11.05.2012

Supermächte unter sich

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Supermächte unter sich

China wird zum Herausforderer der USA von Shen Dingli

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Zug um Zug erwirbt China alle Attribute, die zu einer werdenden Supermacht gehören. In den vergangenen zehn Jahren ist sein Bruttoinlandsprodukt (BIP) fast zehnmal so schnell gewachsen wie das der Vereinigten Staaten. Zwischen 2000 und 2010 erhöhte es sich von gut 1 100 Milliarden Dollar auf 5 880 Milliarden Dollar. Im selben Zeitraum wuchs das BIP der USA von 10 000 Milliarden auf 14 600 Milliarden Dollar. Noch hinkt die chinesische Wirtschaft also weit hinterher, aber Fachleute gehen davon aus, dass China die USA in etwa 20 Jahren eingeholt haben wird.

2011 lagen die chinesischen Militärausgaben bei 91,7 Milliarden Dollar und damit um 80 Prozent über denen Japans und um 200 Prozent über denen Indiens. Die Proportionen gegenüber den USA haben sich auch auf diesem Gebiet verschoben: Der US-Verteidigungshaushalt war 2000 noch 20-mal so groß wie der chinesische, heute liegt das Verhältnis nur noch bei 7 zu 1. Obwohl China also auch militärisch noch weit hinter den USA zurück liegt, steht es mit seinen Militärausgaben heute bereits an zweiter Stelle der Weltrangliste. Sollten die USA ihre restriktive Haushaltspolitik fortsetzen, wird sich auch dieser Abstand noch weiter verringern.

Seit der Jahrtausendwende haben sich die Beziehungen zwischen den beiden Ländern tiefgreifend verändert. China investiert ungefähr ein Drittel seiner Devisenreserven in Staatsanleihen der USA und ist so zu deren wichtigstem Kreditgeber geworden.1

Seit der Finanzkrise von 2008 nutzt China jede Gelegenheit, sich auf internationaler Ebene und insbesondere im bilateralen Verhältnis zu den USA energischer zu behaupten. 2009 widersetzte sich Peking beim Kopenhagener Gipfel einem Zeitplan zur Reduktion der Treibhausemissionen. Im selben Jahr blockierten chinesische Marineeinheiten in der 200-Meilen-Zone im Südchinesischen Meer das US-Navy-Überwachungsschiff „USNS Impeccable“. 2010 weigerten sich Chinas Machthaber, den Angriff Nordkoreas auf die südkoreanische Insel Yeonpyeong zu verurteilen. Seit 2011 lehnt es Peking überdies ab, das Ölembargo gegen den Iran zu unterstützen, obwohl es sich entschieden gegen Teherans potenzielles Streben nach Atomwaffen ausspricht.

Solche Differenzen stehen allerdings einer umfassenden Zusammenarbeit zwischen China und den USA auf vielen anderen Gebieten nicht im Wege. Das gilt etwa für den Kampf gegen den Terrorismus und gegen die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen, aber auch für eine koordinierte Strategie zur Eindämmung der Finanzkrise. Doch zugleich tun sich immer neue Konfliktfelder auf.

Auf ökonomischer Ebene werfen die USA den Chinesen vor, mittels unfairer Konkurrenzmethoden ihre Arbeitsplätze zu „stehlen“, insbesondere über die künstliche Unterbewertung der chinesischen Währung und die Behinderung eines freien Warenaustauschs. Auf geostrategischer Ebene fürchten die USA einen Rüstungswettlauf mit China sowie dessen Ausbau der militärischen Kapazitäten in der Pazifikregion. Zudem ist es in ideologischer Hinsicht für Washington nur schwer hinnehmbar, dass das chinesische Entwicklungsmodell, der sogenannte Peking-Konsens,2 ein ernsthaftes Konkurrenzprojekt zum Washington-Konsens werden könnte.

Doch wenn die US-Gesellschaft heute unter der Massenarbeitslosigkeit leidet, so liegt das vor allem an der US-amerikanischen Version des Wirtschaftsliberalismus und ihrem Streben nach größtmöglichem Profit. Im Übrigen läuft der globale Wettstreit nicht nur zwischen China und den Vereinigten Staaten ab, sondern zwischen allen Industriestaaten und der Gesamtheit der aufstrebenden Entwicklungsländer. Aus Sicht der USA spielt der Kurs des Yuan dabei keine besondere Rolle, denn die Produktion könnte ebenso gut nach Vietnam, Bangladesch oder Indien verlagert werden – das ist allen Beteiligten bewusst.

