13.10.2022

Sturgeon laviert

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Sturgeon laviert

von Lou-Eve Popper

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Nach der UN-Klimakonferenz von Glasgow im November 2021 erklärte die schottische Regierungschefin Nicola Sturgeon vor dem Parlament in Edinburgh: „Ich denke nicht, dass es grünes Licht für Cambo geben sollte.“ Cambo heißt das riesige Ölfeld, das 2001 vor den Shetlandinseln entdeckt wurde. Damals standen Shell UK und die Siccar Point Energy kurz davor, die Fördergenehmigung der Oil and Gas Authority (OGA) zu erhalten. Die Bohrungen hätten 2022 beginnen sollen. Geschätzte Fördermenge: mindestens 170 Millionen Barrel.

Der Handlungsspielraum der schottischen Regierungschefin ist begrenzt, da die großen Leitlinien der britischen Energiepolitik in London beschlossen werden. Aber ihr Wort hat dennoch Gewicht: Ihre Stellungnahme wirkte in der Ölbranche wie eine Bombe. Im Dezember 2021 zog sich Shell aus dem Cambo-Projekt zurück mit der Begründung, die Entwicklung des Projekts sei „derzeit wirtschaftlich nicht tragfähig“. Die Umweltorganisationen jubelten.

Die Konservative Partei warf Sturgeon vor, „die rote Linie überschritten und die schottische Öl- und Gasindustrie im Stich gelassen zu haben“.1 Aber auch im eigenen Lager, in der Schottischen Nationalpartei (SNP), gibt es Unzufriedene. Einer ihrer führenden Köpfe, Fergus Mutch, warnt vor negativer Stimmungsmache gegen die Branche. Angesichts der Geschichte der Partei ist solche Kritik nicht verwunderlich.

Der Aufschwung der SNP begann in den 1970er Jahren, als die ersten Ölfelder in der Nordsee entdeckt wurden. Die fossilen Brennstoffe waren für die sezessionistischen Kräfte in Schottland ein Geschenk des Himmels, das wirtschaftliche Unabhängigkeit versprach. „Es ist unser Öl“, lautete ihr Slogan.

Als die SNP 2007 an die Regierung kam, wollte sie Schottland dank des Erdöls von der Vormundschaft Londons befreien; beim Unabhängigkeitsreferendum von 2014 spielte das Öl ebenfalls eine zentrale Rolle. „8 Prozent der Staatseinnahmen sollten aus dem Ölsektor kommen“, erklärt Dave Moxham. Generalsekretär der Gewerkschaftsbunds STUC. Als die Regierungschefin sich gegen Cambo aussprach, brach sie mit dem politischen Erbe ihrer Partei.

Dabei hatte sich die Ölbranche lange Zeit auf Sturgeon verlassen können. Die setzte, als sie 2014 an die Regierung kam, die SNP-Politik fort: Förderung bis zum letzten Tropfen. Doch die Zuspitzung der Klimakrise wurde immer offensichtlicher, und die Ölvorräte schwinden. Nun gelten die erneuerbaren Ener­gien als der Ausweg, der in die Unabhängigkeit führt.

Im Mai 2021 gewann die SNP zwar die Parlamentswahlen in Schottland, verfehlte aber knapp die absolute Mehrheit. Sturgeon bot den Grünen eine Koalition an. Die treten zwar ebenfalls für die Unabhängigkeit ein, sind jedoch vehement gegen neue Bohrungen in der Nordsee. Zwei führende Mitglieder der Scottish Green Party traten in die Regierung ein, wenige Monate später rief die Regierungschefin vorsichtig dazu auf, „das Cambo-Projekt neu zu bewerten“.2

Zu dieser Zeit entwickelte sich auch in Großbritannien eine breite Bewegung gegen fossile Energien. Im Oktober organisierte Greenpeace eine Kundgebung vor 10 Downing Street und bespritzte ein Bild von Boris Johnson mit einer zähen schwarzen Flüssigkeit. In Edinburgh griffen junge Umweltaktivisten den Chef von Shell an, der zu einer Klimakonferenz eingeladen war. Sogar der Labour-Vorsitzende Keir Starmer forderte die britische Regierung auf, das Cambo-Projekt aufzugeben. Unterdessen rückte die 26. UN-Klimakonferenz näher. Sturgeon, die sich als Klimaschützerin präsentieren wollte, geriet zunehmend in Verlegenheit.

