09.03.2023

Wir sind die Guten

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Wir sind die Guten

Russlands Krieg und Europas neuer moralischer Nationalismus

von Frédéric Lebaron

Janaa Caspary, Ohne Titel, 2022, 59,4 × 84,1 cm
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Ein Jahr nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine werden die Umrisse der neuen ideologischen Landkarte Europas erkennbar. Russlands Angriffskrieg und die massive europäische Unterstützung für die Ukraine – auf der Ebene der Politik wie der Medien – haben eine gemeinsame geistige Verfassung freigelegt, die bislang unter den floskelhaften Bekenntnissen der Eurokraten zu Multilateralismus und Menschenrechten verborgen lag.

Die EU-Staaten, voran Deutschland, beschlossen Militär- und Finanzhilfen in einem seit dem Ende des Kalten Krieges nie dagewesenen Umfang zu leisten. Und zwar mit dem Ziel, wie EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen am 14. September 2022 in Straßburg verkündete, den autoritären Mächten Russland und China mit einem „Pakt für die Verteidigung der Demokratie“ Paroli zu bieten. Den russischen Angriff auf die Ukraine bezeichnete sie als „Krieg gegen unsere Werte und Krieg gegen unsere Zukunft“.

Mit der Formel „Autokratie gegen Demokratie“ skizzierte von der Leyen die Umrisse der neuen europäischen Ideologie: eine Kombination aus moralischem Neonationalismus und einem Souveränitätsanspruch, der sich paradoxerweise durch eine verstärkte Abhängigkeit von den USA auszeichnet.

Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hatte schon 2017 die geopolitische Mission Europas wie folgt definiert: „der Welt im Dienst des Friedens und der Solidarität einen einzigartigen Raum der Stabilität und Sicherheit bieten“. Ein Jahr später klang seine Formulierung noch stärker nach moralischem Messianismus: „Vergessen wir nicht, dass Europa uns schützt und uns erlaubt, unsere Werte in die Welt hinauszutragen.“1

Dieser kontinentweite Nationalismus hat auch eine wirtschaftliche Dimension. Im Gefolge der 2020 ausgebrochenen Coronakrise und danach der globalen Energiekrise nahm die von Macron postulierte „neue europäische Souveränität“2 konkretere Formen an. Seitdem ist der Souveränitätsanspruch der EU zum Eckstein ihrer internationalen Selbstpositionierung geworden. Das gilt für die Umweltpolitik genauso wie für die Rüstungsindustrie, für den gesetzlichen Schutz der Privatsphäre oder die Energieversorgung.

Das „alte“ Europa hat den Kolo­nia­lis­mus und Imperialismus hervorgebracht, es hat den Nationalsozialismus wie den Faschismus ausgebrütet, und hier haben sich im vorigen Jahrhundert zwei Weltkriege entzündet. Dieses Europa musste sich neu erfinden. Das Ergebnis war ein politisch-institutionelles Gebilde, das im globalen Vergleich einmalig ist.

Ähnlich wie die USA schreibt sich Europa heute eine Pionierrolle bei der Lösung der Weltprobleme zu, wenngleich man sich auf andere Bereiche konzentriert als Washington: die Klimapolitik, die Erhaltung der Lebensqualität, die Gleichberechtigung der Geschlechter, Minderheitenrechte und den gesellschaftlichen Ausgleich.

Für all diese Bereiche beansprucht die EU eine Vorbildrolle. Josep Borrell, der EU-Chefdiplomat und Vizepräsident der EU-Kommission, hat es klar ausgesprochen: „Wir haben einen Garten angelegt, in dem politische Freiheit, wirtschaftlicher Wohlstand und gesellschaftlicher Zusammenhalt gedeihen.“ Dagegen sei der Rest der Welt „großenteils ein Dschungel.“4

Obwohl dieses „Gesellschaftsmodell“ schon innerhalb der EU ausgefranst ist, wird es nach außen geopolitisch instrumentalisiert, um Europas „zivilisatorische Mission“ zu legitimieren. In internationalen Gremien wie der G20, den UN oder dem Europarat präsentiert sich die EU stolz als Vorbild in jeder Hinsicht: für die Menschenrechte, für den Sozialstaat, für den Kampf der Frauen- und der LGBT-Bewegung oder für den Klimawandel.

Diese Ideologie, die jetzt nach längerer Latenzzeit zum Vorschein kommt, ist zwar höchst wirkungsvoll, aber auch ambivalent und widersprüchlich. Zum Beispiel ist von dem Souveränitätsanspruch, den man gegenüber Russland und China demonstriert, im Verhältnis zu den USA nicht viel zu sehen. Der Alte Kontinent ist wirtschaftlich, militärisch, außenpolitisch, strategisch, energiepolitisch und auch ideologisch von Washington stärker abhängig als je zuvor.

