11.05.2023

Kinder kaufen

zurück

Kinder kaufen

Das Geschäft mit internationalen Adoptionen

von Kajsa Ekis Ekman

Zur Adoption freigegebene Kinder, aus dem chinesischen Katalog „One Child Nation“, 2019 picture alliance/everett collection 
Audio: Artikel vorlesen lassen

Anfangs waren die Vorstellungen über Auslandsadoptionen richtiggehend naiv. Ende der 1960er Jahre erlebten sie ihren ersten Aufschwung. Damals trug vor allem die mediale Aufmerksamkeit für die Kriege in Vietnam (1955–1975) und in Biafra (1967–1970) zur Bildung einer neuen humanitären Ethik bei.

Die Länder des Globalen Südens waren, so vermittelten die Bilder und Nachrichten, voll mit Waisenkindern. Eine Adoption bedeutete da nicht nur, dass ein Kind, das niemanden mehr hatte, eine Familie bekam; sie sollte auch ein leidendes Menschenwesen aus der Not retten, und, darauf lief es hinaus, etwas vom Reichtum des Westens an die Armen verteilen.

Weitere Faktoren, die die Zahl der Adoptionen damals in die Höhe schnellen ließ, waren die Revolution im internationalen Verkehrswesen, das Ende der Kolonialreiche und das Fehlen einer funktionierenden Sozial- und Gesundheitspolitik in zahlreichen Ländern des Südens.

Überall in Europa wurden Auslandsadoptionen populär, ganz besonders in Schweden, das im weltweiten Vergleich die höchste Zahl von Adoptionen pro Kopf der Bevölkerung aufweist.1 Seit den 1960er Jahren wurden hier 60 000 Kinder aus dem Ausland adoptiert, hauptsächlich aus Südkorea, Indien und Kolumbien.

Das 1972 von Adoptiveltern in Kooperation mit dem Staat gegründete schwedische Zentrum für Adoptionen entwickelte sich zu einer der größten derartigen Einrichtungen weltweit. Welche Bedeutung Adoptionen in Schweden haben, ist unter anderem daran abzulesen, dass es mehr als 300 Bücher zu dem Thema gibt, viele davon richten sich an Kinder.

Weltweit ist die Zahl der Adoptionen in den USA am höchsten, gefolgt von Frankreich. Auf dem Höhepunkt der Welle 2005 stellte das französische Außenministerium 4136 „Adoptions­visa“ aus, gegenüber 935 im Jahr 1980.

Eine Reihe von Skandalen beidseits des Atlantiks trübte allerdings das schöne Bild von Menschen mit guten Absichten und geglückten Rettungen. 1975 warnte die chilenische Zeitschrift Vea vor einer „mysteriösen Orga­ni­sa­tion, die Kinder alleinstehender Mütter adoptiert und sie dann nach Europa schickt“. Die chilenischen Behörden seien beunruhigt, weil so viele Babys aus dem Land gebracht würden. Dem Artikel zufolge war eine gewisse Anna Maria Elmgren die treibende Kraft hinter diesen Adoptionen.2 Die gebürtige

Schwedin Elmgren war in Chile mit einem carabinero von der uniformierten Polizei verheiratet und lebte seit Ende der 1960er Jahre in Santiago. Sie hatte ihrer Schwester geholfen, in Chile ein Kind zu adoptieren und sich daher mit den dortigen Adoptionsverfahren vertraut gemacht.3 Zwischen 1973, dem Beginn der Pinochet-Diktatur, bis zu deren Ende 1990 organisierte sie als lokale Vertreterin der schwedischen Vermittlungs­orga­nisa­tion Adoptionscentrum rund 2000 Adoptionen chilenischer Kinder.

2003 deckte die chilenische Wissenschaftlerin und Journalistin Ana Maria Olivares bei den Recherchen zu ihrer Doktorarbeit auf, dass Elmgren sich auf ein weitgespanntes Netzwerk aus So­zial­ar­bei­te­r:in­nen, Leh­re­r:in­nen und Rich­te­r:in­nen stützte, die sie auf infrage kommende Kinder hinwiesen und die Adoptionsverfahren erleichterten. Esmeralda Quezada, eine Sozialarbeiterin aus der Stadt Concepción, die später zur Vorsitzenden eines Jugendgerichts aufstieg, informierte Elmgren, wenn Kinder zu haben waren.

Arme Mütter, die finanzielle Hilfe oder einen Krippenplatz suchten, oder auch minderjährige Mütter wurden unter Druck gesetzt, ihre Kinder wegzugeben.

