08.12.2022

Melonis Doppelsprech

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Melonis Doppelsprech

Was will Italiens neue Regierungschefin?

von Hugues Le Paige

Landesweite Studentendemos, Mailand, 18. November 2022 PIERO CRUCIATTI/picture alliance/AA
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Der Psychoanalytiker Massimo Recalcati schätzt das Paradox: „Melonis Wahl heißt nicht, dass sich die Italiener die Rückkehr des Faschismus wünschen, sondern vielmehr, dass sie das für unmöglich halten.“1 Aber es steckt auch ein Stück Wahrheit in diesem Satz. Der Erfolg der Fratelli d’Italia bei den Parlamentswahlen am 25. September 2022 wurde zu Recht von vielen Seiten verurteilt, die Sorge vor dem Beginn des „Postfaschismus“ in Italien war groß.

Dabei hat die rechtsextreme Alleanza Nazionale von Gianfranco Fini, die Vorgängerpartei von Fratelli d’Italia, bereits zwischen 1994 und 1995 und zwischen 2001 und 2006 unter Ministerpräsident Silvio Berlusconi mitregiert. Zur Koalition gehörte damals auch noch die als Regionalpartei auftretende Lega Nord. In dieser Koa­li­tion war die gemäßigte Rechte aber noch die stärkste Kraft. Inzwischen hat sich das Verhältnis umgekehrt. Dazu haben 20 Jahre Berlusconismus2 beigetragen, in denen der Individualismus verherrlicht und das Kollektiv ver­unglimpft wurde – im Namen eines Anti­kommunismus ohne Kommunisten.

Die extreme Rechte zu wählen, ist offensichtlich kein Tabu mehr. Das reicht aber nicht aus, um den Erfolg von Giorgia Meloni zu erklären. Die Fratelli d’Italia verdanken ihren Sieg vor allem dem hohen Nichtwähleranteil (36 Prozent), ihrer Rolle als einzige Oppositionspartei gegen Mario Dra­ghis Regierungskoalition, in der sogar die winzige Sinistra Italiana im Bündnis mit den Verdi per l’Europa vertreten war, und einer starken Wählerwanderung.

Wer vorher Salvinis Lega oder Berlusconis Forza Italia gewählt hatte, machte diesmal sein Kreuz bei den Fratelli d’Italia. Der Anteil der Lega sank von 37 Prozent der Stimmen 2018 auf 8,7 Prozent. Sie hat ihre Beteiligung an Draghis Regierung der nationalen Einheit teuer bezahlt. Insgesamt haben Rechte und Rechtsextreme seit den letzten Wahlen nur wenig Stimmen hinzugewonnen. Meloni hat das Kräfteverhältnis innerhalb des Lagers nur umgekehrt. Sie holte 7,3 Millionen Stimmen (26 Prozent) – 2018 waren es noch 4,3 Prozent gewesen (die Sperrklausel liegt bei 4 Prozent).

Die Rechten haben kein Problem mehr damit, die Fratelli d’Italia zu wählen, als handelte es sich um eine ganz normale Partei. Das muss aber nicht heißen, dass sie auch für den Postfaschismus stimmen. Dessen war sich offenbar auch die Parteivorsitzende bewusst. Im Wahlkampf bediente sich Meloni des doppio petto (wörtlich: Zweireiher; Doppelsprech, mit gespaltener Zunge reden). Gegenüber der tradi­tio­nel­len Anhängerschaft bekannte sie sich zu ihren ideologischen Wurzeln; Konservative beruhigte sie mit der Versicherung, sie stünde zu den Werten der Demokratie, zur Unterstützung der Ukrai­ne und zur Nato.

Melonis erste Schritte als Ministerpräsidentin – ihre Antrittsrede, die Zusammensetzung ihrer Regierung oder ihr Auftritt in Brüssel – bestätigen diese Strategie der Zweigleisigkeit. Alles deutet darauf hin, dass sie wirtschaftsliberal und natotreu agieren wird. Sie scheint geradezu in die Fußstapfen ihres Vorgängers Draghi zu treten, mit dem sie während des Wahlkampfs und nach ihrem Sieg in engem Kontakt stand, um die EU-Kommission zu beruhigen und Italiens Anteil am Wiederaufbaufonds über 200 Milliarden Euro zu sichern.

