11.05.2023

Der Ruf der City

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Der Ruf der City

Die Londoner City ist das Zentrum des internationalen Finanzkapitals auf europäischem Boden. Mit dem Brexit schien das vorbei zu sein. Doch die Tory-Regierung tut alles, um der City einen „Big Bang 2.0“ zu bescheren.

von Frédéric Lemaire

Kiriakos Tompolidis, If Only the Pastor Knew, 2022, Collage auf Papier, 160 × 140 cm
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Glitzernde Wolkenkratzer prägen die Skyline der Londoner „City“, einige mit auffälliger Silhouette, denen der Volksmund Namen wie „Scalpel“ (Skalpell) oder „Cheesegrater“ (Käsereibe) verpasst hat.

Auffällig ist das Londoner Finanzzentrum auch, was die Konzentration internationaler Banken und den Devisenhandel betrifft. Fast 250 Auslandsbanken sind in der „City“ vertreten, und angeblich werden hier doppelt so viele US-Dollar umgesetzt wie auf den Devisenmärkten der USA.

Im Finanzdienstleistungssektor der britischen Hauptstadt sind knapp 860 000 Menschen beschäftigt, wenn man die Jobs in Beratungs-, Anwalts- und Buchhaltungsfirmen mitzählt. Das sind 18 Prozent der Londoner Erwerbsbevölkerung.1 Ein Großteil dieser Arbeitsplätze ist innerhalb einer Qua­drat­meile konzentriert, weshalb die City oft auch einfach als „Square Mile“ bezeichnet wird. Auch neuere Büroviertel, wie Canary Wharf weiter im Osten, werden von der Finanzindustrie dominiert.

Die hektische City von heute, die im Rhythmus der internationalen Finanzmärkte pulsiert, war einmal das historische Zentrum des britischen Empire. Und der Ort, an dem die moderne Finanzwirtschaft entstanden ist: Im 17. Jahrhundert finanzierten die Ban­kiers der Square Mile die kolonialen Expeditionen von Ostindien bis Nord- und Südamerika. Die ebenso riskanten wie lukrativen Geschäfte mit Tabak, Kaffee, Indigo und Zucker hielten die Maschinerie des Kolonialismus am Laufen.

Schon damals wurden in den Londoner Kaffeehäusern die Papiere der ersten Aktiengesellschaften (wie der mächtigen British East India Company) gehandelt und die ersten Versicherungen abgeschlossen. Ein Investorenclub, der sich in den Räumlichkeiten von Edward Lloyd traf und deshalb Lloyd’s Market genannt wurde, bot Kaufleuten, Kapitänen und Schiffseignern die ersten Policen zur Absicherung gegen mögliche Verluste an. „Lloyd’s of London“ ist noch heute eine wichtige internationale Versicherungsbörse.

Mit dem Niedergang des Empire nach 1945 begann auch der Stern der City zu sinken. Bis dahin konnten die Londoner Bankiers weltweit agieren. Doch das sogenannte Bretton-Woods-System machte den US-Dollar zur globalen Leitwährung und führte zu einer erheblichen Einschränkung der internationalen Finanzströme.

Dann kam die Suez-Krise von 1956, die den schwindenden internationalen Einfluss des Vereinigten Königreichs aufzeigte. Der Rückzug der britischen Streitkräfte aus Ägypten löste eine Kapitalflucht aus, die das britische Pfund und damit die globale Rolle der britischen Finanzwirtschaft schwächte. Angesichts der Konkurrenz der Wall Street mussten die Banker der City innerhalb der veränderten Weltfinanzordnung eine neue Rolle für sich finden.

So entstand in der City eine regelrechte Industrie zur Verschiebung und Verschleierung von Kapital. London wurde zur zentralen Drehscheibe von Transaktionen mit US-Dollar-Guthaben bei europäischen Banken („Eurodollars“). Seit den 1960er Jahren zog dieser quasi deregulierte Devisenmarkt Banken aus aller Welt an – insbesondere aus den USA –, die obskure Geschäfte für gebietsfremde Kunden abwickelten.

Die Bank of England als offizielle Aufsichtsbehörde schaute geflissentlich weg, auch als die Finanzinstitute der City ihre Offshore-Filialen in Steueroasen wie den Kaimaninseln und den Bermudas aufmachten. Die ehemaligen Außenposten des Empires zogen besonders diskretionsbedürftige Kunden an: arabische Ölmultis, Drogenkartelle, Diktatoren, Steuerflüchtlinge aller Art. Diese Offshore-Filialen waren nicht nur jeder staatlichen Kontrolle entzogen, sie dienten den Banken der City auch als Geldwaschanlage für die ihnen anvertrauten Eurodollars.

Eine neue Etappe begann in den 1980er Jahren, als die Thatcher-Regierung eine radikale Deregulierung des Finanzsektors durchzog. Der „Big Bang“ kam 1986 mit der Abschaffung der seit Jahrhunderten geltenden Regeln der Londoner Börse, der Einführung elektronischer Handelsplattformen und der Öffnung der Börsenmärkte für die Großbanken. Um von den neuen Regeln einer entfesselten Finanzwirtschaft zu profitieren, engagierten sich japanische, europäische und US-Finanzinstitute massiv auf dem Finanzplatz London.

