07.07.2022

Das Meer kann nicht warten

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Das Meer kann nicht warten

von Mohamed Larbi Bouguerra

Die „Wonder of the Seas“ vor der französischen Mittelmeerküste GERARD BOTTINO/picture alliance/zumapress
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Bei Kreuzfahrtschiffen scheint der Gigantismus keine Grenzen zu kennen: Im November 2021 lief in den Atlantikwerften von Saint-Nazaire die 362 Meter lange „Wonder of the Seas“ vom Stapel, das größte Kreuzfahrtschiff der Welt. Schiffseigner ist die Royal Caribbean, der die neun größten Kreuzfahrtschiffe der Welt gehören. Die „Wonder of the Seas“, die am 4. März ihre Jungfernfahrt antrat, ist eine schwimmende Stadt: 6988 Gäste kann das Schiff aufnehmen, die von 2300 Angestellten betreut werden.

Allerdings sind die schwimmenden Kolosse nicht überall willkommen. Seit August 2021 dürfen Kreuzfahrtschiffe mit mehr als 200 Passagieren nicht mehr in der Altstadt von Venedig anlegen, denn die starken Wellenbewegungen beschädigen die historischen Gebäude. Zudem leiden die Kanäle der umliegenden Viertel San Marco und Giu­decca unter der Verschmutzung.

Trotzdem ist der Sektor in den vergangenen Jahren stark gewachsen: 2019 zählte man weltweit fast 30 Millionen Passagiere, 66 Prozent mehr als 2009.1 Auch die Folgen der Coronapandemie, die 2020 und 2021 das Geschäft auf ein Fünftel reduziert hatte, sind allmählich überwunden – auch wenn es immer noch zu Zwischenfällen kommt, wie etwa Anfang Januar in Lissabon, als 4000 Deutsche aufgrund eines Corona-Ausbruchs an Bord ihre Reise vorzeitig beenden mussten.

Nachdem die US-amerikanische Gesundheitsbehörde CDC in Atlanta vor Reisen auf Kreuzfahrschiffen gewarnt hatte, erklärte der Weltverband der Kreuzfahrtindustrie (Cruise Lines International Association, CLIA) im Juni 2021, die Schiffe seien „die sicherste Ferienumgebung, die heute zur Verfügung steht“. Bereits am 16. Januar stach die „Oasis of Seas“, die ebenfalls der Royal Caribbean gehört, von Miami aus für eine einwöchige Fahrt in See. An Bord 4700 Menschen.

Diese Art des Tourismus ist allerdings nicht nur in Zeiten von Corona problematisch. Sie produziert zahlreiche Umweltprobleme, von denen eines besonders gefährlich ist, da es kaum zu sehen ist: die Verschmutzung der Ozeane durch Mikroplastik, das diese Schiffe ins Meer leiten. Der Gehalt von Schmutzpartikeln unter 5 Millimeter Durchmesser steigt in allen Weltmeeren an.2 Dabei handelt es sich um Plastikteilchen, halbsynthetische und natürliche Zellulosefasern. Diese Teilchen stammen vor allem aus dem sogenannten Grauwasser: dem nur leicht verschmutzten Abwasser, das in den Wäschereien, Waschbecken, Duschen und Spülbecken der Schiffe anfällt. Es darf ganz legal ins Meer geleitet werden, so ist es in der seit 2003 gültigen Anlage IV des Internationalen Übereinkommens zur Verhütung der Meeresverschmutzung durch Schiffe (Marpol) festgelegt.3

Solche Mikroteilchen lösen sich im Meer aber nicht auf, sondern gelangen in die Nahrungskette und bedrohen dadurch über 690 Arten; 100 000 Meeressäuger sterben jedes Jahr daran. Mehrere Forschungsarbeiten haben gezeigt, dass die Konzentration von Mikroplastik im Grauwasser der Kreuzfahrtschiffe sehr viel höher ist als in jeder anderen zuvor untersuchten Umgebung.4 In der Ostsee und in anderen Gebieten wurde der Umfang des abgelassenen Grauwassers auf 5,5 Millionen Kubikmeter geschätzt.5