Manchmal gerieten auch Kinder ins Visier, die sich gerade allein auf der Straße herumtrieben, wie im Fall von zwei Brüdern, die von den carabineros als Landstreicher festgenommen wurden: Ihr Vater hatte sie während seiner Arbeitszeit einer Tagesmutter anvertraut. Niemand hat ihn nach der Festnahme seiner Kinder kontaktiert, so dass sie ohne sein Wissen zur Adoption freigegeben wurden. In den Akten stand, die Kinder seien unehelich geboren, weshalb die Zustimmung des Vaters nicht erforderlich sei.

Im Jahr 2018 setzte die Abgeordnetenkammer des chilenischen Parlaments eine Untersuchungskommission zu den Vorgängen rund um Auslands­adop­tionen ein. In ihrem Bericht schrieb sie, es sei „eine gesicherte Tatsache“, dass während der Diktatur von General Pinochet „in Chile hunderte Kinder ihren Eltern weggenommen und zur Adoption ins Ausland freigegeben wurden“.4

Das übliche Vorgehen sah so aus, dass man den Müttern mitteilte, ihre Kinder seien gestorben und die Leichname seien der Wissenschaft zur Verfügung gestellt worden. Auf diese Weise verhinderte man, dass die Betroffenen vor Gericht zogen. Während der Diktatur wurden insgesamt fast 22 000 Kinder von Eltern aus 25 Ländern adoptiert, darunter die USA, Frankreich und Italien.

Lars5 ist 45 Jahre alt und der Adoptivsohn eines leitenden Angestellten einer großen skandinavischen Bank. Er ist in einer wohlhabenden Gegend in Schweden aufgewachsen. Seine gesamte Kindheit hindurch hat man ihm erzählt, seine leibliche Mutter, eine Chilenin, habe ihn und seinen Zwillingsbruder zur Adoption freigegeben, weil sie zu arm gewesen sei, um ihn und seinen Bruder, die damals krank gewesen waren, zu versorgen. Mit der Unterstützung einer Aktivistengruppe, die für die Rechte adoptierter Kinder kämpft, machten die Brüder auf Facebook ihre Schwester ausfindig, die den Kontakt zur Mutter herstellte.

Ihre erste Begegnung fand per Video statt: Weil die Mutter nur Spanisch sprach und ihre Söhne Schwedisch, war eine Übersetzerin dabei. Die Mutter erzählte, sie habe ihre zwei Monate alten Babys wegen Ekzemen im Gesicht ins Krankenhaus bringen müssen. Dort habe man ihr die beiden weggenommen, für eine Untersuchung, wie sie glaubte; dann habe sie aber die Kinder nicht mehr zurückbekommen. Irgendwann hätten ihr Mitarbeitende des Krankenhauses mitgeteilt, die Zwillinge seien verstorben. Sie habe darum geben, die Leichen sehen zu können, doch vergebens. Der Vater habe sich schließlich mit dem Tod seiner Söhne abgefunden, aber sie habe nie aufgehört, nach ihnen zu suchen. Nie habe sie irgendeine Art von Adoptionspapieren unterschrieben. „Ihr seid entführt worden“, sagte sie den beiden.

In Frankreich fügte die Affäre um die Hilfsorganisation Arche de Zoé der Adoptionsbranche irreparablen Schaden zu: Am 25. Oktober 2007 wurden sechs Mitglieder der Organisation im Tschad festgenommen, als sie versuchten, 103 Kinder aus dem Land zu bringen. Die völlig unversehrten Kinder trugen Verbände und hingen am Tropf. Den Familien, die in Frankreich auf die Kinder warteten, hatte man erzählt, es handle sich um Waisenkinder aus dem Sudan, die man vor der Hungersnot in der Region Darfur gerettet und dem Tod entrissen habe.

Bei Ermittlungen der tschadischen Polizei kam heraus, dass die Kinder keineswegs aus Darfur stammten, sondern in Wahrheit Staatsangehörige des Tschad waren und dass die Eltern der meisten noch lebten. Rechtlich gesehen waren die Adoptionen deshalb gar nicht möglich. Die Affäre spitzte sich zu und führte zu einer außenpolitischen Krise zwischen Paris und N’Dja­me­na, als der damalige Präsident des Tschad, Idriss Déby, der ehemaligen Kolonialmacht vorwarf, über skrupellose Mittler Menschenhandel zu betreiben.