Der moralische Neonationalismus, den Ursula von der Leyen beschwört, soll vergessen machen, dass die Beziehung zwischen Brüssel und Washington eher an Unterordnung als an Souveränität erinnert. Der EU-Korrespondent der New York Times befindet: „Nach Russlands Einmarsch in die Ukrai­ne sollte sich Europa eigentlich verpflichten, seine militärischen Kapazitäten zu stärken. Stattdessen ist der Alte Kontinent mehr denn je vom Kommando, den Nachrichtendiensten und der Macht der USA abhängig.“5

Im Übrigen verdeckt die gleißende Fassade der EU die Tatsache, dass in jedem Mitgliedstaat eine mächtige Oligarchie das Sagen hat, die von Indus­trie- und Finanzinteressen beeinflusst wird. Unübersehbar ist auch, dass im Alltagsleben noch immer patriarchalische und heteronormative Strukturen vorherrschen und das politische Leben von allgemeiner Wahlmüdigkeit, dem Erstarken der extremen Rechten und der Schwächung des Rechtsstaats geprägt ist.

Begleitmusik für den Fortschrittsdiskurs

Der Ukrainekrieg erlaubt es zwar, das fortschrittliche Profil – als Verteidiger der freien Welt gegen autoritäre Regime – ideologisch auszuschlachten. Aber zugleich lässt der Krieg die ethno-religiöse Seite dieses neuen Nationalismus deutlicher hervortreten.

Vor allem die Haltung Polens und der baltischen Staaten – Länder, die eine historisch gewachsene Animosität gegen Russland und eine strategische Nähe zu den USA pflegen – lässt sich ohne diese Dimension der europäischen Identität gar nicht verstehen. 2015 waren diese Länder entschieden gegen die Aufnahme syrischer Flüchtlinge in Deutschland; jetzt aber empfangen sie die Ukrainerinnen und Ukrai­ner mit offenen Armen.6

Was die Regierungen im „neuen Europa“ und insbesondere in Polen repräsentieren, entspricht in keiner Weise der Fortschrittsrhetorik der westlichen Demokraten – etwa in Sachen Rechtsstaat oder Gender- und Minderheitenfragen. Dieselben Regierungen fordern ein stärkeres militärisches Engagement für die Ukraine, die sie zum Bollwerk der Zivilisation stilisieren. Das zeugt nicht nur von aktuellen Invasions­ängsten, sondern auch von der Zählebigkeit historisch-kultureller Prägungen: Für Polen und die baltischen Staaten ist Putins Russland die Fortsetzung der untergegangenen Sowjet­union, die wiederum Erbin des Zarenreichs war.

Die wirtschaftliche, politische und ethnisch-religiöse Dimension des neuen europäischen Nationalismus gehören systemisch zusammen. Schon die europäischen Kolonialreiche und globalen Wirtschaftsimperien präsentierten sich zugleich als zivilisierende Macht, die auf den Fortschritt und das Seelenheil der Menschheit bedacht ist. Das militärisch massiv aufrüstende Europa von heute sieht sich als globale Wirtschaftsmacht – und zugleich als moralische Instanz, die sich dem ­Chaos der Welt entgegenstellt. Wenn auch ohne eine autonome Außenpolitik und ohne ein von den USA unabhängiges Militärpotenzial.

Begleitmusik für diesen Fortschrittsdiskurs ist eine permanente ideologische Abgrenzung. Sowohl Russland als auch der muslimischen Welt und China wird das Etikett „autoritär“ verpasst, womit alle drei als bedrohliche „Andere“ definiert sind. Dabei fügen sich mehrere Versatzstücke – das iranische Atomprogramm, kommunistische Verbrechen der Vergangenheit (Holodomor) und der Gegenwart (Unterdrückung der Uiguren) – zu einem gemeinschaftsstiftenden Narrativ, in dem das Duo Putin/Xi Jinping zur Reinkarnation des Duos Stalin/Mao wird.

Wie jeder Nationalismus erschafft sich das Narrativ von Europa als Machtinstanz seine eigene Welt aus hartnäckigen Feinden und Beistandspflichten. In diese Erzählung passt natürlich nicht, dass hinter den Kulissen viele Kompromisse ausgehandelt werden. Oder dass sich Abgeordnete des Europäischen Parlament durch katarische und marokkanische Gelder korrumpieren lassen.

Allerdings gilt es zu unterscheiden zwischen den Ländern, die sich klarer aufseiten Washingtons positionieren und außenpolitisch eine stabile Achse bilden – neben Großbritannien die baltischen Staaten, Polen, die Niederlande und Dänemark –, und jenen, die im Gefolge Frankreichs und Deutschlands bemüht sind, eine genuin europäische Logik und eine pragmatischere Posi­tion zu entwickeln. Die Kluft zwischen diesen beiden Gruppen – den „Atlantikern“ und den „Proeuropäern“ – ist seit Ausbruch des Kriegs nicht schmaler, sondern breiter geworden.

