09.03.2023

Auf der falschen Seite der Formosastraße

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Auf der falschen Seite der Formosastraße

Seit 1949 streiten Taiwan und die Volksrepublik China um die Kinmen-Inseln. Mit dem russischen Überfall auf die Ukraine wachsen die Befürchtungen, dass Peking den Archipel annektieren könnte.

von Alexandre Gandil

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Kurz nach dem umstrittenen Besuch von Nancy Pelosi, der damaligen Sprecherin des US-Repräsentantenhauses, in Taipeh Anfang August 2022 schoss Taiwan über seinem Territorium erstmals eine chinesische Drohne ab.

Der Abschuss vom 1. September erfolgte allerdings nicht über der Insel Taiwan selbst, sondern auf der gegenüberliegenden Seite der Taiwanstraße (auch Formosastraße genannt). Hier liegt unmittelbar vor der Festlandküste und nur ein paar Kilometer von der chinesischen Hafenstadt Xiamen entfernt den Kinmen-Archipel, der zu Taiwan gehört.

Nach Größe und Einwohnerzahl ist die Inselgruppe – im Westen eher unter dem Namen „Quemoy“ bekannt – nicht sehr bedeutend. Das Territorium von der Größe Liechtensteins besteht aus zwölf Inseln, wobei sich die Bevölkerung von etwa 50 000 Menschen auf die beiden Hauptinseln Kinmen (134 Quadratkilometer) und Lieyu (13 Quadratkilometer) konzentriert.

Aufgrund seiner geografischen Lage auf der „falschen“ Seite der Formosastraße steht Kinmen im Zentrum des Konflikts zwischen der Volksrepublik China und Taiwan. Dass der Archipel zu der Inselrepublik gehört, ist eine Folge der Teilung des Landes nach dem Bürgerkrieg.

Im Dezember 1949, zwei Monate nach Ausrufung der Volksrepu­blik China durch Mao Tse-tung, hatten sich die zentralen Institutionen der Repu­blik China auf Betreiben ihres Präsidenten Tschiang Kai-schek nach Taipeh zurückgezogen. Den Truppen des Generals gelang es trotz zweier Inva­sions­versuche der Kommunisten (im Oktober 1949 und im Juli 1950) sich auf Kinmen zu behaupten. Für ­Tschiang Kai-schek war das entscheidend für sein illusionäres Projekt, das chinesischen Festland zurückzuerobern.

Mit der Stationierung von mehr als 100 000 Soldaten wollte Tschiang Kai-schek die Inselgruppe zum Vorposten des „freien China“ machen. Stattdessen wäre sie während der beiden ersten Krisen in der Taiwanstraße (1954/55 und 1958) beinahe zum Auslöser eines Atomkriegs geworden. Seinerzeit verglich der Journalist Fernand Gigon Kinmen mit einer „Granate im Maul eines Tigers“.1

Doch mit der Zeit wurde die Granate zum Blindgänger, während die Beißwerkzeuge des Tigers immer stärker wurden. Kinmen verschwand von der Landkarte der internationalen Krisenherde.

Die Granate im Maul des Tigers

Erst seit dem russischen Angriff auf die Ukraine interessiert sich die internationale Öffentlichkeit erneut für die Inselgruppe. Einige Beobachter sprechen bereits spekulativ von der „asiatischen Krim“. Doch solche Vergleiche zwischen den beiden Territorien liegen ebenso sehr daneben wie Fantasien über eine bevorstehende Angliederung des kleinen Archipels an die Volksrepublik China – ob durch militärische Gewalt oder durch Wahlen.

Im Kalten Krieg wurde Kinmen aufgrund seiner historischen Entwicklung, die sich von der auf in Taiwan unterschied, zum Problem. Während Mao für 1951 eine Marineoperation gegen Taiwan plante, kam ihm der Ausbruch des Koreakriegs im Juni 1950 dazwischen.2 Als dann Präsident Harry Truman die 7. US-Flotte in die Formosastraße beorderte, nannte er als Grund auch den ungeklärten völkerrechtlichen Status Taiwans, das zwischen 1895 und 1945 eine japanische Kolonie gewesen war.

Truman erklärte, die Besetzung Formosas3 durch die kommunistischen Streitkräfte wäre „eine direkte Bedrohung für die Pazifikregion und die Streitkräfte der Vereinigten Staaten“. Deshalb habe er der 7. Flotte den Befehl erteilt, jeden Angriff auf Taiwans Hauptinsel zu vereiteln.

