11.05.2012

Geschäftsmodell Nato

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Geschäftsmodell Nato

von Olivier Zajec

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Die Mitglieder der Nordatlantischen Allianz kommen am 20. und 21. Mai zu ihrem Gipfel in Chicago, der Stadt des US-Präsidenten Obama, zusammen. Die Konferenz wird mit einer Akribie und Hektik vorbereitet wie kaum eine andere zuvor. Nichts bleibt dem Zufall überlassen. Denn in Chicago geht es um den verbliebenen Rest an Glaubwürdigkeit der „neuen Nato“, die am Ende des Kalten Kriegs geglaubt hatte, sie könne als selbst ernannte Weltpolizei im Namen westlicher Werte den Weltfrieden auf allen fünf Kontinenten sichern.1

Als „Achse eines globalen Sicherheitssystems, das Partnerschaften mit über dreißig Ländern unterhält“, feiert eine Pressemitteilung des Weißen Hauses eine Organisation, die sich nach wie vor als nicht nur militärisches, sondern auch sicherheitspolitisches Bündnis begreift und sich inzwischen auch als zuständig für die zivile Krisenbewältigung betrachtet,2 die bislang die Domäne der Europäischen Union war. Nur dass ungeachtet der Selbstbeweihräucherung auf transatlantischen Konferenzen die grandiose Illusion einer „globalisierten Nato“ längst in den afghanischen Bergen krepiert ist. Obama ist im Grunde Gefangener einer längst hinfälligen Militärstrategie, die nur noch die Folgen der Nation-Building-Illusionen3 und des Antiterrorkriegs der Bush-Regierung verwaltet und zu diesem Zweck mehr oder weniger geschickte Absetzbewegung inszenieren muss.

„Claim victory and run!“, den Sieg verkünden und abhauen – die Art, wie manche US-Analysten die Afghanistan-Operation auf den Begriff bringen,4 sagt vieles über die Entwicklung der Nato unter der Ägide der letzten beiden Generalsekretäre. Der Brite George Robertson wie der Däne Anders Fogh Rasmussen hatten eine Strategie zu rechtfertigen, die keine war. Dabei legten sie ein rhetorisches Geschick an den Tag, das nur von ihrer Unfähigkeit übertroffen wurde, die europäischen Interessen zur Geltung zu bringen – und von ihrem Eifer, jede Kritik an der offiziellen Linie zu unterbinden.

Werte je nach Krisenlage

Entgegen den Beschlüssen des Lissaboner Gipfels von 2010, die eine „kooperative Sicherheit“ unter Einschluss der Länder des „Fernen Westens“ wie Neuseeland oder Japan angekündigt hatten, sind immer mehr Mitgliedstaaten geneigt, das Bündnis wieder auf seine ursprüngliche Aufgabe einer gemeinsamen europäischen Verteidigungspolitik zu beschränken, die nicht mehr ideologisch (als Verteidigung „gemeinsamer Werte“), sondern geografisch definiert sein soll. In Rahmen einer solchen Doktrin wäre der von Zbigniew Brzezinski (einst Sicherheitsberater Präsident Carters) geprägte Begriff „Krisenbogen“, der so schwammig und unklar ist, dass er sich für alles benutzen lässt, durch den Begriff „Interessenbogen“ zu ersetzen, der sich konkret auf ein Territorium, eine Bevölkerung oder eine engere Region bezieht.

Zusätzlich zur Sinnkrise der Allianz wird auch der Druck der US-Präsidentschaftswahlen auf den Diskussionen von Chicago lasten. Der Nato-Gipfel von 2012 ist der erste seit 13 Jahren, der in den USA stattfindet. Die Obama-Administration will natürlich deutliche Zeichen setzen, die sie als konkrete Fortschritte darstellen kann, um ihren republikanischen Gegnern den Wind aus den Segeln zu nehmen. Für Obama (und seine Demokraten) wäre es am besten, wenn er demonstrieren könnte, dass die Post-Afghanistan-Nato strategisch, aber auch und vor allem wirtschaftlich-technologisch für Washington nach wie vor ein „gutes Geschäft“ ist.

Das wäre gerade auch angesichts der Ausgabenkürzungen für das Pentagon wichtig, die sich in den nächsten Jahren auf über 400 Milliarden Dollar belaufen werden. Die Aussicht auf diesen Aderlass – bei Verteidigungsausgaben von immer noch 600 Milliarden Dollar pro Jahr – stößt auf heftigen Widerstand bei allen Kongressabgeordneten, die Produktionsstätten von Boeing, Lockheed Martin, General Dynamics oder Raytheon in ihren Wahlbezirken haben. Angesichts der Wahlen werden die Berater des Weißen Hauses daher versucht sein, den Gipfel von Chicago in eine Verkaufsveranstaltung der US-Rüstungskonzerne zu verwandeln.