Die französischen Verantwortlichen der Hilfsorganisation wurden im Tschad verurteilt und anschließend zur Verbüßung ihrer Strafen nach Frankreich überstellt. In Paris mussten sie sich wegen „Beihilfe zum illegalen Aufenthalt ausländischer Minderjähriger in Frankreich“, „illegaler Ausübung einer Vermittlungstätigkeit in Adop­tions­angelegenheiten“ und Betrugs vor einem Strafgericht in Paris verantworten. Am 12. Februar 2013 verurteilte das Gericht den Präsidenten der Organisation Arche de Zoé, Eric Breteau, und dessen Lebensgefährtin Émilie Lelouch zu drei Jahren Gefängnis, davon ein Jahr auf Bewährung.

Regelmäßig lösen Naturkatastrophen, Kriege oder politische Umbrüche einen Ansturm auf ausländische „Waisenkinder“ aus, vor allem wenn in den westlichen Medien über solche Ereignisse breit berichtet wird.

Nach dem Sturz des rumänischen Diktators Nicolae Ceauşescu 1989 berichteten europäische Fernsehkanäle zur Hauptsendezeit mit schockierenden Bildern über unterernährte Heimkinder, die an schmuddelige Betten gefesselt ins Leere starrten. Das Mitgefühl eröffnete einen neuen Markt: Tausende Kinder wurden in den 1990er Jahren aus Rumänien weggebracht, bis das Land 2001 die Agenturen für Auslandsadoptionen verbot.

Chinas 1979 beschlossene Ein-Kind-Politik nährte im Westen Fantasien von einer großen Zahl kleiner Mädchen, die von ihren Familien im Stich gelassen würden. Die Integration Chinas in die Weltwirtschaft erzeugte im Anschluss eine starke Sogwirkung:

Der Trend geht zur Leihmutterschaft

Ab Anfang der 2000er Jahre machten die chinesischen Waisenhäuser beim System der Auslandsadoptionen mit und stiegen sogar zu den Hauptlieferanten auf. Obwohl Peking 2005 den für die Regelung von Auslandsadop­tio­nen maßgeblichen Text, das Haager Übereinkommen über den Schutz von Kindern und die Zusammenarbeit auf dem Gebiet der internationalen Adop­tion, aus dem Jahr 1993 ratifiziert hatte, florierte weiterhin der Handel mit Kindern.6

Im Jahr 2005 wurden in der Provinz Hunan 10 Personen wegen Menschenhandels verurteilt. Sie hatten Kinder für 370 Euro pro Kopf an Waisenhäuser verkauft, die diese anschließend für 1000 bis 5000 Euro westlichen Adop­tions­agenturen anboten. Keine Organisation in Europa oder in den USA wurde jedoch dafür sanktioniert, dass sie diese Kinder gekauft hatte.

Nach dem katastrophalen Erdbeben in Haiti 2010 mit mehr als 300 000 Toten und fast 2 Millionen Obdachlosen kamen private Adoptionsagenturen scharenweise auf die Insel. Eine baptistische Organisation aus den USA wurde an der Grenze zur Dominikanischen Republik erwischt, als sie 33 Kinder ohne Erlaubnis und ohne offizielle Dokumente aus dem Land zu schaffen versuchte.7

Diese Skandale stürzten das System der internationalen Adoptionen in eine tiefe moralische Krise. Die Versuche, die Gemüter durch strengere Regula­rien zu beruhigen, scheiterten weitgehend, das Misstrauen gegenüber Auslandsadoptionen ist geblieben.

Um das System wieder auf eine moralische Grundlage zu stellen, verfügte beispielsweise Vietnam, dass Personen aus dem Ausland nur noch vietnamesische Kinder mit „besonderen Bedürfnissen“ adoptieren dürfen, das heißt Kinder mit Erkrankungen oder Behinderungen.

Auf dem Papier entspricht diese Bestimmung dem Haager Übereinkommen, weil dafür gesorgt ist, dass die Kinder in erster Linie in ihrem Herkunftsland bleiben, aber Auslandsadoptionen aus humanitären Gründen möglich sind. In der Praxis jedoch, kritisiert der Soziologe Sébastien Roux von der französischen Forschungseinrichtung CNRS, „wird das ethische Anliegen, das den Kern des Haager Adoptionsübereinkommens bildet, missbraucht für eine nationalistische Politik, die Kinder nach ihrem Gesundheitszustand verteilt und de facto die Unerwünschten über die symbolischen und politischen Grenzen der nationalen Gemeinschaft hinweg abschiebt“.8

Der Bereich der Auslandsadoptio­nen wird auf der einen Seite moralischer, versagt jedoch auf der anderen Seite Menschen, die gern Eltern werden möchten, ihren Wunsch.

