angst verbreitete und Protest nicht von vornherein ausgeschlossen schien, also vor allem in Ägypten und Tunesien, hatte es schon vor den revolutionären Bewegungen des Jahres 2011 vermehrt politische und soziale Kämpfe gegeben. In Ägypten gingen diese Proteste vor allem von den Arbeitern aus; zwischen 2006 und 2009 erlebte das Land die bis dahin größte Streikwelle in seiner Geschichte.1 In Tunesien waren sie hingegen enger mit dem Thema Arbeitslosigkeit und der allgegenwärtigen Günstlingswirtschaft verknüpft, wie etwa bei den Ausschreitungen im Bergbaurevier Gafsa im Jahr 2008. Damals gab es den berechtigten Verdacht, dass die Bergbauleitung bei den kurz zuvor bekannt gegebenen Neueinstellungen gekungelt hatte.2

In Ägypten und Tunesien gab es im Laufe des vergangenen Jahrzehnts zudem prodemokratische Aktivitäten, die von Anwälten und Journalisten ausgingen. Diese Berufsgruppen waren wichtige Träger der Proteste. Ihre Mitglieder engagierten sich in den unmittelbaren politischen Auseinandersetzungen, zum Beispiel in der ägyptischen Bewegung „Kifaja“ („Genug!“). Diese war lange Zeit die Speerspitze der Opposition gegen Husni Mubarak, dem massive Wahlfälschungen vorgeworfen wurden, und gegen dessen Plan, seinen Sohn Gamal zu seinem Nachfolger zu machen.

Auch die internetaffinen Jugendlichen, die bei den Protesten des letzten Jahres an vorderster Front standen, kamen zumeist aus der Mittelschicht; ob als Blogger3 – sie stehen in einigen arabischen Staaten im Zentrum der Repression – oder in Form stärker organisierter Gruppen, wie der Jugendbewegung des 6. April, die sich 2008 aus Solidarität mit den Textilarbeitern der ägyptischen Industriestadt Mahalla al-Kubra gegründet hatte. Bei den Protesten in Mahalla wurden auch zum ersten Mal Bilder von Präsident Mubarak zerrissen.

Außerdem ist die Mittelschicht – von Marokko über Ägypten und Syrien bis Bahrain – in den sozialen Netzwerken und innerhalb der politischen Organisationen stark vertreten. Die Rolle von Facebook, Twitter und Co. wurde in den ersten Monaten der Aufstände zweifellos übertrieben – vor allem, um diese als „western friendly“ darzustellen –, doch sie hatten unbestreitbar entscheidenden Einfluss. Entgegen der herrschenden Meinung nutzen auch die benachteiligten Schichten das Internet. Ganz zu schweigen von den Mobiltelefonen, mit deren Hilfe sich die Demonstranten ebenfalls organisierten.

Was die politischen Parteien betrifft, die sich bei den Aufständen engagierten, so werden sie größtenteils durch die Mittelschicht getragen. Das gilt insbesondere für die stärksten, wie die Ennahda in Tunesien und die Muslimbrüder in Ägypten. Einige ihrer Führungskader haben eine eindeutige Neigung zur kapitalistischen Wirtschaftsweise, wie zum Beispiel der wohlhabende Geschäftsmann Chairat al-Schater, den die Freiheits- und Gerechtigkeitspartei der Muslimbrüder in Ägypten als Präsidentschaftskandidat aufstellte.4

Hier findet sich eine Konstante innerhalb der politischen Rolle der Mittelschicht: Sie ist in ihrer Zusammensetzung so heterogen, dass sie vermutlich auf lange Sicht nicht zu einer einheitlichen Position finden wird. Und sie hat die Tendenz, sich entsprechend der beiden gesellschaftlichen Pole, zwischen denen sie steht, aufzuspalten.

Die Bewegung der Muslimbrüder stellt von Marokko bis Syrien einen heterogenen politischen Block dar. Sobald die erste Phase der Demokratisierung abgeschlossen ist, kann man eine Spaltung innerhalb der Massenbewegung beobachten, wie in Tunesien und Ägypten. Dort sprechen sich die politischen Organisationen inzwischen gegen eine Fortsetzung der sozialen Kämpfe durch die Arbeitnehmer aus, weil ihre Forderungen zu „kategorisch“ seien. Ein großer Teil der Mittelschichtjugend, einschließlich derjenigen, die sich einer Organisation angeschlossen haben, sind indes entschlossen, die Revolution fortzuführen.

Fußnoten: 1 Siehe Raphaël Kempf, „Vor der großen Revolte“, Le Monde diplomatique, März 2011. 2 Siehe Karine Gantin und Omeyya Seddik, „Aufstand in Gafsa“, Le Monde diplomatique, Juli 2008. 3 Siehe Smaïn Laacher und Cédric Terzi, „Tunesiens traurige Blogger“, in: „Arabische Welt. Ölscheichs, Blogger, Muslimbrüder“, Edition Le Monde diplomatique, Berlin (taz Verlag) 2012. 4 Schater wurde von der Ägyptischen Wahlkommission am 14. April als Kandidat ausgeschlossen.

Aus dem Französischen von Jakob Horst

Gilbert Achcar ist Professor an der School of Oriental and African Studies (SOAS) in London. Das Thema seines nächsten Buchs ist der Arabische Frühling, es wird Ende 2012 bei Actes Sud (Arles) erscheinen.

Le Monde diplomatique vom 11.05.2012, von Gilbert Achcar