Aus geostrategischer Sicht kann der Machtzuwachs Chinas den USA nicht gefallen. Die chinesische Luftwaffe wird derzeit modernisiert, verfügt über eigene Bomberstaffeln, flugzeuggestützte Awacs-Radarsysteme zur Luftraumaufklärung, Tankflugzeuge und Flugzeugträger. Das Weltraumprogramm, das vermutlich eine militärische Komponente umfasst, wurde ebenfalls ausgeweitet. Zudem hat die chinesische Marine ein Arsenal von Langstreckenraketen entwickelt, die auch nukleare Sprengköpfe tragen können. Deutliche Fortschritte gab es ebenfalls bei der Nutzung des Cyberspace. All das erklärt, warum das Pentagon heute viele Truppen aus dem Irak und aus Afghanistan nach Ostasien verlegt und gemeinsam mit seinen Verbündeten und neu gewonnenen regionalen Partnern dem Potenzial der chinesischen Marine entgegentritt, insbesondere im Südchinesischen Meer.3

Chinesische Dollarreserven gegen die Finanzkrise

Seit seinem Amtsantritt gab Präsident Obama der diplomatischen Verständigung klar den Vorzug gegenüber der Konfrontation. Das gilt nicht nur im Verhältnis zu Peking. Als eine seiner ersten außenpolitischen Gesten bekannte er sich zum Dialog mit China, dem Iran, Venezuela und anderen Ländern. Dieser Ansatz war recht erfolgreich – besonders in Birma, wo ein Demokratisierungsprozess der kleinen Schritte in Gang gekommen ist, der unter anderem durch den symbolischen Besuch von Außenministerin Clinton am 1. September 2011 unterstützt wurde. Die militärische Zusammenarbeit mit Japan, Südkorea, den Philippinen und Vietnam ist allerdings nicht frei von versteckten Absichten, die sich strategisch und ideologisch gegen China richten.

Der Aufstieg Chinas kann im Grunde niemanden überraschen. Dieser historische Prozess war unvermeidlich, seit sich die chinesische Gesellschaft für die Marktwirtschaft geöffnet hat und die Globalisierung für eine stetig wachsende Mobilität von Arbeitskräften, Kapital und Wissen sorgte. Es war ja keineswegs so, dass Peking den Westen mit vorgehaltener Pistole gezwungen hat, in China zu investieren. Insbesondere US-amerikanische Firmen haben jede Gelegenheit genutzt, von einer billigen Arbeitskraftreserve zu profitieren. Während die Chinesen ihre Industrie entwickelten, konnten die US-Bürger günstigste Importwaren konsumieren, ohne von umweltbelastenden Fabriken belästigt zu werden. Dieser Austausch hat beiden Seiten greifbare Vorteile gebracht – und schädliche Langzeitwirkungen beschert: den Abbau von Arbeitsplätzen in den USA und eine verdreckte Umwelt in China.

Zwischen Peking und Washington ist damit eine ebenso bizarre wie unauflösliche Partnerschaft entstanden. China vergiftet seine Umwelt, damit die USA Geld sparen, und kauft US-Staatsanleihen, die es Washington ermöglichen, seine Dollars im Irak oder in Afghanistan zu verschleudern. Als George W. Bush 2001 Präsident wurde, übernahm er Schulden in Höhe von 5 Billionen Dollar. Nach seiner achtjährigen Amtszeit waren es 10 Billionen Dollar. Obama hat den Schuldenstand in weniger als drei Jahren auf den historischen Höchststand von 15 Billionen Dollar gebracht.

Ganz sicher trägt China eine Mitschuld an der Finanzkrise, aber das Land ist zugleich auch deren Opfer. Indem es US-Bonds im Wert von 1 150 Milliarden Dollar hortet, hat es geholfen, die Wucht der Finanzkrise abzufedern – und den USA ermöglicht, noch mehr Dollars für den Krieg in Afghanistan auszugeben. Die Unmengen billigen Geldes, die die US-Zentralbank (Fed) ausgibt, bedeuten für US-Unternehmen erweiterte Finanzierungsmöglichkeiten, verringern aber zugleich auch die Kaufkraft der chinesischen Dollarbestände. Diese gegenseitige Abhängigkeit ist ebenso eigenartig wie ungesund. Und sie wird sich weiter verschärfen.

Nach alledem ist offensichtlich, dass das Verhältnis zwischen China und Amerika einer Neujustierung bedarf. China muss den heimischen Konsum ankurbeln, ein ökologisches Problembewusstsein entwickeln und die Handelsbilanzüberschüsse gegenüber den USA abbauen. Für die Vereinigten Staaten wäre es zwar weiterhin günstig, bestimmte industrielle Fertigungsbereiche ins billige Ausland zu verlagern, zugleich aber müsste man einen Teil der Produktion in die USA zurückholen, um die Balance zwischen Finanzwirtschaft und Industrie zu verbessern. Die Verantwortlichen in den USA sollten einsehen, dass die Fabrikation in China höhere Gewinne gebracht, zugleich aber die dortigen sozialen Ungleichheiten verschärft hat und so die moralischen Ansprüche der USA in Zweifel gezogen hat. So sehr, dass der Freihandel als solcher zunehmend infrage gestellt wird.

