11.05.2023

Und in der Mitte der Fluss

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Und in der Mitte der Fluss

Nach fast 20 Jahren Verhandlungen könnte der Grenzstreit zwischen Kambodscha und Vietnam bald beigelegt sein

von Louis Raymond

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Zwischen Moc Bai und Bavet herrscht reges Treiben. Freundliche Polizisten stempeln in Vietnam die Pässe von Touristen, die nur der Form halber aus dem Bus gestiegen sind. Lediglich die alten Landkarten vor dem Zollhäuschen erinnern daran, dass die Beziehungen zwischen Kambodscha und Vietnam nicht immer so entspannt waren.

Die Karten aus der Zeit von Kaiser Minh Mang (1820–1841) sollen Viet­nams Anspruch auf die Spratly-Inseln und die seit 1974 von China kontrollierten Paracel-Inseln unterstreichen. Und sie zeigen, dass das vietnamesische Reich einst bis zum Tonle-Sap-See reichte.

Das Mekongdelta erstreckt sich von Phnom Penh 300 Kilometer nach Süden bis zum Südchinesischen Meer. Dank seines natürlichen Kanalsystems gehört es zu den fruchtbarsten Gegenden der Welt. Im 18. Jahrhundert lebten hier Vietnamesen (Viet), Khmer, Cham und Chinesen weitgehend friedlich nebeneinander, bis in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die „Annamiten“, wie die französische Kolonialmacht die Bewohner des heutigen Vietnams nannten, die Oberhand gewannen. Sie drangen mit ihren Truppen immer weiter vor, errichteten Festungen und machten das Land urbar.

In der Hoffnung, sich von der Dominanz der siamesischen (später thailändischen) und annamitischen Nachbarn zu befreien, bat der Khmer-König Ang Duong um den Schutz der Europäer. 1859 schickte er sogar Truppen, um die französische Marine bei der Eroberung Saigons zu unterstützen. 1863 wurde Kambodscha französisches Protektorat.

Die Franzosen erfüllten ihre „Schutzmission“ jedoch nicht immer zur Zufriedenheit der Khmer. So förderten sie die Zuwanderung der Annamiten, die auf den Kautschukplantagen oder als subalterne Beamte beschäftigt wurden. Anfang der 1950er Jahre machten sie fast ein Drittel der Einwohnerschaft Phnom Penhs aus.

Nach der Unabhängigkeit Kambodschas 1953 und des (geteilten) Vietnams 1954 wurde die Anwesenheit der Minderheiten in beiden Ländern zu einer Herausforderung für die jungen postkolonialen Staaten, die nationale Einheit anstrebten. Zumal die französische Kolonialherrschaft eine Grenze hinterlassen hatte, die mitten durch das ethnisch wie ein Flickenteppich besiedelte Mekongdelta schnitt.

Saigon (seit 1976 Ho-Chi-Minh-Stadt) wählte damals eine Assi­mi­la­tions­strategie. Zur Zeit von Ngo Dinh Diem (von 1955 bis zu seiner Ermordung 1963 Präsident Südvietnams), wurden die 500 000 an der Südküste lebenden Khmer Krom gezwungen, ihre Namen zu „vietnamisieren“. Es kam zu diplomatischen und militärischen Spannungen mit Kambodscha, wo bis Ende der 1960er Jahre mehr als 500 000 Viet lebten. Sie hatten ihr Leben am Wasser nicht aufgeben wollen, um in die Grenzgebiete zu ziehen, wo Diem ihnen Land versprochen hatte. Dem Autokraten war es dabei nicht nur um die ethnische Einheit Südvietnams gegangen; er wollte auch die Unter­wanderung Kambodschas durch die Kommunisten in Nordvietnam eindämmen.

Nach General Lon Nols Staatsstreich in Kambodscha am 18. März 1970 mussten die meisten Viet vor den nun einsetzenden Pogromen fliehen. Während die Grenze zwischen Vietnam und Kambodscha von der US-Luftwaffe massiv bombardiert wurde, verwandelte sie sich sukzessive in eine ethnische Trennlinie, was sie bis dahin nie gewesen war. Die Herrschaft der Roten Khmer (1975–1979) und der Dritte Indochinakrieg (1978–1989), also die Besetzung Kambodschas durch das wiedervereinigte Vietnam, trugen sehr dazu bei.

Erbe des französischen Kolonialregimes

Die Roten Khmer wollten das gesamte Mekongdelta zurückerobern. Immer wieder griffen sie in der Grenzregion an, zündeten vietnamesische Dörfer an und töteten vor allem in den Jahren 1977 und 1978 hunderte Menschen. Nach der Eroberung Phnom Penhs durch vietnamesische Truppen 1979 wurden die Grenzzwischenfälle seltener, hörten aber nicht auf. Noch 1993, vier Jahre nach dem Rückzug der vietnamesischen Truppen, kam es zu Massakern.1

Heute erinnern in den Dörfern nur einige verrostete Gedenktafeln an die damaligen Gewaltexzesse. Doch sowohl in der vor 30 Jahren wiedererrichteten kambodschanischen Monarchie als auch im Einparteienstaat Vietnam ist man sich im Klaren, dass man sich diesem schmerzlichen Erbe stellen muss.