Sie hat Giancarlo Giorgetti zum Wirtschafts- und Finanzminister ernannt. Er ist Lega-Mitglied, aber überzeugter Europäer und war schon unter Draghi Minister für wirtschaftliche Entwicklung. Auch die Wahl von Antonio Tajani als Außenminister ist ein Signal an Brüssel. Tajani, früher die rechte Hand Berlusconis, von dem er sich später losgelöst hat, steht ebenfalls klar zu EU und Nato.

Bei ihren ersten Gesprächen mit EU-Vertretern am 3. November versicherte Meloni ihre bedingungslose Unterstützung für die Ukraine und bekundete ihren Willen, sowohl die EU-Verträge zu respektieren als auch das Haushaltsdefizit in den Griff zu bekommen. Sie verzichtete auf nationalistische Töne. Diese Bekenntnisse zu Brüssel sind für einen beträchtlichen Teil von Melonis Anhängern sicher problematisch.

Bei den Rechten für Frauen, Zuwanderer und die LGBTIQ-Community, aber auch in den Bereichen Justiz, Bildung und Sicherheit sieht es ganz anders aus. Bei diesen Themen ist Georgia Meloni fest entschlossen, ihre Losung „Gott, Familie, Vaterland“ durchzusetzen.

Wichtige Posten hat sie an rechtsextreme Leitfiguren vergeben. Galeazzo Bignami, der sich früher in Schwarzhemd und mit Hakenkreuz-Armbinde fotografieren ließ, ist der neue Staatssekretär für Infrastruktur. Einige Ministerien wurden umbenannt. Das Ministerium für Bildung wurde um den Begriff „Verdienste“, das Ministerium für Familie und Gleichheit um „Natalität“ ergänzt. Geleitet wird es von der 69-jährigen Eugenia Maria Roccella, die früher für das Recht auf Abtreibung gekämpft hat, dann das Lager wechselte und am 25. August im Fernsehsender LA7 erklärte: „Es gibt kein Recht auf Abtreibung.“

Rechtsextrem und neoliberal

Meloni hat dem Lega-Chef Matteo Salivini zwar das Innenministe­rium verweigert, aber nur, um es Matteo Pian­te­do­si anzuvertrauen, Salvinis früherem Kabinettschef, der ein ebenso scharfer Einwanderungsgegner ist. Kaum ernannt, hat der neue Minister mehreren zivilen Rettungsschiffen mit Geflüchteten, die er als „Restfracht“ bezeichnete, die Einfahrt in einen italienischen Hafen verwehrt.

Die Angelegenheit offenbarte den Zynismus der europäischen Migrationspolitik und führte zu einer Krise mit Frankreich, wo man sich am 10. November gezwungen sah, die 234 Geretteten des SOS-Méditerranée-Schiffs Ocean Viking aufzunehmen. Danach beschloss Paris, die Grenzkontrollen zu verstärken und die vereinbarte Aufnahme von 3500 derzeit in Italien lebenden Geflüchteten auszusetzen.

Nichts illustriert die autoritären Anflüge der Meloni-Regierung besser als ihre erste Gesetzesinitiative. Unter dem Vorwand, eine unangemeldete Rave-­Party beenden zu müssen, präsentierte sie ein Dekret, das einen neuen Straftatbestand einführte, für den bis zu sechs Jahre Gefängnis verhängt werden können und der Telefonüberwachung oder Untersuchungshaft ermöglicht: „das Eindringen in den Raum von öffentlichen oder privaten Grundstücken oder Gebäuden anderer Personen, die die öffentliche Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit gefährden können“. Diese Definition lässt sich auf jede Fa­brik-, Schul- oder Universitätsbesetzung anwenden. Als die Proteste immer lauter wurden, musste Meloni zurückrudern, wobei sie das Gesetz grundsätzlich rechtfertigte. Es dürfte also bald wieder auf der Tagesordnung landen.