Dass die City zu alter Stärke finden konnte, wäre ohne ihre engen Beziehungen zur politischen und administrativen Elite des Landes nicht möglich gewesen. Die traditionelle Nähe zur Politik ist quasi in Marmor gemeißelt. Die ehrwürdige Guildhall ist der Sitz der Verwaltungsbehörde „City of London Corporation“, die Bank of England liegt nur wenige Straßen weiter. „Wir sind nicht nur für die Verwaltung der Square Mile zuständig, wir verteidigen auch die Interessen der City gegenüber den Regierungen, mithin vertreten und fördern wir den gesamten britischen Finanzsektor“, sagt Chris Hayward, der „Policy Chairman“ der Corporation.

Kommunales Wahlrecht für Finanzunternehmen

Hayward und seine Mitarbeitenden in der Guildhall verweisen gern auf die demokratische Tradition der Corporation, die bis ins Mittelalter zurückgehe. In der Guildhall ist eine der wenigen Kopien der Magna Carta von 1215 zu besichtigen, in der die Krone den Londoner Kaufleuten und Handwerkern gewisse Rechte zugestanden hat. „Die Corporation ist die älteste Demokratie der Welt“, schwärmt Hayward. Allerdings haben bei den Wahlen zum Stadtrat der City auch die hier tätigen Unternehmen ein Stimmrecht.2

Als faktische Standesvertretung der Londoner Finanzwirtschaft hat die Corporation über die Jahrhunderte enorm viel Einfluss gewonnen. Der basiert vor allem auf dem städtischen Vermögensfonds („City’s Cash“), der 2021 auf 3,4 Milliarden Pfund (3,9 Milliarden Euro) geschätzt wurde.3 Außerdem entsendet die Corporation einen offiziellen Lobbyisten ins Unterhaus. Dieser „Remembrancer“ hat seit 1685 das Recht, als Beobachter an den Sitzungen teilzunehmen. Heute leitet er ein Juristenteam, das alle für den britischen Finanzsektor relevanten Gesetzesvorhaben prüft.

Für ihre Arbeit im Sinne der City verfügte die Corporation 2021 über ein Jahresbudget von 13,7 Millionen Pfund (15,7 Millionen Euro). Die Summe übersteigt die Ausgaben der mächtigen Association for Financial Markets in Europe (Afme), der wichtigsten Finanzlobbyorganisation auf EU-Ebene. Das Budget deckt unter anderem die Ausgaben des Remembrancers und die Repräsentationskosten des Lord ­Mayors ab, der sich als Botschafter der City im In- und Ausland betätigt.

Seit 2010 gibt es außerdem die Lobbyorganisation TheCityUK, die der Branche angesichts der Weltfinanzkrise ein „moderneres“ Image verschaffen wollte. Die von Bankern dominierte Vereinigung wurde mit dem Segen des damaligen Labour-Finanzministers Alistair Darling und des konservativen Bürgermeisters von Greater London Boris Johnson gegründet.

Der Einfluss der Londoner Finanzlobby reicht weit über die Grenzen des Königreichs hinaus. „Seit Jahrzehnten nehmen Lobbyisten-Bataillone der City großen Einfluss auf die Debatten in Brüssel“, meint Kenneth Haar von der NGO Corporate Europe Observatory. Die allermeisten Londoner Finanzakteure hätten sich gegen den Brexit ausgesprochen. Auch Jonathan Hill, der letzte britische EU-Kommissar, arbeitete einst als Lobbyist für TheCityUK. In Brüssel war Hill Kommissar für Finanzstabilität, Finanzdienstleistungen und Kapitalmarktunion.

Welche Folgen hatte der Brexit für die City? „Das ist Schnee von gestern“, meint der Sprecher von TheCityUK, Jack Neill-Hall. „Das Umfeld hat sich weiterentwickelt und die Branche hat sich angepasst.“ Nach Schätzungen des Beratungsunternehmens EY hat der britische Finanzsektor durch den Brexit gerade einmal 7000 Arbeitsplätze eingebüßt, die nach Paris, Frankfurt und Dublin verlagert wurden.

Die wahre Zahl liegt sicher höher; dennoch ist die von vielen prognostizierte Katastrophe ausgeblieben. Für Neill-Hall hat der Brexit sogar die Chancen für den Londoner Finanzplatz verbessert, durch die Verabschiedung „weicher“, auf den britischen Finanzsektor zugeschnittener Regeln „wettbewerbsfähig“ zu bleiben – vor allem gegenüber New York, „dem einzigen Konkurrenten Londons auf globaler Ebene“.

