13.04.2023

Atlantropa

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Atlantropa

Der Traum von der Trockenlegung des Mittelmeers

von Pierre Rimbert

Geplante Staudämme nach Sörgel Deutsches Museum
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Mit seinem Monokel vor dem rechten Auge, seinem Dreiteiler und seiner arroganten Haltung sah Herman Sörgel gewiss nicht aus wie ein Spinner. Doch sein Name steht für eine der verrücktesten Utopien des 20. Jahrhunderts: Der Münchner Architekt wollte das Mittelmeer trockenlegen. Das Projekt, das Staudämme im Nildelta, im Bosporus, in der Meerenge von Gibraltar und der Straße von Messina vorsah, taufte er Atlantropa. Damit sollte Europa mit dem kolonisierten Afrika zu einer geografischen und politischen Einheit verschmelzen.

Die Idee kam ihm, als er 1927 in einem Geografiebuch las, dass das Mittelmeer ein Verdunstungsmeer sei. Würde sich die Meerenge von Gibraltar schließen, wie bei tektonischen Ereignissen in der Vergangenheit bereits geschehen, würde das Wasser der Zuflüsse nicht ausreichen, um die Verdunstung auszugleichen, und der Meeresspiegel würde rasch sinken. „Der Mensch braucht nur noch im Sinne der Natur das Werk vollenden“, erklärte Sörgel in dem Buch, das der Welt seine Idee präsentierte.1

Sänke der Meeresspiegel durch die Verdunstung einen Meter pro Jahr, würde sich das Mittelmeer in ein bis zwei Jahrhunderten in zwei Becken zurückziehen, eines im Westen, dessen Meeresspiegel 100 Meter unter dem des Atlantiks liegen würde, das andere östlich von Sizilien, das man auf dem Niveau von minus 200 Metern stabilisieren würde.

Weiter im Süden beabsichtigte Sörgel den Bau gewaltiger Staudämme am Kongo, künstliche Seen und die Vergrößerung des Tschad-Sees. Das afrikanische Klima würde damit milder und die Sahara könnte bewässert werden. Mit dem durch die Verdunstung des Mittelmeers gewonnenen Raum, dem zusätzlichem Getreide aus Nordafrika und einer unbegrenzten Menge Strom aus Wasserkraft wären alle Probleme Europas auf einen Schlag gelöst, eine Eisenbahnlinie von Berlin nach Kapstadt wäre das Symbol des neuen Kontinents.

Allein der Gibraltar-Staudamm würde 50 000 Megawatt Strom produzieren. Sörgel war überzeugt, dass die „Vorräte Europas an Kohle und Öl in 200 bis 300 Jahren erschöpft sind“, und riet dazu, je eher, desto besser, alternative Energiequellen zu erschließen. „Wenn Europa nicht von andern Erdteilen überflügelt werden will, muss es seine einzige Kraftquelle ganz großen Formats, nämlich das Mittelmeer, rechtzeitig ausbauen“, mahnte er. „Mit dem Kraftzentrum würde andernfalls automatisch auch das kulturelle Zentrum von Europa abwandern. Europa würde veröden, erlahmen, es hätte bestenfalls nur noch eine petrefakte Kultur wie heute etwa Ägypten oder Indien.“

Ende der 1930er Jahre fiel es dem Architekten nicht schwer, seine eigentlich postnationale und pazifistische Utopie dem Nationalsozialismus anzupassen. „Durch Einverleibung Afrikas in den abendländischen Kulturkreis ist heute noch eine Beherrschung der schwarzen Rasse möglich“, hatte er schon 1932 geschrieben. Und: „Durch Erstarkung Europas zu Atlantropa kann einer Versandung und Bolschewisierung von Osten noch vorgebeugt werden.“

Sörgel kontaktierte Benito Mussolini, dem die Idee, die italienischen Häfen auszutrocknen, ganz und gar nicht gefiel. In einer anderen Schrift von 1938, die er mit einem Hitler-Zitat aus „Mein Kampf“ einleitete, beschrieb Sörgel eine Welt, die von drei Mächten beherrscht wird: Amerika, Asien und Atlantropa mit seinen zwei Grundpfeilern: dem faschistischen Italien und Nazi­deutschland.