Das Amalgam von Neoliberalismus und Rechtsextremismus ist etwas völlig Neues. Dabei lässt sich Melonis Erfolg durchaus mit dem der Fünf-Sterne-Bewegung (Movimento Cinque Stelle, M5S) und der Lega 2018 vergleichen: Als Ergebnis einer Protestwahl drückte er die Ablehnung der traditionellen Parteien aus, die sich weit vom Volk entfernt hatten und außerstande waren, der politischen Repräsentation neuen Sinn zu verleihen.

Der Erfolg der Fratelli d’Italia muss deshalb auch im Spiegel der Niederlage des Partito Democratico (PD) gesehen werden, der sich nicht als Alternative zu Meloni durchsetzen konnte. Rein rechnerisch hielt sich der Absturz des PD im Vergleich zur Wahl 2018 in Grenzen: von 22,8 Prozent auf 19,1 Prozent. Vom Symbolwert und von der politischen Aussage her war es jedoch eine krachende Niederlage. In Süditalien hat die Partei keinen der durch Mehrheitswahl vergebenen Sitze erhalten.3

Und in der Toskana, in Umbrien und in der Emilia Romagna, einst unerschütterliche Bastionen des PCI (Kommunistische Partei Italiens), überholten die Fratelli den PD, der sich nur in den Großstädten durchsetzen konnte. Im Norden, in Sesto Giovanni, einem Vorort von Mailand, den man früher „italienisches Stalingrad“ nannte und wo die Kommunisten als absolute Herrscher regierten, siegte die Fratelli-Kandidatin Isabella Rauti. Sie war früher in der Jugendbewegung des neofaschistischen Movimento Sociale Italiano aktiv, der 1995 aufgelöst wurde.

Der PD-Spitzenkandidat Enrico Letta bezahlte teuer für seine Weigerung, mit dem M5S zusammenzugehen, dem er vorwarf, am Sturz der Draghi-Regierung beteiligt gewesen zu sein. Indem er sich der einzigen Koalition verschloss, die imstande gewesen wäre, den Rechtsextremen Paroli zu bieten, verschaffte Letta den Cinque Stelle einen Platz links des PD. Das M5S-Sozialprogramm mit Bürgereinkommen, Mindestlohn und Lohngleichheit bescherte der Partei im Endspurt sogar einen kleinen, aber unverhofften Aufschwung. Mit 15,4 Prozent gewannen die Cinque Stelle dennoch 18 Prozentpunkte weniger als 2018. Doch die Krise der Mitte-links-Parteien ist älter und tiefer.

Der PD, der mit Ausnahme der zwei Jahre Conte/Salvini in den letzten elf Jahren immer mitregiert hat, ist ein Garant für die Institutionen geworden. Die Partei unterstützte die Koalitionen der nationalen Einheit und die sogenannten Expertenregierungen und betrieb eine drastische Sparpolitik, angefangen bei der Regierung von Mario Monti 2011, der die öffentlichen Ausgaben um 20 Milliarden Euro verringern wollte.

Von Romano Prodi, der die Sparpolitik 1996 durchgesetzt hat, damit Italien die Maastricht-Kriterien erfüllt, über Matteo Renzi und seinen „Jobs Act“, der die Einstellungs- und Entlassungsbedingungen dereguliert hat,4 bis zu der von Draghi geführten Koalition hat sich der PD wie die meisten so­zial­de­mo­kratischen Parteien in Europa dem Sozialliberalismus verschrieben.

Der PD interessierte sich mehr für die Probleme der städtischen Mittelschicht als für Umverteilung, Arbeitsplätze und Solidarität. Er hat zunehmend den Kontakt zur Masse der prekär Beschäftigten und Arbeitslosen verloren, während die Ungleichheit in Italien weiter wuchs. Nach Angaben des Nationalen Statistikamts Istat gab es 2021 2,9 Millionen als relativ arm geltende Haushalte mit einem Einkommen unter 50 Prozent des regionalen Durchschnittseinkommens. Hinzu kommen 1,9 Millionen absolut arme Haushalte – ohne oder mit schwierigem Zugang zu Trinkwasser, gesunder Ernährung, angemessener Wohnung, Strom oder Bildung.

