08.12.2022

Risse im Regime

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Risse im Regime

In Iran setzt die Führung auf harte Repression. Bei einem Teil der Geistlichkeit stößt das auf Widerstand

von Stéphane A. Dudoignon

Chamenei trifft Mitglieder der Basidsch-Miliz, Teheran, 26. November 2022 picture alliance/ZUMAPRESS
Risse im Regime
Kasten: Offensive gegen Kurden

In seinem Essay „Über die Tyrannei“1 erklärte Joseph Brodsky, warum ein alter Despot besser sei als ein junger. Die Zeit, die dieser „mit der Betrachtung, sagen wir: seines Metabolismus verbringt, ist von den Staatsangelegenheiten gestohlene Zeit“, schrieb der Petersburger Dichter und Essayist im Jahr 1980. Gilt das womöglich auch für Ali Chamenei, der mit bald 85 Jahren seit 1989 als Oberster Führer der Islamischen Republik Iran fungiert?

Es sah fast so aus, denn als nach dem Tod von Jina Mahsa Amini am 16. September 2022 im Gefängnis der Sittenpolizei (Gascht-e Erschad) überall in Iran Proteste aufflammten, wirkte Chamenei zunächst wie erstarrt.2 In den ersten Wochen war er angesichts der Ereignisse offenbar völlig überfordert. Dann, am 26. Oktober, begann die Polizei mit scharfer Munition auf die De­mons­tran­t:in­nen zu schießen.

Auch an den heiligen Stätten des Landes kam es zu Gewaltausbrüchen. Das Attentat gegen die schiitische Pilgerstätte Schah-Tscheragh in Schiraz wurde offiziell dem Islamischen Staat (IS) zugeschrieben. Ein Teil der Protestierenden sah darin aber auch den Versuch, ihre Bewegung zu diskreditieren und Angst zu schüren. Andere religiöse Führer schrieben Chamenei nicht zu Unrecht eine direkte Verantwortung für die Repressionen zu. Einige warfen ihm vor, das Vorbild des Propheten Mohammed zu verraten, indem er in großem Umfang tödliche Gewalt gegen eine muslimische Bevölkerung befehle.3 Andere verlangten sogar, den Obersten Führer vor Gericht zu stellen.

Das hatte es in der Geschichte der Islamischen Republik noch nie gegeben. Zu den schärfsten Kritikern gehörte Abdolhamid Ismaeelzahi, ein sunnitischer Imam aus Zahedan, in der südlichen Region Sistan und Belutschistan. Mit Entsetzen äußerte er sich zum „Schwarzen Freitag“, dem 30. September, an dem in Zahedan 91 friedliche De­mons­tran­t:in­nen (nach offiziellen Quellen 35) getötet worden waren.4

Die Risse innerhalb des Klerus sind nicht neu. In Iran verfügen die Institutionen der schiitischen Mehrheit und der sunnitischen Minderheit, die sich oft auf mächtige religiöse Stiftungen stützen, über eine Vielzahl von Ressourcen, die einen relativen Pluralismus ermöglichen. Neu ist hingegen die Furcht bei einem Teil des Klerus, dass die überall im Land stattfindenden Proteste außer Kontrolle geraten könnten.

Die religiöse Elite reagierte also mit einer gewissen, für sie nicht ungewöhnlichen Uneinigkeit. Aber wie ist die Reaktion von Seiten der Armee und den Ordnungskräften zu bewerten, vor allem der Revolutionsgarden, die für die soziale und politische Kontrolle der Bevölkerung zuständig sind, und ihren Hilfsmilizen, den Basidsch?

Überraschend war hier die Mischung aus extremer Gewalt, wie in Zahedan, und Gewährenlassen. Viele Beobachter stellten fest, dass die Unterdrückung einerseits militarisiert wurde (vielerorts wurde mit Kriegswaffen auf Demonstrierende geschossen), andererseits zahlreiche Protestzüge und Besetzungen trotz ihrer Unterwanderung durch Zivilagenten nicht gestoppt wurden. Bei den Gedenkfeierlichkeiten am 40. Tag nach dem Tod von Mahsa Amini zum Beispiel wichen die Ordnungshüter vor der unbewaffneten Menge zurück.5

Für diesen scheinbaren Widerspruch gibt es mehrere Erklärungen. Zunächst sind die großen lokalen Unterschiede zu nennen, wie die Revo­lu­tionsgarden operieren und neue Mitglieder rekrutieren. In Friedenszeiten dienen die Rekruten oft in Einheiten, die an ihrem Herkunftsort stationiert sind. Eine Ausnahme bilden die Verbände an den Landesgrenzen und in der Hauptstadt, wo auch Gardisten aus anderen Landesteilen Dienst tun.