Die Vietnamesin Nguyen Thi Thu Ha ist 1967 in Kambodscha geboren und lebt in S'ang (siehe Karte). Als sie drei Jahre alt war, flohen ihre Eltern nach Vietnam; 1980 kehrten sie wieder zurück. Seitdem ist sie geblieben. Da sie keine kambodschanische Staatsbürgerschaft hat, muss sie jährlich 250 000 kambodschanische Riel (circa 60 Euro), ein Drittel des Mindestlohns, für ihre Aufenthaltsgenehmigung bezahlen. Sie verrät uns ein überraschendes Detail: „Die vietnamesische Botschaft unterstützt uns bei diesen Gebühren.“

In anderen kambodschanischen Dörfern mit vietnamesischer Bevölkerungsmehrheit wird uns diese Information bestätigt. Eine dem vietnamesischen Außenministerium nahestehende Quelle erklärt, dass offiziell kaum darüber gesprochen wird – aus Furcht, damit antivietnamesische Ressentiments zu schüren.

Tatsächlich übt Hanoi diskreten Einfluss aus und beschützt Personen mit unklarem Status. Nach dem kambodschanischen Nationalitätengesetz von 1996 müssen Viet, um die Staatsbürgerschaft zu erhalten, nachweisen, dass ihre Familie seit mehreren Generationen im Land lebt. Was viele zu Staatenlosen macht, weil unter den Roten Khmer zahlreiche Dokumente vernichtet wurden und es jahrelang keine funktionierende Verwaltung gab.

Anders ist die Situation für die 1,3 Millionen Khmer, die in Vietnam leben, sich aber kulturell und reli­giös mit Kambodscha verbunden fühlen. Sie haben vietnamesische Pässe, weil Hanoi die Khmer offiziell als eine von 54 ethnischen Minderheiten behandelt. Allerdings berichten internationale NGOs regelmäßig über die Verletzung ihrer Rechte, vor allem der religiösen. Die letzten großen Veranstaltungen des Vereins Khmer Kampuchea-Krom fanden 2007 statt. Weiterhin aktive Mitglieder werden von der viet­namesischen Polizei überwacht – wie Duong Khai.

Kurz nachdem er auf Facebook über zwei neue Übersetzungen (in Khmer und auf Vietnamesisch) der UN-Deklaration der Rechte indigener Völker (Declaration on the Rights of Indigenous Peoples, Undrip) gepostet hatte, drangen am Nachmittag des 13. April 2021 rund 100 Polizisten in sein Haus ein und verhafteten ihn. Sie konfiszierten sein Handy, seinen Computer und die Übersetzungen der UN-Deklaration. Einen Tag später wurde er zwar wieder freigelassen, doch er wurde weiter überwacht und fürchte Repressionen, schreiben die UN-Sonderberichterstatter, die sich am 22. Juni 2021 an die viet­name­sische Regierung wandten mit der Aufforderung, zu seinem Fall Stellung zu nehmen.2

Auch in Kambodscha ist der Status der Khmer Krom umstritten, wie sich im Juli 2022 beim Schönheitswettbewerb „Miss Grand Cambodia“ zeigte. Nachdem der Ausrichter, die BKA Entertainment, die Kandidatin Hang Soriyan als „viet-khmer Mischling“ vorgestellt hatte, musste diese sich gegen Hasskommentare in den sozialen Medien zur Wehr setzen.

Verteidigt wurde sie in Phnom Penh mit dem nationalistischen Argument, die Franzosen hätten das Me­kong­delta an Vietnam verschenkt. Hang Soriyan nehme ganz zu Recht am Wettbewerb teil. Tatsächlich festigten die Annamiten schon zur Zeit von Kaiser Minh Mang und seinem Nachfolger Thieu Tri ihre Herrschaft über das Mekongdelta und gingen erbarmungslos gegen ihre Khmer-Rivalen vor.

Raoul-Marc Jennar, Berater des kambodschanischen Außenministers, erinnert daran, dass „König Ang Duong 1845, also lange vor der Ankunft der Franzosen, auf die Rückeroberung von Kampuchea Krom verzichtet hat“. Manche Kambodschaner verlören immer noch jedes Maß, wenn es um Viet­nam gehe.3

Die Frage des Mekongdeltas spielt in der vietnamesischen Öffentlichkeit eine eher sekundäre Rolle, während es in Kambodscha die Politik spaltet. Ministerpräsident Hun Sen, ein ehemaliges Mitglied der Roten Khmer, der sich 1977 nach Vietnam abgesetzt hatte,4 gilt als Freund Hanois. Die Opposition, allen voran Sam Rainsy, der im französischen Exil lebende Gründer der Na­tio­nalen Rettungspartei Kambodschas, versucht daher schon seit Jahren mit anti­viet­na­me­si­schen Ressentiments zu punkten. Mehrmals hat er Aktionen zur Versetzung von Grenzsteinen organisiert. Er steckte auch mit anderen hinter einer Serie von Grenzzwischenfällen zwischen Khmer- und vietnamesischen Bauern im Mai und Juni 2015.