Gegen Versandung und Bolschewismus

Sörgel korrespondierte auch mit der deutschen Reichsstelle für Raumordnung, wo er vergeblich seinen euroafrikanischen Traum vortrug.2 Dort interessierte man sich mehr für den „Lebensraum im Osten“. 1943 hatte die Gestapo genug von seinen Extravaganzen und verbot ihm weitere Publikationen. Kaum war die bedingungslose Kapitulation Deutschlands unterzeichnet, belagerte der Visionär die Alliierten mit seinem Projekt.

Zwanzig Jahre zuvor, als Herman Sörgel die Welt mit Prospekten, Plakaten, Wanderausstellungen, Büchern und Artikeln zum Ruhme Atlantropas zu überschwemmen begann, war er durchaus auf Begeisterung gestoßen. Das Atlantropa-­Manifest, eine Kombination von Didaktik und Ästhetik, war voller Faltkarten, Infografiken und faszinierenden Skizzen.

Der Architekt wandte sich an die berühmtesten Köpfe der Welt. So schrieb er auch Albert Einstein, der ihn 1929 darauf hinwies, dass das Salzwasser, mit dem er die Wüste bewässern wollte, für die Landwirtschaft nicht geeignet sei.3 Er gewann sogar renommierte Architekten wie Erich Mendelsohn oder Peter Behrens für sein Projekt. Letzterer zeichnete beispielsweise den 400 Meter hohen Turm, der als „Bekrönung des ganzen Gibraltarwerkes das Nützliche mit dem Angenehmen verbinden“ sollte.

Und sein Kollege Fritz Höger entwarf das „Atlantropahaus“ als Hauptquartier mit drei untereinander verbundenen Türmen, deren Nutzung Sörgel sorgsam plante – bis hin zur Verteilung der Büros. In anderen Arbeiten ging es um die Zukunft der großen Hafenstädte Genua, Marseille, Venedig, Algier und Port Said, die weit entfernt vom Wasser liegen würden. Der Schweizer Ingenieur Bruno Siegwart war zunächst skeptisch, machte sich dann aber mit Begeisterung an die hydrologische Neugestaltung Afrikas, die sich über 133 Jahre erstrecken sollte.

Von der New York Times bis zu Ici Paris berichtete die von Sörgels Charisma beeindruckte westliche Presse über At­lan­tropa. Zwischen 1929 und 1933 widmeten allein deutschsprachige Zeitungen dem Projekt 450 Artikel – die meisten davon schrieben Sörgel oder seine Anhänger allerdings selbst. Um Entscheidungsträgern und Investoren sein Projekt quasi schlüsselfertig zu verkaufen, organisierte er eine Multimediapropaganda, die Elon Musk vor Neid hätte erblassen lassen.

In den 1930er Jahren erwähnten ein Dutzend Romane Atlantropa mehr oder weniger ausführlich, darunter „Amadeus“ des damaligen Schweizer Erfolgsautors John Knittel (1939), der auf Englisch schrieb. Der in sechs Sprachen übersetzte und weltweit mehr als eine Million Mal verkaufte Roman beschreibt die verhinderte Liebe eines Ingenieurs und einer Pianistin, die, zum Teil recht didaktisch, Sörgels Projekt bejubeln. Auch „Der Krieg mit den Molchen“ des tschechischen Autors Karel Čapek (1936), ein Klassiker der Science-Fiction, nimmt Bezug auf die großen Pläne des Architekten.

