07.07.2022

Wer hat Angst vor Seine-Saint-Denis?

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Wer hat Angst vor Seine-Saint-Denis?

Frankreich und sein kompliziertes Verhältnis zur Banlieue

von Benoît Breville

Am Neujahrstag der Sikhs in Bobigny  akg/uig/godong
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Manche geben ein Vermögen aus, um sich in den Ferien einen Tapetenwechsel am anderen Ende der Welt zu gönnen. Der Rechtsaußen-Politiker Éric Zemmour braucht dafür nur ein U-Bahn-Ticket. Damit kann er in das Département Seine-Saint-Denis fahren, das wenige Metrostationen hinter der Pariser Stadtgrenze liegt und nach Zemmours Worten „nicht mehr zu Frankreich gehört“.

„Ein paar kleine französische Inseln gibt es dort noch“, räumte der Chef der Partei Reconquête (Rückeroberung) ein. „Aber ansonsten wohnen dort ausländische Sklaven“ sowie „Vorortpendler, Diebe, Plünderer und Konsorten.“ Marine Le Pen ist der Meinung, das Dé­parte­ment sei ein „außer Kontrolle“ geratener „rechtsfreier Raum“ und „dem Gesindel ausgeliefert“.

Das Département Seine-Saint-Denis ist es gewohnt, zum Gegenstand paranoider Theorien zu werden und als Beispiel für die „Islamisierung der Vorstädte“ herzuhalten. Seit über 30 Jahren steht es im Verdacht, kein vollwertiger Teil der Nation zu sein. Schon 1990 verglich ein Journalist von Le Parisien die ärmste Großsiedlung des Départements mit Algier und den Armenvierteln von Los Angeles. Er berichtete entsetzt von Muslimen, die sich an ihrem Gruß erkennen („sie legen eine Hand rasch aufs Herz und dann an die Lippen“), und fürchtete eine „Intifada vor den Toren von Paris, die ‚Es lebe Saddam Hussein‘ schreit“.

Seine-Saint-Denis muss sich schon seit sehr langer Zeit eine Menge anhören: Bereits vor 200 Jahren schürte der traditionell von Arbeitern und Einwanderern bewohnte Vorort die tiefsitzenden sozialen Ängste der Pariser Bourgeoisie. Im 19. Jahrhundert siedelten sich vor allem im nördlichen Teil der Pariser Banlieue – der damals noch anders hieß – hunderte Fabriken an und sorgten für einen Zustrom Arbeit suchender Proletarier. 1830, als diese Entwicklung gerade erst einsetzte, warnte der Präfekt des damaligen Départements Seine den König Louis Philippe: „Eure Polizeichefs lassen zu, dass die Hauptstadt von einem Fabrikgürtel eingeschnürt wird. Dieser Gürtel wird Sie eines Tages erdrosseln, Sire.“

Damals wurden in Paris alle unbeliebten Einrichtungen (Friedhöfe, Waisenhäuser, Rieselfelder, Fabriken) systematisch an den Stadtrand ausgelagert. Entsprechend dreckig, ungesund und ekelerregend präsentierte sich die Peripherie, die mit ihrer verpesteten Luft die Gesundheit ihrer Einwohnerschaft beeinträchtigte. Gebildete Schichten, die gerade die Hygiene für sich entdeckt hatten, waren abgestoßen von den „schwarzen Vorstädten“ mit ihren dichten Rauchschwaden, düsteren Elendsbehausungen und schlammigen Wegen.

„Es riecht nach Aubervilliers“, wurde im Paris des späten 19. Jahrhunderts gewitzelt, sobald üble Gerüche durch die Hauptstadt wehten. Saint-Denis wurde gelegentlich „Saint-­Denis-­la-­Suie“ (Saint-Denis, die Verrußte) genannt; und Fabrice Delphi dichtete 1907 ebenfalls in rassistischer Manier: „Ja, hier regiert der Ruß / Und verpasst dem armen Saint-Denis, / das einst so rein war, / den scheußlichen Teint einer Mulattin.“ ­Ärzte und Sozialforscher begaben sich nach Saint-Denis, um zu untersuchen, welche Wirkung dieser Schandfleck auf das menschliche Gemüt hatte. Sie kamen meist zu recht ähnlichen Diagnosen und kategorisierten die Arbeiterklasse als „gefährliche Klasse“.