Der Vorteil der regionalen Verankerung ist der Korpsgeist, der besonders in Krisenzeiten hilfreich ist, wie im Krieg gegen den Irak 1980–1988 oder im syrischen Bürgerkrieg, in den Iran seit 2012 eingreift. Seit dem Erdrutschsieg der Hardliner bei den Kommunalwahlen 2003 gewannen die Revolutionsgarden aufgrund dieser lokalen Netzwerke auch wachsenden Einfluss in Politik und Wirtschaft sowie im lokalen Vereinsleben. Sportklubs etwa wurden zum zentralen Faktor ihrer lokalen Verwurzelung.

Ideologische Radikalisierung der Revolutionsgarden

Die engen Verbindung in die lokale Bevölkerung hemmen die Einheiten andererseits, sich an der Unterdrückung von Protesten zu beteiligen. Das wurde Mitte September deutlich, als Teile der Truppe in den sozialen Netzwerken ihren Unmut äußerten und sich im Einsatz gegen Demonstrierende deutlich zurückhielten. Auch in der Welt des Sports wuchs die Unterstützung für die Proteste – das Bild der iranischen Fußballer, die vor ihrem ersten WM-Spiel in Katar die Hymne nicht mitsingen, ging um die Welt.

All dies wurde vom Regime natürlich registriert. Dass inzwischen auch Hubschrauber eingesetzt werden, zeigt, dass das Regime das Ausmaß der Proteste anerkannt hat – und es ist ein Zeichen dafür, dass man an der Zuverlässigkeit einiger Garnisonen zweifelt. Zusätzlich wurden hochgerüstete Sonderkommandos der Garde, Polizeikräfte und das Militär eingesetzt, wie etwa die Fallschirmjäger der 65. Luftlandetruppe. Letztere sind seit Frühjahr 2016 an der Seite der Revolutionsgarden auch in Syrien im Einsatz.6

Ali Chamenei und seine Getreuen haben nicht vergessen, dass der Sturz der Monarchie 1979 auch dadurch möglich wurde, dass die Polizei überlief und die Soldaten mit ihrem geringen Sold unzufrieden waren. Sie wissen auch, wie unbeliebt das Regime bei einem wachsenden Teil Bevölkerung ist. Deshalb werden die Spezialeinheiten gehätschelt und die Rekruten nur aus regimeloyalen Kreisen ausgewählt.

Diese Spezialeinheiten werden mutmaßlich von ausländischen Milizen unterstützt. So werden die libanesische Hisbollah und die irakischen Haschd al-Schaabi (Volksmobilmachungseinheiten) beschuldigt, gegen iranische De­mons­tran­t:in­nen vorzugehen. Die Nähe zwischen den Revolutionsgarden und diesen arabischen Milizen ist kein Geheimnis. Zeinab Soleimani, die Tochter des berühmten Garde-Kommandeurs Qasem Soleimani, der im Januar 2020 von einer US-Drohne getötet wurde, soll 2 Millionen Dollar für Libanesinnen gespendet haben, die einen Hisbollah-Kämpfer heiraten und den Nachwuchs der Miliz sichern.

Die Revolutionsgarden und ihre Ableger schließen die Reihen und beziehen sich wieder stärker auf ihr ideologisches Fundament, ein Gemisch aus Hy­per­nationalismus und dem Kult um Imam Hussein.7 Deshalb befürchtet das religiöse schiitische Establishment, der Übereifer dieser Milizen, die sich nicht um das fragile lokale Gleichgewicht kümmern, könnte den Einfluss des Klerus schwächen oder sogar zu seiner völligen Ablehnung im Volk führen.