Nach den Wahlen zeigten sich viele Aktivist:innen, Intellektuelle und leitende Funktionäre des PD selbstkritisch und stellten die rein institutionelle Funktion ihrer Partei infrage. Der PD „hat sich in einen schlafenden Portier verwandelt, der den Palazzo von seinem Wachhäuschen aus kontrolliert und schützt“, kritisierte der Schriftsteller Stefano Massini in La Repubblica am 28. September. Er spielte damit auf Pier Paolo Pasolini an, der mit der Metapher des Palazzo die Orte der Macht von denen des Volkes unterschied.

Letta selbst erklärte am Tag nach den Wahlen: „Wir können nicht mehr die Bürgerwehr der italienischen Politik sein.“ Diese späten Einsichten machen deutlich, wie lang der Weg sein wird und welche einschneidenden Veränderungen nötig sind. Der für Januar 2023 geplante Parteitag, der zu einem Erbfolgekrieg zu werden droht, wird dafür nicht ausreichen.

Der PD bleibt in der Frage der Bündnispartner – M5S oder die liberalen und Mitte-Parteien von Matteo Renzi und Carlo Calenda – ebenso gespalten wie bei der Haltung, die er gegenüber der pazifistischen Bewegung einnehmen soll, die am 5. November in Rom 100 000 Personen auf die Straße brachte.

Links vom PD zeichnet sich derweil keine Alternative ab. Bei den letzten Wahlen mussten sich Sinistra Italiana im Bündnis mit den Verdi per l’Europa und der von Jean-Luc Mélenchon und Je­re­my Cor­byn unterstützten Liste Unio­ne Popolare, die mehrere Splitterparteien vereint, mit symbolischen Kandidaturen begnügen (3,6 respektive 1,2 Prozent). Dennoch gibt es jenseits der parteipolitischen Tummelplätze andere Kollektive, Vereine und soziale Zentren, die sich für soziale und Umweltthemen engagieren, die im Wahlkampf überhaupt keine Rolle spielten.

Die italienische Linke hat sich nie von der Selbstauflösung des PCI 1991 er­holt.5 Ihre aufeinanderfolgenden Avatare erwiesen sich als unfähig, eine neue kämpferische Bewegung wiederzubeleben. Im PD, 2007 in der Hoffnung auf die Fusion der früheren Kommunisten und der früheren Christdemokraten gegründet, gewannen Letztere sehr schnell die Oberhand, während die Kommunisten ihr Erbe schon lange aufgegeben hatten.

„Die Schwierigkeiten des PD begannen mit seiner Gründung wenige Monate vor der Subprime-Krise, die die liberale Weltordnung ins Wanken brachte“, analysiert der Politikhistoriker Carlo Galli am 30. Oktober 2022 in il manifesto. „Auf diese Krise hat die EU mit ihrer Sparpolitik reagiert, unterstützt vom PD, einer Partei, die mit blindem Vertrauen in die Globalisierung im neoliberalen Nebel herumstochert. Als das Vertrauen zerbrach, ist die Partei stumm geblieben und konnte sich nicht in die Bewegung zur ­Repolitisierung der Gesellschaft einbringen.“

Mit dem Sieg von Giorgia Meloni endet ein wichtiges Kapitel der italienischen Geschichte, in dem der Antifaschismus die Gesellschaft zusammengeschweißt hat. Das wirft ein grelles Licht auf den Zustand der italienischen Linken, die verzweifelt nach einer neuen Identität sucht.

1 La Repubblica, Rom, 29. September 2022.

2 Siehe die lesenswerte Analyse des Berlusconismus von Peter Kammerer, „Der ewige Berlusconi“, LMd, Januar 2011.

3 Das italienische Wahlrecht vergibt ein Drittel der Sitze in der Nationalversammlung durch Mehrheitswahl und zwei Drittel durch Verhältniswahl.

4 Siehe Andrea Fumagalli, „Prekäre Reformen“, LMd, Juli 2017

5 Siehe Antoine Schwartz, „Das seltsame Verschwinden des PCI“, LMd, Januar 2022.

Aus dem Französischen von Claudia Steinitz

Hugues Le Paige ist Journalist.

Le Monde diplomatique vom 08.12.2022, von Hugues Le Paige