Im frühen 20. Jahrhundert etablierte sich der Mythos von den „Apachen“ – so wurden die jungen Kleinkriminellen der Pariser Armenviertel genannt. „Es fehlt an Sicherheit, jedenfalls in den großen Städten und ihren Vororten. Dort regieren die Apachen. Die Apachen sind dort die Könige“, ängstigte sich am 7. April 1907 der auflagenstarke Petit Parisien.

In derselben Ausgabe hieß es in der Rubrik „Umgebung von Paris“, in der tagtäglich über schlimme Vorkommnisse berichtet wurde: „Saint-Denis. Die Schneiderin Mademoiselle Gross, wohnhaft an der Passage de Choiseul, ging gestern früh die Rue de la Fromagerie entlang. Plötzlich stürzte ein Mann sich auf sie und rammte ihr ein Messer in den Unterleib.“ Tags darauf: „Saint-Denis. In der vergangenen Nacht sind Einbrecher in die Fabrik von Ternois eingestiegen.“

Der Arzt Viaud-Conand empfahl 1909 in der Chronique médicale, die Apachen zu sterilisieren. „Die menschliche Gemeinschaft hat die Pflicht, sich gegen diesen entsetzlichen menschlichen Unrat und vor allem gegen die Abkömmlinge dieser entarteten Erzeuger zu schützen.“

Ab der Zwischenkriegszeit wich die Angst vor den schwarzen, übelriechenden Industrievorstädten einer neuen Angst – der vor der „roten Banlieue“. Bei den Parlamentswahlen 1924 errang die junge Kommunistische Partei Frankreichs (PCF) überraschend in Seine-Banlieue und Seine-et-Oise neun Parlamentssitze. Die kommunistische Zeitung L’Humanité jubelte: „Rund um Paris bildet sich ein großer roter Fleck, der immer größer wird. Strategisch ist der revolutionäre Sieg nicht von der Hand zu weisen. Paris, die Hauptstadt des Kapitalismus, ist von einem Proletariat umzingelt, das sich auf seine Macht besinnt.“

Das Motiv der kommunistischen Umzingelung wurde in der Folge stetig wiederholt: von der PCF, die ihre Anhänger mobilisieren und ihren Gegnern Angst machen wollte, aber auch vom Bürgertum, das bei der Vorstellung einer Vorstadtkommune nach bolschewistischem Vorbild erzitterte.

Während die PCF in den Vorstädten immer mehr an Boden gewann und 1925 die Rathäuser von Bobigny, Saint-Denis, Saint-Ouen, Aubervilliers und Ivry eroberte, schlachteten zahlreiche Autoren das lukrative Angstthema aus – so auch ein gewisser ­Édouard Blanc, der in seinem Buch behauptete, dass in den Vorstädten an der Seine 300 000 „Moscoutaires“ auf das Startsignal für den bewaffneten Kampf warteten. Dabei hatte die Kommunistische Partei damals gerade einmal 15 000 Mitglieder.

Das Buch des Jesuiten Pierre ­Lhande „Christ dans la banlieue“ (Plon, 1927) verkaufte sich hunderttausendfach. „Das muss man gesehen haben“, schrieb er darin. „Durch die beschlagenen Fensterscheiben der Gastwirtschaften sieht man maskenhafte Arbeitergesichter um einen Holztisch gedrängt, das energische Kinn in die schwielige Hand gestützt, in den Blicken lodert die zweifache Halluzination des schrankenlosen Alkoholgenusses und der ‚großen Stunde der Revolution‘, die der Redner mit einer brutalen Vision beschwört.“

Der Verfolgungswahn legte sich in dann in den „Trente Glorieuses“ (den „glorreichen“ Jahren von 1945 bis 1975), obwohl die PCF in der Ban­lieue noch stärker wurde. Doch die Pariser Vororte, in denen sich ein brachialer Stadtumbau vollzog, blieben ein Unruheherd. Wie im 19. Jahrhundert die Fabriken schossen dort jetzt die „Großsiedlungen“ aus dem Boden, die Riegel und Türme des sozialen Wohnungsbaus.

