10.11.2022

69 Millionen für ein JPEG

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69 Millionen für ein JPEG

von Franz Kaiser und Marie-Noël Rio

NFTs im realen Raum: Präsentation von Christie’s in New York JOHN ANGELILLO/newscom/picture alliance
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Am 11. März 2021 kam beim Auktionshaus Christie’s das Non Fungible Token (NFT, nicht austauschbares Token) „Everydays: The First 5000 Days“ des US-amerikanischen Künstlers Michael Winkelmann alias Beeple unter den Hammer. Die Versteigerung, die die Website des Auktionshauses zwischenzeitlich fast lahmlegte, war zwei Wochen zuvor mit einem Mindestgebot von 100 US-Dollar eröffnet worden – am Ende ging das Werk für 69,3 Millionen US-Dollar an einen anonymen Käufer. Damit ist „Everydays“ das drittteuerste Werk eines lebenden Künstlers, das jemals versteigert wurde.

Es handelt sich um eine Collage aus 5000 digitalen Bildern, die Beeple seit dem 1. Mai 2007 online veröffentlicht hat. Die „postapokalyptische“, popkulturell inspirierte Ästhetik der Bilder ist wenig spektakulär, das künstlerische Konzept dahinter simpel: 5000 Tage lang postete Beeple jeden Tag ein Bild. Ein Verfahren, dessen sich vor ihm zum Beispiel schon der japanische Konzeptkünstler On Kawara (1933–2014) bedient hatte, der in seiner legendären Serie „Today“ das jeweilige Datum auf Leinwand malte.

Bei Christie’s bot Beeple eine einfache JPEG-Datei zum Verkauf, die sich kostenlos unendlich oft kopieren lässt. Wie lässt sich also ein solch exorbitanter Preis erklären?

Zunächst weckte allein die Tatsache, dass es sich um die erste Versteigerung eines rein digitalen Werks handelte, das Interesse der Sammler. Aber es gibt zwei weitere gewichtige Gründe: Erstens ist das NFT „Everydays“ durch eine Blockchain abgesichert, also eine Art Datenbank, die auf verschiedenen dezentral vernetzten Rechnern gespeichert ist. Sie verleiht einem digitalen Werk den Status eines einzigartigen Originals – wie ein Gemälde von Rembrandt; zweitens hatte Christie’s vor der Versteigerung angekündigt, dass es erstmals Zahlungen in der Kryptowährung Ethereum akzeptiere.

Später stellte sich heraus, dass es sich bei den Käufern um Anand Venkateswaran und Vignesh Sundaresan handelt, zwei indische Investoren, die sich mit ihrem Fonds Metapurse auf NFT-Investments spezialisiert haben.1 Um den Wert ihrer sonstigen Investments zu steigern, hatten auch sie ein Interesse daran, dass „Everydays“ einen hohen Preis erzielt.

Originalität ist der entscheidende Unterschied zwischen Kunst und Massenware. Auf dem Kunstmarkt muss die Authentizität, also die Urheberschaft eines Werks klar sein. Und wenn sie umstritten ist – wie etwa beim Gemälde „Salvator Mundi“, das Leonardo da Vinci zugeschrieben wird –, versucht man Skeptiker zum Schweigen zu bringen (was angesichts der Millionen von Dollar, die auf dem Spiel stehen, kaum verwunderlich ist).

Bei einem NFT gibt es völlige Transparenz, was die Authentizität als auch die Eigentumsverhältnisse betrifft. Hat ein Sammler ein NFT gekauft, gibt er eine Codezeile ein, um auf das Werk zuzugreifen. Derselbe Code ermöglicht ihm auch den Zugriff auf ein Echtheitszertifikat: Denn jeder Kauf wird in einem „Block“ der Blockchain registriert. So hat jeder Nutzer jederzeit Einblick in die aktuellen und vergangenen Eigentumsverhältnisse und die Urheberschaft des NFTs. Wie auf dem traditionellen Kunstmarkt kann so die Provenienz eines Werks nachgewiesen und sichergestellt werden, dass es rechtmäßig weiterverkauft werden darf.