In geostrategischer Hinsicht verfolgen die beiden Länder nicht dieselben Ambitionen. Die USA streben nach globaler Dominanz und können als einziges Land der Erde ihre Streitkräfte schnell in alle Welt entsenden. Bevor China dazu auch in der Lage ist, wird noch viel Zeit vergehen. Washington hat Ende 2011 entschieden, Taiwan weitere Waffen zu verkaufen. Kurz zuvor hatte der chinesische Informationsminister einen Artikel über „China’s Peaceful Development“ veröffentlicht, in dem er die Integration Taiwans in die Volksrepublik als eine der nationalen Prioritäten beschrieb. Peking hofft, die dafür nötige wirtschaftliche Stärke schon bald zu erlangen, und strebt danach, die Straße von Taiwan und die umliegenden Seegebiete zu beherrschen.

Heimliche Expansion und diskrete Beschattung

Seither wird das Verhältnis der beiden Länder durch die Eigenlogik des Konflikts bestimmt. Die Rüstungslieferungen der USA an Taiwan haben China veranlasst, sein Arsenal zu modernisieren. Umgekehrt muss die chinesische Aufrüstung in Washington den Verdacht nähren, dass China strategische Ziele jenseits seines unmittelbaren Einflussgebiets verfolgt. Schließlich hat Peking bereits seine Zusage gebrochen, sich auf Taiwan und die Verteidigung seiner Grenzen zu beschränken, im Ausland aber keine weiteren Streitkräfte zu stationieren: China baut Militärflugzeuge, die auch entferntere Regionen erreichen können; es entsendet seine Kriegsschiffe in den Golf von Aden (angeblich zum Kampf gegen die Piraterie) und will nun auch im Ausland logistische Stützpunkte errichten.

Als Reaktion auf solche Aktivitäten verstärken die USA ihre Aufklärungsoperationen in den Territorialgewässern und im souveränen Luftraum Chinas. Um im Fall einer Intervention auf Taiwan seine Streitkräfte zu schützen, ist das Reich der Mitte dazu übergegangen, Einheiten der US Navy und Air Force auch jenseits der chinesischen 200-Meilen-Zone zu beschatten. Beobachter gehen inzwischen davon aus, dass die Regierung in Peking das Südchinesische Meer als entscheidend für seine nationalen Interessen betrachtet. Dies und die chinesische Politik gegenüber Japan4 und der Koreanischen Halbinsel sind die maßgeblichen Gründe für die Rückkehr der USA nach Asien.

Mit dieser Politik verfolgen die USA zwei Ziele: die eigene Präsenz in der Region zu verstärken und jedem Verstoß gegen das internationale Seerecht in der pazifischen Region vorzubeugen. Was die Schifffahrt auf hoher See betrifft, ist die Interessenlage beider Länder freilich durchaus deckungsgleich, denn beide können von der Freiheit der Meere nur profitieren. China hat also keinen Grund, sich wegen der Präsenz der US-Navy allzu große Sorgen zu machen – solange keine der beiden Seiten die Absicht erkennen lässt, die Kommunikationswege der anderen zu beeinträchtigen. Die USA sollten sich im Übrigen verpflichten, elementare chinesische Interessen nicht zu verletzen. Das könnte eine neue strategische Balance zwischen den beiden Ländern erleichtern – eine der vordringlichsten politischen Aufgaben dieses Jahrzehnts.

Fußnoten: 1 Damit hilft China den USA unter anderem, die Inflation unter Kontrolle zu halten. Siehe auch Dean Baker, „Die Angst des Dollars vor dem Yuan“, Le Monde diplomatique, April 2010. 2 Der Begriff stammt von dem Journalisten Joshua Cooper Ramo und bezeichnet das chinesische Entwicklungsmodell, das für Entwicklungsländer interessanter sei als der „Washington-Konsens“ und die Regeln über Good Governance, die von den USA und insbesondere vom Internationalen Währungsfonds (IWF) hochgehalten werden. 3 Vgl. Michael T. Klare, „Kurs auf den Pazifik“, Le Monde diplomatique, März 2012. 4 2010 wurde ein japanisches Regierungsschiff – laut Tokio rein willkürlich – von einem chinesischen Boot zum Anlegen gezwungen.

Aus dem Französischen von Herwig Engelmann

Shen Dingli ist Dekan des Instituts für Internationale Studien und Direktor des Zentrums für Amerikastudien an der Fudan-Universität, Schanghai.

Le Monde diplomatique vom 11.05.2012, von Shen Dingli