Mit über 9000 Menschen an Bord produziert ein Kreuzfahrtschiff wie die „Wonder of the Seas“ so viel Abwasser und Müll wie eine durchschnittliche Kleinstadt. Jeden Tag spült ein solches Riesenschiff 773 Tonnen Grauwasser ins Meer. Insgesamt produzieren die rund 320 Kreuzfahrtschiffe, die derzeit auf den Weltmeeren unterwegs sind, 10 Prozent des gesamten Grauwassers, das von allen Schiffen weltweit in die Ozeane abgelassen wird.6

Das ist kein Zufall, denn Kreuzfahrtpassagiere genießen an Bord den Komfort eines Luxushotels mit Schwimmbädern, Friseursalons, Res­tau­rants und Reinigungen. Im Verlauf der Reise wechselt das Personal regelmäßig Bettwäsche und Handtücher. Im Waschprozess verlieren sie Mikroplastikfasern, die dann mit dem Grauwasser ins Meer gelangen. Außerdem enthält dieses Grauwasser auch Hygiene- und Pflegeprodukte sowie Krankheitserreger, Medikamente und toxische Chemikalien, die die Meeresumwelt und das Leben im Wasser schädigen.

Schätzungen zufolge beträgt der jährliche Mikroplastikausstoß aller Kreuzfahrtschiffe zusammen 100 000 Tonnen. Den größten Anteil daran hat das Grauwasser aus den Wäschereien mit 2000 bis 50 000 Partikeln oder 0,2 bis 6 Milligramm pro Liter. Wird es ohne Klärung ins Meer geleitet, dann führt das zum Ausstoß von 30 bis 2000 Milligramm Mikroplastik pro Person und Tag. Im Jahr produziert jeder Gast auf einem Kreuzfahrtschiff also 10 bis 500 Gramm Mikroplastik.

Würde man die synthetischen Textilien an Bord durch Naturfasern ersetzen, könnte man die Bildung der meisten Partikel verhindern. Würde man das Waschwasser in Containern an Bord speichern und später durch entsprechende Kläranlagen im Hafen laufen lassen, könnte man diese Abfälle sogar komplett vermeiden.

Doch im Augenblick können Kreuzfahrtschiffe ihr Grauwasser im Schnitt nur ganze 56 Stunden speichern. Manche großen Schiffe (mit über 500 Passagieren) verfügen bereits über Kläranlagen und behandeln ihre Abwässer biologisch und mit Desinfektionsmitteln. Trotzdem gelangen weiterhin große Mengen synthetische Fasern in die Ozeane.

Zwar arbeiten Ingenieure und Chemikerinnen derzeit intensiv an der Entwicklung neuer Methoden, um diese Fasern unschädlich zu machen. Aber die Zeit drängt, und das Meer kann nicht darauf warten, bis diese neuen Techniken auf breiter Basis angewandt werden.

1 „State of the Cruise Industry Outlook Report“, Cruise Lines International Association, Washington, D. C., 2019 und 2022.

2 Kunsheng Hu et al., „Degradation of microplastics by a thermal Fenton reaction“, ES&T Engineering, Washington, D. C., 24. November 2021.

3 Siehe Guyu Peng, Baile Xu und Daoji Li, „Gray water from ships: a significant sea-based source of microplastics?“, Environmental Science & Technology, Bd. 56, Nr. 4–7, 2022.

4 Mikkoula Oula, „Estimating microplastic concen­tra­tions and loads in cruise ship grey waters“, Master­arbeit, Aalto Universität, Helsinki 2020.

5 Erik Ytreberg et al., „Environmental impact of gray water discharge from ships in the Baltic Sea“, Marine Pollution Bulletin, Nr. 152, Oxford, März 2020.

6 Zahlen zitiert in: siehe Anm. 3 und 5.

Aus dem Französischen von Sabine Jainski

Mohamed Larbi Bouguerra ist Chemiker, Hochschullehrer und Mitglied der Tunesischen Akademie für Wissenschaft, Literatur und Kunst (Beit al-Hikma) in Karthago.

Le Monde diplomatique vom 07.07.2022, von Mohamed Larbi Bouguerra