Seit den 1960er Jahren ärgert sich das Pentagon über die Ausdünnung der europäischen Verteidigungsausgaben. Der Unmut des Hauptgeldgebers der Nato ist in den letzten Jahren noch gewachsen. Die Verbündeten wurden immer wieder zu handfesten Rüstungsanstrengungen aufgefordert. Damit wollte man die „Trittbrettfahrer“ der gemeinsamen Verteidigungspolitik – die meist keine eigene Rüstungsindustrie haben – zur Beschaffung von modernem Gerät in den USA bewegen. Schon 2002 wollte man auf dem historischen Gipfel von Prag „Fähigkeitsverpflichtungen“ (capability commitments) festlegen: Jedes Land sollte in einem bestimmten Bereich der Rüstungstechnik (wie Satelliten, Logistik, Kommunikationssysteme) für die Auswahl und die gemeinsame Beschaffung von notwendiger Ausrüstung zuständig sein, um die Kommunikationsfähigkeit und Effektivität aller zu sichern.

Doch es blieb bei den Vorsätzen, wie der Krieg in Libyen gezeigt hat: Von allen europäischen Nato-Partnern sind nur die Franzosen, die immer noch über eine unabhängige Marine und Luftwaffe verfügen, und in geringerem Maße die Briten zu selbstständigen „Initial Entry“-Operationen in einem außereuropäischen Einsatzgebiet imstande. Dabei wurden die Libyen-Operationen noch durch die Logistik, die Zielaufklärung und die Befehls- und Kontrollzentren der USA unterstützt. Mit seiner bewussten Zurückhaltung („leading from behind“) wollte Washington auch die Botschaft vermitteln, dass es sein Engagement in der Nato durchaus zurückfahren könnte.

Genau das wird auch in der von Obama selbst im Januar 2012 vorgestellten Bewertung der Verteidigungspolitik (Defense Strategic Review) angedeutet, die von einer Neuorientierung auf den asiatisch-pazifischen Raum spricht und offen erklärt, dass die historische Mission der Nato in Europa „erfüllt“ sei.5 Das Papier war vom früheren US-Verteidigungsminister Gates in Auftrag gegeben worden, der noch im Juni 2011, kurz vor seinem Ausscheiden, von den Europäern mit harschen Worten einen konkreteren Beitrag zur Verteidigung des Kontinents verlangt hatte.

Obwohl die Entwicklung der letzten zehn Jahre für ein Scheitern der moralischen wie strategischen Führerschaft der USA spricht, erklärt der Gates-Bericht die daraus entstandene Krise der Nato zur Krise des europäischen Engagements. Um nicht plötzlich schutzlos dazustehen, sollten sich die Europäer an der Finanzierung von Unterstützungs- und Leittechnologien beteiligen, wobei die technisch-operative Koordination in den Händen der USA liegen soll. Darauf läuft das Konzept der „Smart Defense“ hinaus, das Nato-Generalsekretär Rasmussen im Februar 2011 als Antwort auf die Wirtschaftskrise empfohlen hat, die an den finanziellen Ressourcen der Mitgliedstaaten zehrt. Die Nato müsse sich, so Rasmussen, auf die grundlegenden militärischen Strukturen konzentrieren und diese gemeinsam finanzieren. Die Länder, die noch über eine eigene industrielle und technologische Basis verfügen, sollen sich zur Vermeidung von Redundanzen auf bestimmte Produktnischen spezialisieren.

Dieses Konzept birgt verschiedene Gefahren. Ein Land wie Frankreich würde dadurch seine mühsam bewahrte industrielle und strategische Autonomie verlieren. Bündelung der Kräfte kann ein Teil der Lösung sein, doch die Logik der technologischen „Nische“ führt auf lange Sicht zurück in die politische Nische. Vor allem schert sich Smart Defense kaum um Möglichkeiten und Kapazitäten der EU und keinen Deut um das gemeinsame europäisch-amerikanischen Potenzial der künftigen Interoperabilität, also um Fragen von Standards und Normen.

Die Europäer sollen kaufen, was sie selbst finanziert haben

Die Umsetzung des Smart-Defense-Konzepts soll auf bekannte Weise vonstatten gehen: In der ersten Phase werden die rüstungstechnischen Spitzenprodukte des USA strikt für den nationalen Gebrauch vorbehalten, dafür sorgen Exportschranken für sensible Technologien. In Phase zwei können die US-Konzerne einen breiten Exportfeldzug starten, mit der Produktion großer Serien zu entsprechend konkurrenzfähigen Kosten. Um die US-Industrie vollends glücklich zu machen, soll die Entwicklung des Programms aus den Forschungs- und Entwicklungsetats der europäischen Verbündeten finanziert werden. Mit der Folge, dass diese die Fähigkeit einbüßen, eigene Waffensysteme zu entwickeln.

Eine solche Entwicklung ist insbesondere im Bereich der ballistischen Raketenabwehr zu erwarten, wo der Zusammenhang zwischen technologischen Kapazitäten und politischer Autonomie besonders eng ist. Vor allem dieser Rüstungssektor wird sich demnächst auf dem Waffenbasar am Michigansee präsentieren. Die Nischenstrategie soll auch hier für Aufträge sorgen.