Allerdings forderte er zugleich die „chinesische Regierung auf Formosa“ auf, alle See- und Luftoperationen gegen das chinesische Festland einzustellen: „Jede Entscheidung über den künftigen Status von Formosa hat zu warten bis zur Wiederherstellung der Sicherheit im Pazifik, dem Abschluss eines Friedensvertrags mit Japan oder einem Beschluss der Vereinten Nationen.“4

Washington verfolgte also das Ziel, den chinesischen Bürgerkrieg zu beenden, indem es die Mittellinie in der Formosastraße zur Trennungslinie zwischen den beiden Lagern auserkor. Doch dem konnten  weder Tschiang Kai-schek noch Mao Tse-tung zustimmen, denn beide betrachteten Taiwan als legitimen Teil von China. Daher war der eine nicht bereit, Kinmen aufzugeben, während der andere den Archipel nicht annektieren wollte, ohne zugleich Taiwan zu erobern.

„Wir wollen nicht nur die Kinmen- und die Matsu-Inseln, sondern ganz Taiwan und den Penghu-Archipel“, erklärte der Große Steuermann im Oktober 1960. Aber schon damals meinte er, solange es US-Truppen in Taiwan gebe, werde dieses Problem ungelöst bleiben.“5 So kam es, dass beide Seiten in der Taiwanstraße vor dem chinesischen Festland bis heute eine territoriale Diskontinuität hinnehmen – und sich dabei beide auf die Kontinuität der chinesischen Nation berufen.

Flugblätter über Kinmen

Nach der zweiten Krise (1958) führten Peking und Taipeh eine Art symbolischen Bürgerkrieg über die Meerenge hinweg, die Kinmen von der chinesischen Stadt Xiamen trennt. Sie bombardierten sich gegenseitig mit Granaten, die nicht Explosivstoffe sondern Propagandaschriften enthielten.

Diese Auseinandersetzung endete am 15. Dezember 1978, als Washington und Peking die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zum 1. Januar 1979 ankündigten. Danach dauerte es allerdings noch weitere 15 Jahre, bis sich das Leben auf der Kinmen-Inselgruppe annähernd normalisierte.

Tschiang Kai-schek hatte für Kinmen von Anfang an eine andere Rolle vorgesehen als für Taiwan, das seinem nationalistischen Regime als Rück­zugs­territorium diente. Der winzige Archipel vor der chinesischen Küste war zugleich vorderste Verteidigungsfront und Außenposten für eine Gegenoffensive. Kinmen stand unter Militärverwaltung und war „Kriegszone“, in der viele Rechte eingeschränkt waren.

Dadurch blieb Kinmen lange von den Entwicklungen unberührt, die in Taiwan stattfanden. Das gilt sowohl für das legendäre „taiwanische Wirtschaftswunder“ wie auch für das Aufkommen einer Opposition zur nationalchinesischen Einheitspartei Kuomintang. Die Demokratisierung der Republik China, die sich auf der Haupt­insel Taiwan vollzog, erfasste Kinmen und seine Bewohner also mit Verspätung und nur indirekt: Das Kriegsrecht wurde erst 1992 aufgehoben, fünf Jahre später als auf Formosa.

Die reflexartige Gleichsetzung des Staats mit der Insel Taiwan ist der Bevölkerung von Kinmen nach wie vor ein Dorn im Auge. Im März 2020 erklärte Chen Yu-chen, eine Abgeordnete von Kinmen, im Parlament von Taipeh: „Die Republik China ist ein Staat, und ich möchte die Tatsache unterstreichen, dass Taiwan keiner ist. Denn die Republik China besteht aus Taiwan, Penghu, Kinmen und Matsu. Darauf werden wir in Kinmen immer bestehen.“6

Als Tai­wa­ne­r:in­nen bezeichnen sich die Be­woh­ne­r:in­nen nur in ganz bestimmten Situationen. Zum Beispiel im Ausland, damit sie nicht mit Chinesen aus der Volksrepublik verwechselt werden, oder wenn sie ihre Opposition zum „Festland“ betonen wollen. Die Identifizierung mit Taiwan nimmt allerdings in der jüngeren Generation zu. Zahlreiche junge Leute aus Kinmen studieren in Taiwan, wo sie meist auch Arbeit finden.

Häufig behalten sie jedoch ihren Wohnsitz auf dem Archipel, vor allem auch wegen gewisser sozialer Vergünstigungen, die in Kinmen in den 1990er Jahren eingeführt wurden. Dazu gehören Geburtenprämien und Alterszulagen ebenso wie eine kostenlose Gesundheitsversorgung und Subventionen für Flugtickets nach Taiwan.