Ende Oktober brachte ein beträchtlicher Teil des Staatsapparats der Islamischen Republik seine Sorge zum Ausdruck: Nachdem durch die Wahl des erzkonservativen Präsidenten Eb­ra­him Raisi 2021 die „Reformer“ vollständig von der Macht ausgeschlossen ­seien, fehle ein „Sicherheitsventil“ zwischen der Bevölkerung auf der einen und dem Obersten Führer und seinen Garden auf der anderen Seite.

Die Angst vor den Konsequenzen einer ungezügelten Gewaltanwendung durch die Sicherheitskräfte ist sogar in den Medien zu spüren, die den Revolutionsgarden nahestehen. Zu ihnen gehört die Agentur Tabnak, die vom ehemaligen Garde-Kommandeur Mohsen Rezai gegründet wurde. Tabnak prangert allerdings die Gewalt der lokalen Gendarmen an, was einer Ablenkung von den durch die Revolu­tions­garden und die Basidsch verübten Massaker gleichkommt.

Tabnak ruft auch zum Dialog und zu einer Neugestaltung des Führungssystems der Islamischen Republik auf. Neben solchen Reformappellen gibt es aber noch weitergehende Initiativen, etwa jene, die Baba Negahdari, der Direktor des Wissenschaftszentrums im Parlament, am 31. Oktober angestoßen hat, oder die der Nationalen Union der Anwälte vom 1. November.8

Zahlreiche lokale Moscheen schließen sich den Aufständischen an, indem sie jeweils am 40. Tag nach dem Tod eines Opfers der Repression der Verstorbenen gedenken. Dabei mischt sich in die schiitischen Trauerrituale immer wieder der Ruf „Tod dem Diktator“.

Teil dieser Rituale ist es, sich auf die Brust zu schlagen. Mit dieser Geste drücken schiitische Gläubige bei den Aschura-Prozessionen ihre Reue aus, Imam Hussein bei der Schlacht von Kerbala im Jahr 680 seinen Mörder überlassen zu haben. In Iran erinnern sich heute viele daran, welche Rolle diese Trauerzeremonien in der Revolution von 1979 gespielt haben, wenn ­getöteter De­mons­tran­t:in­nen gedacht wurde.

Es ist alles andere als sicher, dass Beruhigungsmaßnahmen wie die Absetzung lokaler Polizeichefs etwa in Zahedan, die Aufhebung der Geschlechtertrennung in Uni-Mensen und auch die am 4. Dezember verkündete Auflösung der Sittenpolizei die gewünschte Wirkung erzielen werden.

Fürs Regime wurde es regelrecht peinlich, als Fotos des Revolutionswächters und Transportministers Ros­tam Qasemi auftauchten. Diese zeigen ihn mit seiner Freundin, die bei einer Malaysiareise 2011 kein Kopftuch trug. Qasemi ist mittlerweile als Minister zurückgetreten – offiziell aus gesundheitlichen Gründen.

Es ist diese Mischung aus Arroganz und Zynismus, die darauf hindeutet, dass die iranische Führung im Moment vor allem versucht, Zeit zu gewinnen. Sie stützt sich auf ihre Spe­zial­kräfte und auf ausländische Milizen und ignoriert die Vorwürfe aus einem Teil des Klerus. Sie baut ihre Allianzen mit Russland und China aus, ist tief in die Kriege in Syrien und in der Ukraine verwickelt und sieht offenbar nur noch die Flucht nach vorn. Deshalb ist sie zu allem bereit.

„Die durchschnittliche Dauer einer Tyrannei beträgt fünfzehn, höchstens zwanzig Jahre. Werden es mehr, gerät sie unausweichlich zu einem Monster“, warnte Brodsky aufgrund seiner Erfahrung mit der sowjetischen Geronto­kra­tie. Irans erster Revolutionsführer Ruhollah Chomeini – im Vergleich zu Chamenei ein Kurzzeitdiktator – legte den Grundstein für eine solche Entwicklung, indem er kurz vor seinem Tod 1989 die Theorie von der „absoluten“ Herrschaft des Rechtsgelehrten (Ve­la­yat-e Faqih) in die Verfassung implementierte.