Auf der Tagesordnung des Gipfels in Chicago steht tatsächlich das offizielle Bekenntnis der Nato-Mitgliedstaaten zur gemeinsamen „vorläufigen Operationsfähigkeit“ (interim operational capability) auf dem Gebiet der Raketenabwehr. Die volle Operationsfähigkeit ist für 2018 vorgesehen. Um dieses Ziel zu erreichen, werden die USA, unterstützt von den osteuropäischen Ländern und gegen hinhaltenden Widerstand Moskaus, ihren Verbündeten vorschlagen, sich auf eine gemeinsame Definition der Bedrohung, der Aufgaben und der Mittel zu verständigen. Dabei geht es zentral um die Einsatzdoktrin und Planung des Systems und seiner Operationsregularien.

Die stehen im Grunde schon fest, denn in Sachen Raketenabwehr schreiben die USA der Nato schon lange Vorgehen und Zeitplan vor.6 So geschah es 2007, als die Bush-Regierung einseitig beschloss, für ihr Raketenschild-Projekt einen „dritten Stationierungsort“ (third site) in Polen und in Tschechien einzurichten.7 Und so geschah es auch 2009, als die Obama-Regierung eine neue Variante dieses Plans entwickelte: den „flexiblen Mehrstufenplan für Europa“ (European Phased Adaptive Approach). Dieser EPAA sieht außeratmosphärische Abfangraketen vor, die auf Aegis-Fregatten stationiert sind und deren Führungsstab der Luftleitzentrale der U.S. Air Force in Ramstein untersteht.

Die Verteidigungsminister der europäischen Nato-Länder akzeptierten im Juni 2007 und im Oktober 2009, dass die gesamte Raketenschildarchitektur der Nato nach diesen Vorgaben aufgebaut wird. Seither sind aufgrund einer kurzfristigen Agenda alle Verbündeten dabei, sich auf bestimmte Nischen zu spezialisieren, wobei der ganze Prozess bis ins Detail von Washington vorgegeben wird. Das Ganze führt am Ende, mangels Alternative, zur Einbindung der Europäer in die „Spitze“ der künftigen Architektur – und damit auf direktem Wege zur Anschaffung von US-Waffensystemen, ohne dass deren Erwerb zu irgendwelchen Entscheidungs- und Kontrollbefugnissen über den gesamten Abwehrschild berechtigen würde.

Die zukünftige Entwicklung der Verteidigungsstrategien – auch der von Schwellenmächten wie China, Brasilien oder Indien – beruht auf der Beherrschung der Räume, auf Zugangskontrolle zu den globalen Verkehrs- und Zirkulationssphären (See- und Luftwege, Raum- und Cyberspace-Korridore) und auf der Kontrolle von Informations- und Kommunikationsmitteln. Diese strategisch ausschlaggebenden Einflussbereiche, die sich langsam und unaufhaltsam herausbilden, sind der Grund dafür, dass die USA sich unbedingt die zentrale Rolle vorbehalten wollen, das heißt: Herren der höheren Funktionen (Luftmacht, Raketenabwehr) bleiben wollen, von denen die besagten Nischenfunktionen abhängig sind. Wenn man bedenkt, was hier auf dem Spiel steht, ist es also überaus wichtig, dass über die zukünftigen europäischen Technologien und Investitionen nicht im Hinblick auf ergänzende Fähigkeiten entscheiden wird, sondern aufgrund einer Politik, die sich die Voraussetzungen strategischer Autonomie erhalten will.

Bei Smart Defense handelt es sich angeblich um „intelligente“ Verteidigung. Die könnten die europäischen Delegierten in Chicago praktizieren, indem sie die einseitigen Terms of Trade, die das Bündnis wirtschaftlich formieren und kulturell deformieren, neu aushandeln. Sonst könnte eine jüngere europäische Führungsgeneration das Scheinargument von Gates umkehren und sich seinerseits vom alten amerikanischen Freund abwenden.

Fußnoten: 1 „Fact Sheet on May Nato Summit in Chicago“, The White House, 21. März, 2012. 2 Das EU-Konzept der zivilen Krisenbewältigung (ZKB) ist seit jeher wichtiger Teil der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP). 3 Politisch-militärische Intervention zum Aufbau oder zur Konsolidierung der Institutionen eines gescheiterten Staats. 4 Vgl. Gene Healy, „With Bin Laden gone, declare victory and come home“, The Examiner, Washington, 2. Mai 2011. 5 Siehe Michael Klare, „Kurs auf den Pazifik“, Le Monde diplomatique, März 2012. 6 Siehe Olivier Zajec, „Die Gesetze der politischen Ballistik. Putin, Nato und Raketenabwehr“, Le Monde diplomatique, April 2008. 7 Die Standorte 1 und 2 befinden sich in den USA. Die Bush-Administration gab mit der Formulierung „dritter Standort“ zu erkennen, dass es vor allem um amerikanische Kontinentalverteidigung ging, also: Raketenabwehr in Europa, weniger für Europa.

Aus dem Französischen von Thomas Laugstien Olivier Zajec ist Historiker und forscht am Institut für Strategie und Konfliktforschung (ISC) in Paris. Autor von „La Nouvelle Impuissance américaine“, Paris (L’Oeuvre) 2011.

Le Monde diplomatique vom 11.05.2012, von Olivier Zajec