Wegen dieser Vorteile haben sich zwischen 2004 und 2019 rund 7500 Taiwanerinnen und Taiwaner in Kinmen angemeldet, obwohl sie dort nicht unbedingt dauerhaft wohnen. Und bei einer offiziellen Bevölkerungszahl von 140 000 leben weniger als die Hälfte der Registrierten permanent auf dem Archipel.

Insgesamt gesehen scheint die Inselgruppe innerhalb einer demokratisierten, taiwanisierten Republik China ihren Platz als „periphere Insel“ gefunden zu haben. So heißt seit 2000 auch der offizielle administrative Status für Kinmen, der in mancher Hinsicht mit dem der französischen Überseegebiete vergleichbar ist. Damit kann die Bevölkerung den Abstand von Taiwan auf unterschiedliche Weise als Argument zu nutzen: mal um das Entwicklungsgefälle zu beklagen, mal um die lokalen Eigenheiten zu verteidigen.

Die zentrale Kontroverse zwischen Kinmen und Taipeh betrifft jedoch die Beziehungen zum Festland.

Seit Aufhebung des Kriegsrechts 1992 fordert die lokale Regierung, direkte Beziehungen zum nahen chinesischen Xiamen unterhalten zu dürfen. Man will die 1949 jäh abgeschnittenen Kontakte wieder aufnehmen und sich als Laboratorium für den Prozess der Annäherung über die Formosastraße hinweg anbieten. Ein erster Schritt in diese Richtung erfolgte 2001 mit den „Three Mini Links“: der Aufnahme des Personen-, Güter- und Postverkehrs zwischen Kinmen und Xiamen, der wenige Jahre später auf das ganze chinesische Festland und Taiwan ausgedehnt wurde.

Dennoch bleibt die Regierung in Taipeh misstrauisch. Das wurde etwa 2018 wieder deutlich, als Taipeh die Einweihungszeremonie für eine Wasserleitung vom Festland nach Kinmen verhinderte. Das hatte mit der Krise in den Beziehungen zu Peking zu tun, die sich seit dem Amtsantritt der für die Unabhängigkeit Taiwans eintretenden Präsidentin Tsai Ing-wen im Mai 2016 verschlechtert hatten. Auf Kinmen wurde der Einspruch aus Taipeh als Affront empfunden.

Aus Sicht von Kinmen sind die Beziehungen zum Festland eine notwendige Ergänzung und nicht etwa ein Ersatz für die Bindung an Taipeh. Die Loyalität der Bevölkerung, die von der taiwanischen Unabhängigkeitsbewegung in Zweifel gezogen wird, ist in Wirklichkeit stark ausgeprägt. So hat man etwa im Februar 2020 die Entscheidung der Regierung unterstützt, wegen der Corona­pandemie die Verbindungen zum Festland auszusetzen.7

Damals unternahmen die Touristenboote, die sonst taiwanische Urlauber nach Xiamen übersetzen, ersatzweise Kreuzfahrten rund um die Inselgruppe. Der Tourismus ist für Kinmen ohnehin eine der wichtigsten Einnahmequellen, seit man das Projekt einer bewaffneten Rückeroberung des Festlands aufgegeben und den Archipel Anfang der 1990er Jahre weitgehend demilitarisiert hat.

Heute sollen noch etwa 3200 Soldaten auf der Inselgruppe stationiert sein. Die hat ihre strategische Bedeutung zwar weitgehend verloren, doch ein chinesischer Angriff gilt militärisch nach wie vor als möglich. Dagegen würde eine erfolgreiche Landungsopera­tion der Taiwaner von Kinmen aus nicht viel bringen, da die Stadt Xiamen vom Rest des Festlands durch hohe Berge isoliert ist. Heute ist die militärische Strategie der Inselrepublik auf Taiwan zentriert8 , die Bedeutung von Kinmen beschränkt sich hauptsächlich auf Radar- und Beobachtungsanlagen.

Früher hatten junge Tai­wa­ner:in­nen regelrecht Angst, ihren Militärdienst in Kinmen leisten zu müssen. Heute ist die Inselgruppe ein begehrter Standort. Ein Aufenthalt auf Kinmen gilt fast als Auslandsreise, und für die Rekruten ist sie ein willkommener Tapetenwechsel. Die gleichen Vorteile hebt auch die lokale Tourismuswerbung hervor.