Der Zerfall der aus der Chomeini-Zeit ererbten Macht, die Abhängigkeit des Regimes von transnationalen Milizen und die ideologische Wiederaufrüstung der Revolutionsgarden: All dies fördert einen Überbietungswettkampf, der immer mehr von entfesselter Gewalt geprägt ist. Diese Entwicklung stellt inzwischen – sogar aus Sicht der staatlichen Medien – eine existenzielle Bedrohung für das Land dar.

1 In: „Flucht aus Byzanz“, München (Hanser) 1988.

2 Siehe Mitra Keyvan, „Iran – die Mauer aus Angst ist gefallen“, LMd, November 2022.

3 Rede vom 24. Oktober 2022 (auf Farsi), verfügbar auf Khabar online.

4 Rede vom 12. Oktober 2022, Radio Farda (auf Farsi).

5 Siehe die stundengenaue Chronik (auf Farsi) auf dem Youtube-Kanal Koocheh (Die Straße).

6 Siehe den Blog von Juri Ljamin, russischer Berater der iranischen Armee, 8. Juli 2018 (auf Russisch).

7 Siehe Saeid Golkar, „Taking back the neighborhood: the IRGC provincial guard’s mission to re-Islamize Iran“, Washington Institute for Near East Policy, 18. Juni 2020.

8 Berichtet von Tabnak und Khabar online.

Aus dem Französischen von Claudia Steinitz

Stéphane A. Dudoignon ist Forschungsleiter am CNRS/GSRL und Autor von „Les Gardiens de la révolution islamique d’Iran: sociologie politique d’une milice d’État“, CNRS Éditions, 2022.

Offensive gegen Kurden

Mitte November hat das Teheraner Regime die Repressionen in den kurdischen Gebieten im Nordwesten des Landes verschärft. Armee und Ordnungskräften rückten mit gepanzerten Fahrzeugen in die Stadt Mahabad ein, die etwa 60 Kilometer von der irakischen Grenze entfernt liegt. Nach Berichten von kurdischen Exilgruppen sind Demonstrierende dort mit scharfer Munition beschossen worden.

Die Region ist die Heimat von Mahsa Amini – ihr kurdischer Vorname lautet Jina –, deren Tod in Polizeigewahrsam im September der Auslöser für die landesweiten Proteste gegen das Regime war. Zeitgleich zur Eskalation in Nordwest-Iran wurde die kurdische Opposition im Exil in Irakisch-Kurdistan, darunter die Demokratische Partei Kurdistan-Iran (PDKI) und die Komalah-Partei, mehrfach mit Raketen und Kamikaze-Drohnen angegriffen. Die Regierung in Bagdad protestierte daraufhin gegen die Verletzung ihrer territorialen Souveränität.

Das härtere Vorgehen gegen De­mons­tran­t:in­nen im Inland und die Angriffe auf Ak­ti­vis­t:in­nen der kurdischen Oppositionsparteien jenseits der Grenze im Irak verfolgen komplementäre Ziele. Erstens will Teheran verhindern, dass sich das iranische Kurdistan seiner Kontrolle entzieht. Die Erinnerungen an die kurze Errichtung einer autonomen Kurdenrepublik in Mahabad (1946/47) und die Beinahe-Sezession der Region nach der Islamischen Revolution von 1979 spielen dabei eine wichtige Rolle. Von 1979 bis 1982 installierte Teheran im Nordwesten ein hartes Unterdrückungsregime, es gab tausende Hin­richtungen. Die Forderung der PDKI nach „Demokratie im Iran und Autonomie für Kurdistan“ wurde von der Islamischen Republik ignoriert.

Zweitens versuchen die iranischen Behörden die Existenz dieser Opposition zu nutzen, um ihre Behauptung zu unterstreichen, bei den Protesten handele es sich um den Destabilisierungsversuch eines inneren Feindes – der Kurden – in Verbindung mit Parteien im Irak, die Teheran als „terroristisch“ eingestuft hat. Zeitgleich zur antikurdischen Offensive in Iran startete das türkische Militär die Offensive „Klauenschwert“ gegen die Kurden in Syrien und im Irak. Istanbul bezeichnete die Operation als Vergeltung für den Bombenanschlag in Istanbul am 20. November, bei dem sechs Menschen starben.

⇥Akram Belkaïd

Le Monde diplomatique vom 08.12.2022, von Stéphane A. Dudoignon