Nach einer kurzen Phase des Entzückens über die städtebauliche Modernität sprachen Kritiker bald von „grauen Vorstädten“ aus Beton und Tristesse. Der Ausdruck „cages à lapin“ (Kaninchenkäfige) machte die Runde. Journalisten, Wissenschaftler und Politiker kritisierten eine Stadtplanung, die mit ihrem baulichen Einheitsbrei, der Trennung zwischen Wohnumfeld und Arbeitsplatz, fehlenden Freizeitflächen und Begegnungsmöglichkeiten Menschen krank mache. Eine Artikelserie in France Soir 1963 über „Das Übel der Großsiedlungen“ fand einen Namen für diese Krankheit: „Sarcellitis“, nach dem Pariser Vorort Sarcelles.

Sarcelles mit mehr als 10 000 Wohnungen galt anfangs als Modell. Doch im Januar 1960 schrieb Le Figaro von einem „Menschensilo“, einer „Welt für sich, in der Menschen auf engstem Raum zusammengedrängt leben und niemandem mehr zum Singen zumute ist“. 1965 klagte eine Bewohnerin in einer viel beachteten Fernsehreihe: „Man ist eine Nummer, man ist ein Nichts, man ist gar nichts, man ist eine von 80 000.“

Es hieß, in den tagsüber männerlosen Betonvorstädten – die Männer waren ja bei der Arbeit – verdürben die Sitten, die Frauen neigten zu Ehebruch und Prostitution. Jean-Luc Godard griff das Thema in seinem Film „Zwei oder drei Dinge, die ich von ihr weiß“ (1967) auf, in dem Marina Vlady als Bewohnerin der „Cité des 4000“ in La Courneuve aus Geldnot und Langeweile ihre Reize zu Markte trägt.

Zum Motiv der krankmachenden Vorstadt kam zu Beginn der 1980er Jahre ein weiteres: das der Vorstadt als Brutstätte von Kriminalität, Gewalt und Drogenhandel, das schon bald unter dem Namen „problème des quartiers“ bekannt wurde. Bis heute hat es nichts von seiner Aktualität eingebüßt.

Nach und nach wurde es um neue Bedrohungen wie Überfremdung, Kommunitarismus und religiöse Radikalisierung erweitert. Zur Veranschaulichung dient gern das Département ­Seine-Saint-Denis. Alles, was die me­dia­le Maschine am Laufen hält, wird dabei bereitwillig aufgegriffen – auch das gute Abschneiden des Linkskandidaten Jean-Luc Mélenchon in diesem Département bei der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen mit 49 Prozent der abgegebenen Stimmen – und mit bis zu 80 Prozent in einigen Stimmbezirken der Großwohnsiedlungen.

Die Revue des deux mondes vom 1. April 2022 bescheinigte dem Kandidaten von La France Insoumise, er habe mit seiner „neuen linksmuslimischen Strategie“ „vor allem in Seine-Saint-Denis und Roubaix muslimische Stimmen erobert“. Zur Angst vor der roten Banlieue kommt also die Angst vor der islamischen Banlieue – der „islamisierten Vorstadt“, wie es in Kreisen der extremen Rechten gern heißt. Vor zehn Jahren holte der Sozialist François Hol­lande in diesem Département im ersten Wahlgang 40 und im zweiten Wahlgang 65,3 Prozent, aber damals sprach niemand von einem „muslimischen Votum“.

In 200 Jahren ist von den verschiedenen Hirngespinsten über Seine-Saint-Denis kein einziges Wirklichkeit geworden. Weder die Apachen noch die trunksüchtigen Arbeiter, weder die wilden Kommunisten noch die sich in den Großsiedlungen verschanzenden Mudschaheddin sind bislang über die Hauptstadt hergefallen.

Trotzdem dient das Département, das so viele Rekorde hält (höchste Armutsquote in Kontinentalfrankreich, höchster Zuwandereranteil), weiter als Projektionsfläche für die Ängste der bürgerlichen Gegenwart. Darin zeigt sich auch das Beharrungsvermögen einer allgemeinen Prolophobie, die über die Herkunft, Staatsangehörigkeit oder Religion der Vorstadtbewohnerinnen und -bewohner hinausreicht.

1 Fabrice Delphi, „Outre-Fortifs“, Paris (R. Malot Éditeur) 1904, www.gallica.fr.

Aus dem Französischen von Andreas Bredenfeld

Le Monde diplomatique vom 07.07.2022, von Benoît Breville