Und so rückt, während endlich Licht in die dunklen Seiten des Adop­tions­geschäfts kommt, ein neues Angebot in den Fokus: die Leihmutterschaft. Damit bekommen Paare aus westlichen Ländern etwas, das eine Auslandsadoption ihnen nicht bieten kann: ein neugeborenes, meist weißes Baby, das ihre eigenen Gene besitzt oder Gene ihrer Wahl.

In der Regel wird eine weiße Eizellspenderin nach ihrem physischen Erscheinungsbild ausgewählt. Nach der Befruchtung werden die Embryonen einer meist indischen oder ukrainischen Leihmutter eingesetzt, weil diese billig ist – und weil es in diesen Ländern Gesetze gibt, die den zukünftigen Eltern alle Rechte garantieren. Eltern, die eine Leihmutterschaft in Anspruch nehmen wollen, haben sicher nicht das Gefühl, sie würden ein Kind retten, aber sie riskieren auch nicht, dass man sie beschuldigt, sie hätten ein fremdes Kind gestohlen.

Dennoch scheint die Geschichte sich zu wiederholen. Auch im Zusammenhang mit der Leihmutterschaft gibt es Vorwürfe von Müttern, die sagen, sie hätten die Verträge nicht richtig verstanden, weil sie in Englisch und nicht in ihrer Muttersprache abgefasst waren, es gibt Beschuldigungen wegen Betrügereien und anderes mehr. Im Übrigen haben mittlerweile die ersten Kinder, die von Leihmüttern geboren wurden, das Verfahren vehement kritisiert.9

Die Leihmutterschaft ist längst zu einem globalen Markt geworden, was eine Reihe von Problemen mit sich bringt – vor allem wenn die Beteiligten aus unterschiedlichen Ländern stammen. Seit 2011 treffen sich deshalb auf der Haager Konferenz für Internationales Privatrecht, der aktuell 90 Staaten und die Europäische Union angehören, Ju­ris­t:in­nen und andere mit dem Thema befasste Berufsträger alljährlich zu Beratungen. Das Ziel ist es, interna­tio­nale Regeln für transna­tio­nale Leihmutterschaft auszuarbeiten und „die wechselseitige Anerkennung von Abstammungsverhältnissen zu erleichtern, die aus Verträgen mit Leihmüttern entstanden sind“.

Es ist die Frage, ob es der Konferenz gelingen wird, ein Geschäftsmodell zu legitimieren, das bereits stark in der Kritik steht. Vergangene und künftige Skandale oder auch der Druck durch feministische Organisationen könnten sich als stärker erweisen als der boomende neue Markt – wie es auch beim Geschäft mit den Auslandsadoptionen der Fall war.

1 „Adoptions in Sweden“, Adoptionscentrum Schweden.

2 Wolrad Klapp, „Escandaloso tráfico de guaguas chilenas“, Vea, Santiago de Chile, Nr. 1883, 14. August 1975.

3 Klage von Anna Maria Elmgren gegen den chilenischen Fernsehsender Chilevisión vor dem Appellationsgericht in Santiago am 8. Mai 2018.

4 Bericht der parlamentarischen Untersuchungskommission des chilenischen Parlaments, 2018.

5 Vorname zum Schutz des Betroffenen geändert.

6 Pang Jiaoming, „The Orphans of Shao. A True Account oft he Blood and Tears oft he One-Child Policy in China“, New York (Women’s Rights in China Organization Publishers) 2014.

7 Kathryn Joyce, „The Child Catchers: Rescue, Trafficking, and the New Gospel of Adoption“, Public­Affairs, New York 2013.

8 Sébastien Roux, „Sang d’encre. Enquête sur la fin de l’adoption internationale“, Paris (Vendémiaire) 2022.

9 Jessica Kern, „What happens when you learn that you were born through commercial surrogacy?“, Erfahrungsbericht einer Betroffenen auf der Aktivisten-Website Legalize surrogacy: Why not?

Aus dem Französischen von Ursel Schäfer

Kajsa Ekis Ekman ist eine schwedische Journalistin und Autorin, unter anderem von „Ware Mensch. Prostitution, Leihmutterschaft und der gespaltene Mensch“, Berlin (Orlanda) 2016.

Le Monde diplomatique vom 11.05.2023, von Kajsa Ekis Ekman