Ab 1933 organisierte Sörgel einen Wettbewerb um das beste Drehbuch für einen Propagandafilm, das er 1948 schließlich selbst schrieb: „Der Film endet mit der Schaffung Atlantropas und seinem Sieg über die Gegner. Weite sonnige Landschaft, Segen der Erde, Kinder singen, die Atlantropa-Flagge weht“, resümierte der Kritiker des Spiegel am 13. März 1948 den geplanten Spielfilm, der niemals gedreht wurde. Stattdessen inszenierte der Regisseur Anton Kutter zum großen Ärger Sörgels die Katastrophenversion von Atlantropa. In dem Film „Ein Meer versinkt“ (1936) geht die neue Zivilisation durch die Zerstörung des Gibraltar-Damms unter.

Der unermüdliche Selbstpromoter Sörgel schrieb sogar ein Libretto für den Chor einer „Atlantropa-Symphonie“, drehte mehrere Dokumentarfilme, die in verschiedenen Sprachen synchronisiert wurden, machte Radiosendungen, hielt Vorträge, gründete in München ein Atlantropa-Institut und gab eine Zeitschrift heraus, Die At­lan­tro­pa-­Mitteilungen.4

Für eine westliche Welt, in der zwischen den beiden Weltkriegen Untergangsängste und Fortschrittsglauben, avantgardistische Ästhetik, Technikglaube und ein Hang zu radikalen Lösungen aufeinandertrafen, schlug At­lan­tropa eine neue Ordnung für eine befriedete Welt vor, die auf Kolonisierung und Wissenschaft beruhte. Der Historiker Philipp Nicolas Lehman schreibt: „Sörgel sah in seinem Projekt eine revolutionäre Kraft, die Europa nicht nur physisch, sondern auch gesellschaftlich und politisch neu organisieren und strukturieren würde. Atlantropa sollte ‚eine neue Lebensform für Europa‘ werden, die die streitenden Nationen auf dem Kontinent vereinen und ihre in internen Kriegen vergeudeten Energien auf ein großes gemeinsames Projekt richten würde.“5

Nur wenige Zeitgenossen Sörgels lehnten sein Projekt rundheraus als unrealistisch und irrsinnig ab. Der Suez­kanal war gerade 60 Jahre alt, Fritz Lang faszinierte 1927 die Zuschauer mit seinem Film „Metropolis“, die US-Regierung ließ ab 1933 gewaltige Staudämme in Tennessee errichten, und die Sowjetunion experimentierte mit der modernen Planwirtschaft.

Herman Sörgel starb Weihnachten 1952 bei einem Fahrradunfall in München. Nach Beginn des Kalten Kriegs verdrängte die Atomkraft allmählich die Wasserkraft als energietechnische Avantgarde, und die Befreiungskriege in Asien und Afrika bereiteten den kolonialen Utopien ein Ende. Atlantropa verschwand aus dem öffentlichen Bewusstsein. Anderes trat an seine Stelle: Das Zeitalter sinnloser Großprojekte hatte gerade erst begonnen.

1 Herman Sörgel, „Altantropa“, Zürich/München (Fretz & Wasmuth/Piloty & Loehle) 1932. Wenn nicht anders erwähnt, stammen alle Zitate aus diesem Werk.

2 Alexander Gall, „Das Atlantropa-Projekt. Die Geschichte einer gescheiterten Vision. Herman Sörgel und die Absenkung des Mittelmeers“, Frankfurt am Main (Campus) 1998.

3 Ricarda Vidal, „Atlantropa – One of the Missed Opportunities of the Future“, in: Ricarda Vidal und Ingo Cornils, „Alternative Worlds: Blue-Sky Thinking since 1900“, Oxford (Peter Lang) 2014.

4 Wolfgang Voigt, „Weltbauen am Mittelmeer. Ein Architektentraum der Moderne“, Hamburg (Dölling und Galitz) 1998.

5 Philipp Nicolas Lehmann, „Infinite Power to Change the World: Hydroelectricity and Engineered Climate Change in the Atlantropa Project“, The American Historical Review, Oxford, Bd. 121, Nr. 1, Februar 2016.

Aus dem Französischen von Claudia Steinitz

Le Monde diplomatique vom 13.04.2023, von Pierre Rimbert