Blockchains bilden auch die Grundlage von Kryptowährungen. Im Gegensatz zu digitalen Währungen, die die Zentralbanken ausgeben, erfolgt ihre Kontrolle jedoch völlig dezentral.2 Bitcoin, die erste Kryptowährung, kam 2009 auf den Markt. Tausende weitere folgten. Der Wert eines Bitcoin lag im Oktober 2009 bei 0,001 US-Dollar. Zehn Jahre später, im April 2020, überschritt er die Marke von 7000 US-Dollar. Im Februar 2021 schnellte er über die Marke von 60 000 US-Dollar, nachdem er neue Investoren wie Elon Musk angezogen hatte.

Musk hatte Bitcoins im Wert von 1,5 Milliarden US-Dollar gekauft und angekündigt, dass Tesla sie bald als Zahlungsmittel für seine E-Autos akzeptieren würde. Bitcoin-Anleger waren begeistert: Oft sind sie extrem reich, zumindest virtuell. Doch haben sie häufig wenig von ihrem Wohlstand, weil man bisher kaum irgendwo außerhalb der digitalen Welt mit Bitcoin zahlen kann.

Es ist dieser doppelte Kontext, der schwindelerregende Höhenflug von Kryptowährungen und der Wunsch der Anleger, Kryptos als vollwertige Währungen zu fördern, in dem die Rekordversteigerung von „Everydays: The First 5000 Days“ zu betrachten ist.

Blockchain-Technologie erobert den Kunstmarkt

Das renommierte Auktionshaus Chris­tie’s, das stets bestrebt ist, seinen Konkurrenten Sotheby’s zu übertreffen, hat gezeigt, dass NFTs perfekt in das Geschäftsmodell von Kunstauktionen passen. Die Versuche, ein innovatives Geschäftsmodell auf die Kunst anzuwenden oder sogar auf ein solches Businessmodell zu reduzieren, sind dabei nicht neu. Bereits in den 1960er Jahren bemerkte Andy Warhol: „Gut im Geschäft zu sein, ist die faszinierendste Art von Kunst“ und „Kunst ist das, womit man davonkommen kann“.3

Seit dem Beeple-Verkauf haben sich Sammler geradezu um NFTs gerissen, so etwa um die Sammlung „Bored Ape Yacht Club“ (BAYC) – 10 000 Cartoon-Bilder von gelangweilten Affen, die von Stars wie Eminem und Madonna gekauft wurden. Im September 2021 wurde ein Posten von 101 Affen-NFTs bei Sotheby’s für über 24 Millionen US-Dollar verkauft.

Ein weiteres Beispiel für den Auktionswahnsinn war der Verkauf des Werks „The Merge“ des anonymen Künstlers Pak über die Onlineplattform Nifty Gateway. Im Dezember 2021 erwarben 28 983 Personen 312 686 Einheiten sogenannter digitaler Masse für insgesamt 91,8 Millionen US-Dollar.

Bei „Merge“-NFTs hat der Käufer keine Ahnung, was er kauft. Denn zum Zeitpunkt des Verkaufs existiert das Werk noch gar nicht. Erst nach Auk­tions­ende erhält er ein NFT, das von einem personalisierten Skript generiert wird und mit den anderen „Merge“-NFTs des Käufers verschmilzt („to ­merge“). Wenn er das NFT weiterverkauft, verschmilzt es mit den „Merge“-NFTs des nächsten Käufers, wodurch wiederum ein völlig neues NFT entsteht, und so weiter. In der Theorie könnten alle ursprünglich verkauften Einheiten der „Merge“-Masse am Ende zu einem einzigen NFT verschmelzen.

Der kommerzielle Erfolg des NFT-Handels scheint gesichert, aber es bleiben Probleme. Kryptowährungen, mit denen die Verkäufe abgewickelt werden, stehen wegen ihres enormen Stromverbrauchs beim „Mining“, dem Schürfen neuer Einheiten, in der Kritik. So zog sich Elon Musk, drei Monate nach seiner Ankündigung, in Bitcoin zu investieren, angeblich aus Umweltbedenken wieder aus dem Geschäft zurück. Der Bitcoinkurs bracht augenblicklich ein.4 Zudem sehen globale Finanzaufsichtsbehörden wie Zentralbanken die Kryptowährungen skeptisch, wegen ihrer extremen Volatilität und Anfälligkeit für Betrug und Piraterie.5