Seit der Unabhängigkeit wird über den offiziellen Verlauf der mehr als 1200 Kilometer langen Grenze gestritten. 2006 begannen die diplomatischen Verhandlungen. Auf vietnamesischer Seite ist der gegenwärtige Vizeaußenminister Nguyen Minh Vu Verhandlungsführer.

Heimliche Versetzung von Grenzsteinen

In Kambodscha ist dafür Var Kim Hong zuständig, der Staatsminister für Grenzen. Er erklärt uns seinem Büro im Palast des Ministerrats in Phnom Penh ausführlich seine Position: „Wir haben uns schon seit den 1990er Jahren gefragt, ob der 1985 mit Vietnam geschlossene Vertrag, in dem der Willen beider Seiten, den 1954 von den ­Franzosen festgelegten Grenzverlauf beizubehalten, bekundet wird, überhaupt Bestand hat. Wir sind zu dem Schluss gekommen, dass das ist der Fall ist.“

Die Opposition lehnte diese Entscheidung jedoch ab. Hun Sen, der seit 1985 ununterbrochen regiert und seit zwei Jahren seinen Sohn Hun Manet auf die Machtübernahme vorbereitet, soll daher die Verhandlungen vor allem aus innenpolitischen Gründen vorgeschlagen haben.

König Norodom Sihanouk war damit gar nicht einverstanden. 2005 erklärte er in einem offenen Brief, „die Neuverhandlung der Grenzen“ wäre „Selbstmord“.  Doch Minister Hong bleibt der Linie seines Regierungschefs treu, die dieser 2012 in einer fünfstündigen Rede vor dem Parlament dargelegt hat. „Wir wollen eine stabile und anerkannte Grenze, die Zusammenarbeit und Frieden zwischen beiden Ländern ermöglicht“, versichert er uns. Andere Punkte bedürften keiner Diskussion – wie die Senkung der Zölle im Rahmen des Freihandelsabkommens zwischen den Mitgliedern des Verbunds Südostasiatischer Nationen (Asean), dem Vietnam 1995 und Kambodscha 1999 beigetreten ist.

2019 haben sich beide Staaten über den Verlauf von 84 Prozent der Grenze geeinigt, die Karte wurden bei der UNO hinterlegt. Im Mai 2022 verkündeten die Parteien eine Einigung über weitere 6 Prozent. Und die Verhand­lungen werden fortgesetzt. Der Rest betrifft die Grauzonen der französischen Karten von 1954, wie Minister Hong erklärt: „Die französischen Dokumente sind eine sehr nützliche Referenz, die Streitpunkte betreffen deren Lücken.“

Außerdem hätten die Franzosen oft zugunsten ihrer Kolonie „Cochinchina“ entschieden. Kambodscha war ja nur ein Protektorat. Flüsse seien beispielsweise nicht in der Mitte geteilt worden, „wie es internationalem Recht entspricht, sondern die Franzosen haben das rechte Ufer und den Fluss Vietnam zugesprochen, Kambodscha hingegen nur das linke Ufer“. Die Vietnamesen würden jedoch Entgegenkommen zeigen und die Verhandlungen gingen voran. Die Einigung über die letzten 10 Prozent dürften dennoch schwierig werden. Die betroffenen Gebiete sind sehr abgelegen und am schlechtesten kartografiert.

Vor allem aber wünscht sich Var Kim Hong, dass die lokale Bevölkerung diese Grenze irgendwann akzeptiert. Doch das wird mindestens ebenso viel Zeit brauchen, wie die diplomatischen Verhandlungen gedauert haben. Denn trotz des guten Willens, den beide Seiten an den Tag legen, wird die politische Grenzziehung der menschlichen Besiedelung des Mekongdeltas nie entsprechen können.

1 Michel Blanchard, „Vietnam-Cambodge: Une fron­tière contestée“, Paris (L’Harmattan) 1999.

2 Siehe Reference AL VNM 3/2021, Genf, 22. Juni 2021.

3 Am 17. August erscheint Jennars Buch „La politique étrangère cambodge (1945–2020)“, Paris (Les Indes Savantes) 2023.

4 Siehe Raoul-Marc Jennar, „Das dritte Leben der Roten Khmer“, LMd, März 1999.

Aus dem Französischen von Claudia Steinitz

Louis Raymond ist Journalist.

Le Monde diplomatique vom 11.05.2023, von Louis Raymond