Wenige Tage vor dem Gipfel beschloss sie symbolträchtig das Ende der schottischen Politik der unbegrenzten Förderung fossiler Ressourcen.

Doch die Umweltverbände vermuteten weiterhin ein doppeltes Spiel. Deshalb sprach sich Stur­geon kurz nach dem Ende der Klimakonferenz gegen das Cambo-Ölfeld aus. „Sie hatte keine andere Wahl, der Druck war zu groß“, meint Ryan Morrison von Friends of the Earth Scotland. Er begrüßt zwar ihre Entscheidung, bleibt aber miss­trauisch: „Ist sie grundsätzlich gegen die Erschließung neuer Ölfelder in der Nordsee? Das ist immer noch nicht klar.“

Bei der Klimakonferenz entschied sich Schottland gegen einen Beitritt zur Beyond Oil and Gas Alliance, einem Bündnis von zwölf Ländern, die sich verpflichten, keine neuen Öl- und Gasförderkonzessionen mehr zu vergeben. Immerhin hat die schottische Regierung aber Gespräche mit der Allianz über ­einen künftigen Beitritt angekündigt.

Der Ukrainekrieg hat Stur­geon erneut in eine prekäre Position gebracht. Die Regierung Johnson plante höhere Fördermengen in der Nordsee, um die britische Energieversorgung zu sichern.

Die schottische Regierungschefin erhob dagegen umgehend Einspruch: „Die Klimakrise ist in der Zwischenzeit nicht verschwunden.“3 An die schottischen Konservativen gerichtet, verwies sie darauf, dass das Nordseeöl größtenteils ins Ausland exportiert werde, da das Land gar nicht über die nötige Infrastruktur verfügt, um es selbst zu raffinieren.

Die Umweltorganisation Uplift betonte, dass die fossilen Brennstoffe in der Nordsee nicht Großbritan­nien gehören, sondern den multinationalen Konzernen. Die würden, wenn sie ihre Produktion steigern, ihr Öl und ihr Gas weiterhin an den Meistbietenden verkaufen.

Das britische Committee on Climate Change, das Pendant zum deutschen Expertenrat für Klimafragen, machte geltend, die Erschließung neuer Öl- und Gasfelder werde wohl kaum dazu führen, dass die Kosten für fossile Brennstoffe sinken, weil die Preise vom internationalen Markt bestimmt werden. Im Februar forderte die Labour Party, unterstützt von den schottischen Grünen, eine einmalige Steuer auf die gigantischen Gewinne der Ölmultis.

Dieser Forderung wollte sich Stur­geon nicht direkt anschließen. Sie sprach sich zwar für eine „gerechte Besteuerung“ aus, war aber dagegen, dass „nur die Gemeinden, Arbeitsplätze und Investitionen im Nordosten Schottlands dafür bezahlen“.4 Für die Erdölindustrie standen die Zeichen damit wieder günstiger. Im März erklärte Shell, man denke doch wieder über das Projekt Cambo-Feld nach. ⇥Lou-Eve Popper

1 Glenn Campbell, „Nicola Sturgeon: Cambo oil field should not get green light“, BBC News, 16. November 2021.

2 Adam Forrest, „Nicola Sturgeon calls on Boris Johnson to ‚reassess‘ Cambo oil field plan“, The Independent, 12. August 2021.

3 Alistair Grant, „FM rejects call to ‚deal blow to Putin‘ by increasing North Sea oil production“, The Scotsman, 11. März 2022.

4 Paul Hutcheon, „Scottish Greens back windfall tax after SNP failed to support Labour proposal on oil and gas firms“, Daily Record, 7. Februar 2022.

Le Monde diplomatique vom 13.10.2022, von Lou-Eve Popper