Die konservative Regierung scheint den Ruf der City erhört zu haben. Am 20. Juli 2022 präsentierte sie ein neues Gesetz, das der Londoner Finanzwirtschaft einen „Big Bang 2.0“ bescheren sollte. Einer der Urheber des Textes war der damalige Schatzkanzler Rishi Sunak. Der heutige Premier hatte schon im Mai 2022 eine „Reduzierung dieser regulatorischen Belastung“ verlangt.4

Im Dezember 2022 bestätigte der neue Schatzkanzler Jeremy Hunt diesen Kurs. Er kündigte Reformen an, um einschränkende Regelungen, die nach der Krise von 2008 eingeführt worden waren, wieder aufzuheben. Selbst der prominente Leitartikler der Financial Times, Martin Wolf, warnte daraufhin vor den Risiken einer „unsinnigen Deregulierung“.5

„Die politischen Entscheidungsträger halten die City für einen Goldesel“, meint der Finanzmarktexperte John Christensen. Dabei trage sie eher parasitäre Züge: „Angeblich wird dank der City Kapital aus China, den USA und Europa angelockt und im Vereinigten Königreich investiert. Doch um welche Art von Investments handelt es sich? Das Geld fließt in Immobilien, die Börse oder in Fusionen und Übernahmen. Das produzierende Gewerbe hat davon nichts.“

Für Marieke Beck, eine auf die City spezialisierte Dozentin am Londoner King’s College, ist das eigentliche Problem die enge Verflechtung des Finanzsektors mit vielen Bereichen der Gesellschaft. Daraus beziehe er seine „strukturelle Macht“.

Seit dem Niedergang des Landadels im 19. Jahrhundert hat die Finanzindustrie dank ihrer institutionellen Verbindungen zur Bank of England und zum Finanzministerium die Dominanz über andere Fraktionen der herrschenden Klasse errungen, vor allem gegenüber dem industriellen Kapital.6 Zudem muss die Bevölkerung, da der Abbau des Wohlfahrtsstaats fortlaufend die Sozialleistungen mindert, für ihre Alterssicherung in Pensionsfonds investieren oder sogar Kredite aufnehmen, um über die Runden zu kommen. Beides bedeutet eine frühe und hohe Verschuldung. Ein Großteil der Bevölkerung ist also – gezwungenermaßen oder aus freien Stücken – eng mit dem Finanzsektor verbunden.

Offenbar gelingt es der City heute mehr denn je, der Politik ihre Sicht der Dinge aufzuzwingen. Und zwar auch der Labour Party und ihrem Vorsitzenden Keir Starmer. „Mit Jeremy Corbyn haben wir gezeigt, dass es möglich und populär ist, die Macht der Finanzwirtschaft infrage zu stellen“, sagt James Schneider, der dem linken Labour-Flügel angehört. „Doch die aktuelle Parteiführung will von einer Kritik an der City nichts wissen.“

Auf der Jahrestagung 2022 von TheCityUK hielt die Labour-Abgeordnete Rachel Reeves eine Rede, die den Lobbyisten Musik in den Ohren sein musste: „Das Vereinigte Königreich sollte extrem stolz auf den internationalen Erfolg seiner Finanzdienstleistungsbranche sein.“

Doch das von der City propagierte Wirtschaftsmodell, das auf dem Wachstum des Finanzsektors beruht, ist ein Kartenhaus, das die vielfachen aktuellen Krisen zum Einsturz bringen könnten. Dieses Modell ist auf Kapitalzuflüsse aus der ganzen Welt angewiesen, um Investitionen in unproduktive Sektoren (Immobilien, Finanzmärkte) zu finanzieren und den Konsum von Luxusgütern oder den kreditfinanzierten Verbrauch anzukurbeln.

Jetzt aber haben die steigenden Energiekosten, die allgemeine Infla­tion und die Anhebung der Leitzinsen durch die Zentralbanken zu einer Kapitalflucht in „sichere Werte“ – vor allem in US-Staatsanleihen – geführt. Diese Entwicklungen könnten den Zufluss billigen Geldes stoppen, von der die Finanzbranche lange gelebt hat.

Der Crash der Silicon Valley Bank und der Credit Suisse verweist auf die extreme Anfälligkeit des Sektors. Er zeigt aber auch, welch fatale Auswirkungen der Verzicht auf strenge Regeln bei der Finanzaufsicht haben kann. Wenn die Regierung Sunak mit ihrem „Big Bang 2.0“-Projekt eine weitere Deregulierung des Finanzsektors anstrebt, spielt sie mit dem Feuer.

1 „Key facts about the UK as an international financial centre 2022“, TheCityUK, Januar 2023.

2 Die Zahl der Stimmen einer Firma bemisst sich an der Personalstärke, wobei kleine Firmen relativ begünstigt werden. Siehe City of London, Wards Elections Act 2002.

3 City’s Cash Annual Report and Financial Statements for 2021/22.

4 „Rishi Sunak to weaken City regulation in post-Brexit nod to Tory donors“, The Guardian, 10. Mai 2022.

5 „The UK needs to learn its own lessons from the banking crisis“, Financial Times, 2. April 2023.

6 Siehe Franck Longstreth, „The City, Industry and the State“, in: Colin Crouch (Hg.), „State and Economy in Contemporary Capitalism“, London (Croom Helm) 1979.

Aus dem Französischen von Markus Greiß

Frédéric Lemaire ist Volkswirt.

Le Monde diplomatique vom 11.05.2023, von Frédéric Lemaire