Tatsächlich gibt es innerhalb des aufkommenden europäischen Nationalismus auch starke innere Spannungen und Widersprüche. So hat etwa Ungarn aufgrund bestimmter nationaler Traditionen die Ablehnung der russischen Welt bislang nicht mitgemacht. Wobei allerdings gerade die Regierung Orbán gegen die viel beschworenen europäischen Werte verstößt.

Gedankenlose Variante der Russophobie

Das gilt zum Teil auch für die Ukraine. Zum Beispiel bedeutet es eine Schwächung des dominierenden Wertekanons, auf den man sich bei der Verteidigung der Menschenrechte und der Unterstützung eines völkerrechtswidrig angegriffenen Staats beruft, wenn auf ukrainischer Seite eine Minderheit rechtsextrem motivierter Kämpfer mitwirken, die den antisemitischen Kollaborateur Stepan Bandera verherrlichen, ohne dass dies von der Regierung in ­Kiew missbilligt wird.

Diese Regierung hat zwar zügig die ukrai­nische Wirtschaft liberalisiert7 , erfüllt aber in vielen Punkten längst noch nicht die Voraussetzungen für einen künftigen EU-Beitritt. Diese Defizite betreffen die Korruptionsbekämpfung, die Minderheitenrechte, aber auch den politischen Pluralismus (etwa das Verbot von Parteien, die sich auf das Erbe der Sowjetunion berufen).

Gerade die radikalsten Unterstützer der Ukraine im Westen pflegen eine oft gedankenlose Variante der Russophobie, die schwerlich mit dem kultivierten Diskurs der bürgerlichen politischen Klasse vereinbar ist, die sich so gern auf die Menschenrechte beruft.

Wenn sich eine neue nationale Ideologie herausbildet, regt sich stets auch Widerstand. Den gibt es auch gegen den neuen Euronationalismus und insbesondere gegen massiv erhöhte Rüstungsausgaben und die Folgen der Wirtschaftssanktionen gegen Russland – zumal die gleichzeitig verfolgte neoliberale Politik den Sozialstaat schwächt. Am stärksten ist der Widerstand in den sozial schwächeren Schichten, in den ehemaligen In­dus­trie­regionen mit hoher Arbeitslosigkeit und verbreitetem Prekariat, aber auch im ländlichen Raum.

Wobei der Widerstand zunächst die rechtsextremen oder rechtsradikalen Versionen des Nationalismus stärkt, die sich im Unterschied zum urban-kultivierten Pannationalismus auf die altmodisch ethnozentrische Weise artikulieren. Das dürfte zunächst die ethnisch-religiöse Komponente stärken, die bereits auf Regierungsebene (Ita­lien, Polen, Ungarn) oder in den Parlamenten (Schweden) dominant ist und die Umfragen zufolge weiter an Boden gewinnt.

Der Widerstreit zwischen einem progressiven Pol und einem ethnisch-religiösen wird sich also systemisch verfestigen, wie es in den USA oder in Polen bereits geschehen ist. Wer die Opfer dieser Polarisierung sind, kann man sich leicht ausrechnen: ethnische, nationale oder religiöse Minderheiten, insbesondere Muslime, aber auch asia­tische und russischsprachige Menschen. Und natürlich die potenziellen Zuwanderer aus dem Globalen Süden, gegen die sich die Festung Europa abschottet.

Der demokratische Widerstand gegen die Allianz aus Euronationalismus und Neoliberalismus ist – vor allem in Osteuropa – noch schwach. Er regt sich weniger auf politischer Ebene als im alltäglichen Leben der Bevölkerung und speist sich aus sozialen Konflikten, die durch die Inflation noch verschärft werden.

Dieser Widerstand wird kaum eine kohärente ideologische Form entwickeln. Und die große Frage ist, ob er in der in der Lage sein wird, sowohl die nationale Souveränität zu verteidigen und lokale Solidaritätsstrukturen gegen die Globalisierung zu entwickeln als auch eine Antwort auf die globale politisch-wirtschaftlich-ökologische Krise zu finden.

1 Zitate aus Reden Macrons vom 16. Januar 2017 und vom 17. April 2018.

2 Rede vor dem EU-Parlament, 17. April 2018.

3 Siehe Antonin Cohen, „Le régime politique de l’UE“, Paris (La Découverte) 2014.

4 Brügge, 13. Oktober 2022.

5 Steven Erlanger, „When It Comes to Building Its Own Defense, Europe Has Blinked“, New York Times, 4. Februar 2023.

6 Siehe Élisa Perriguer, „Warschauer Willkommenskultur“, LMd, Januar 2023.

7 Siehe Pierre Rimbert, „Kiews falsche Freunde“, LMd, Oktober 2022.

Aus dem Französischen von Andreas Bredenfeld

Frédéric Lebaron ist Professor für Soziologie an der École Normale Supérieur Paris-Saclay.

Le Monde diplomatique vom 09.03.2023, von Frédéric Lebaron