Beim Kryptocrash im Mai 2022, als die Kurse ins Bodenlose fielen und einige Kryptowährungen sogar ganz verschwanden, war das Geschäft mit NFTs zwangsläufig mitbetroffen. Im Sommer erholte sich der Kryptomarkt zwar wieder. Doch viele Menschen, die auf bekannte Krypto-„Influencer“ wie Matt Damon oder Elon Musk gehört und sich in den digitalen Goldrausch gestürzt hatten, verloren große Summen. Im Guardian kommentierte der US-Wirtschaftsexperte Charles Elson den Kryptocrash mitleidlos: „Man investiert nicht in einen unregulierten Markt.“

Aber herrscht auf den sogenannten regulierten Märkte nicht ein vergleichbarer Irrsinn, wie sich in der Finanzkrise von 2008 gezeigt hat? China startete im April 2020 seine eigene Blockchain-Plattform (China’s Blockchain-based Service Network, BSN), das die Nutzung externer Kryptowährungen wie Ethe­reum, Cosmos und EOS streng kontrolliert; seit Januar 2022 gibt es mit dem e-Yuan eine eigene chinesische Digitalwährung. In den westlichen Demokratien werden regulative Gesetze zu Kryptowährungen hingegen von Fall zu Fall erlassen.

Allerdings könnte es sein, dass der Verkauf von Beeples „Everydays“ den Beginn einer neuen Ära markiert, in der Kunst und das Geld, mit dem man sie erwirbt, ohne jegliche institutionelle Kontrolle erschaffen, manipuliert und besessen werden kann.

Im März 2022 stellte Beeple, mittlerweile Millionär und weltberühmt, seine neuesten Arbeiten in der Jack Hanley Gallery in New York aus. Unter dem Titel „Uncertain Future“ waren seine zuvor nur in digitaler Form existenten Werke als Drucke, Pastell- und Ölgemälde zu sehen. Im April dieses Jahres stellte das Museum für zeitgenössische Kunst Castello di Rivoli in Turin als erstes öffentliches Museum dann ein NFT von Beeple aus: „Human One“. Aber ist es wirklich die Aufgabe von Museen, auf diesen Zug aufzuspringen?

Die Uffizien in Florenz zumindest waren etwas vorschnell. Das Museum war eine Partnerschaft mit einem privaten Unternehmen zur Prägung („Minting“) von NFTs eingegangen. Im Mai 2021 verkauften sie eine digitale Reproduktion – natürlich mit Echtheitszertifikat – des Rundbilds „Tondo Doni“ von Michelangelo für 140 000 Euro. Mehr als 15 weitere Gemälde (darunter Caravaggios „Bacchus“) sollten folgen. Doch die italienische Regierung blockierte vorerst den weiteren Verkauf von Meisterwerken des italienischen Kulturerbes als NFTs.

Insgesamt aber wächst der Markt: 2021 machten NFTs bereits 1,6 Prozent des weltweiten Kunstmarkts aus. Damit lagen sie deutlich vor der Fotografie, die nur 1 Prozent ausmacht.

1 Angus Berwick und Elizabeth Howcroft, „From Crypto to Christie’s“, Reuters Investigates, 17. November 2021.

2 Siehe Frédéric Lemaire, „Falschgeld Bitcoin“, LMd, Februar 2022.

3 Andy Warhol, „Die Philosophie des Andy Warhol von A bis B und zurück“, München (Knaur) 1991.

4 Ethereum kündigte im September 2022 die Umstellung auf ein stromsparendes Blockchain-Verfahren an. Die Umstellung firmierte ebenfalls unter dem Namen „Merge“. Siehe: Svenja Bergt, „Grüner Umbruch in Krypto-Branche“, taz, 15. September 2022.

5 Vgl. Riah Pryor, „Crypto collectors beware: Why online wallets are increasingly vulnerable to theft“, The Art Newspaper, London/New York, 18. März 2022.

Aus dem Französischen von Birgit Bayerlein

Franz Kaiser ist Kunsthistoriker und Kurator. Marie-Noël Rio ist Schriftstellerin, zuletzt erschien von ihr: „Hambourg Hansaplatz N°7. Quatre ans dans la misère allemande,“ Paris (Delga) 2021.

Le Monde diplomatique vom 10.11.2022, von Franz Kaiser und Marie-Noël Rio