Bei der Bevölkerung löst die unmittelbare Nähe zum chinesischen Festland weniger Angst aus als vielmehr Neugier und Faszination oder auch schlichtes Desinteresse. Zwar wissen alle, dass die Volksbefreiungsarmee einmarschieren könnte, wenn sie wollte, und dieses Wissen ist auch im Alltag präsent, aber als eine Tatsache, an der letztlich nichts zu ändern ist – weshalb man sie am besten ignoriert.

Für die Volksrepublik China wiederum ist Kinmen vor allem wegen der Verbindung zur Insel Taiwan von Interesse, das heißt, als Vorposten einer Annäherung und als potenzielles Einfallstor für mehr Einfluss innerhalb der Republik China. Auch heute noch gilt, dass eine Annexion der Inselgruppe ohne die gleichzeitige Einnahme Taiwans kontraproduktiv wäre.

Denn dies würde das ausgeprägte taiwanische Identitätsgefühl noch weiter stärken und eine Unabhängigkeitserklärung wahrscheinlicher machen, die aus Sicht Pekings einer Sezession gleichkäme. Das bedeutet auch, das Kimnen vermutlich nicht stärker von einer chinesischen Invasion bedroht ist als Taiwan – obwohl der Archipel dem chinesischen Festland sowohl historisch wie auch geografisch viel enger verbunden ist.

1 Siehe Fernand Gigon, „Vu de Formose. Le conflit des îles côtières chinoises“, LMd, Oktober 1958.

2 Siehe Philippe Pons, „L’engrenage de la guerre“ in: „Corées. Enfin la paix?“, Manière de voir, Nr. 162, Dezember 2018/Januar 2019.

3 Der von der kurzen portugiesischen Kolonialherrschaft herrührende Name für Taiwan hat sich bis weit ins 20. Jahrhundert hinein gehalten.

4 Erklärung vom 27. Juni 1950.

5 Interview von Mao Tse-tung mit Edgar Snow vom 22. Oktober 1960. Siehe: „Sammlung von Texten Mao Tse-tungs über auswärtige Angelegenheiten (auf Chinesisch), Peking (Shijie zhishi chubanshe) 1994.

6 Redebeitrag vom 30. März 2020. Legislative-Yuan, „Protokoll der 10. Plenarsitzung des Ausschusses für innere Angelegenheiten auf der ersten Tagung des 10. Legislative-Yuan“ (auf Chinesisch), Lifayuan gongbao, Bd. 109, Nr. 19 (4768), Taipeh 2020.

7 Shun-Te Wang, „A political gamble. Taiwan’s Kinmen Island and the decision of supporting the central government’s Coronavirus prevention measures“, Taiwan Insight, 11. März 2020.

8 Siehe Tom Stevenson, „Wie gefährdet ist Taiwan wirklich?“, LMd, Februar 2023

Aus dem Französischen von Uta Rüenauver

Alexandre Gandil ist außerordentlicher Wissenschaftler am Centre d’études et de recherches internationales (Ceri) an der Sciences Po in Paris.

Was wann geschah

1895 Die Provinz Taiwan wird von der Qing-Dynastie an Japan abgetreten. Kinmen gehört nicht dazu und bleibt unter chinesischer Kontrolle.

1912 Gründung der Republik China.

1945 Nach der japanischen Kapitulation wird Taiwan wieder unter chinesische Kontrolle gestellt.

1946 Wiederaufflammen des Bürgerkriegs zwischen der nationalistischen Kuomintang und den Kommunisten. In Festlandchina (inklusive Kinmen) wird das Kriegsrecht verhängt.

19. Mai 1949 Verhängung des Kriegsrechts in Taiwan.

1. Oktober 1949 Gründung der Volksrepublik China.

25.–27. Oktober 1949 Schlacht von Gu­ning­tou. Die Truppen der Volksbefreiungsarmee scheitern mit dem Versuch, Taiwan zu erobern.

7. Dezember 1949 Die Regierung der Republik China zieht sich nach Taipeh zurück.

1954/55 Erste Formosakrise.

1956 Kinmen wird unter Militärverwaltung gestellt.

1958 Zweite Formosakrise.

1987 Aufhebung des Kriegsrechts in Taiwan.

1992 Aufhebung des Kriegsrechts auf Kinmen.

1995/1996 Dritte Formosakrise.

2001 Einrichtung eines direkten Fährverkehrs zwischen Kinmen und Xiamen (VR China).

Le Monde diplomatique vom 09.03.2023, von Alexandre Gandil