09.06.2022

Schaut auf Syrien

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Schaut auf Syrien

Durch den Krieg in der Ukraine ist der Konflikt in und um Syrien noch unlösbarer geworden. Deswegen sollte sich Europa darauf konzentrieren, den Menschen vor Ort effizienter zu helfen. Eine Neuordnung der UN-Hilfe und ein koordiniertes Vorgehen der Geber würden die Not lindern und Extremismus entgegenwirken.

von Kristin Helberg

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Das Muster ist bekannt. Je näher ein Krieg, je ähnlicher uns seine Opfer, desto größer die Betroffenheit. Es ist deshalb nur logisch, dass Russlands Angriff auf die Ukraine andere Krisen in den Hintergrund treten lässt. Ungünstig ist allerdings, dass der Ukrainekrieg diese anderen Konflikte auch noch verschärft, während er ihnen die Aufmerksamkeit stiehlt.

Schuld daran sind in erster Linie die ausbleibenden Getreidelieferungen aus Russland und der Ukraine sowie die gestiegenen Energiekosten, die zu höheren Lebensmittelpreisen und mehr Hunger führen. In Ägypten drohen Brot-Unruhen, die Lage im Jemen gilt den UN schon jetzt als schlimmste humanitäre Krise der Welt, der Libanon steht an der Schwelle zum Staatsbankrott, in Somalia verhungern Kinder, weil eine jahrelange Dürre ihre Heimatregionen unbewohnbar gemacht hat und jetzt noch weniger Hilfe ankommt. Alles weit weg, zumindest solange die Menschen sich in ihrer Verzweiflung nicht auf den Weg nach Europa machen.

Ein Konflikt jedoch lässt sich nicht ignorieren, denn er ist für Europa – und besonders für Deutschland – zu teuer und zu präsent: der Krieg in und um Syrien. Mehr als 43 Milliarden Euro haben westliche Staaten seit 2011 für die Syrien-Hilfe der Vereinten Nationen ausgegeben, nie zuvor in der Geschichte der UN ist so viel Geld in ein einziges Land geflossen.

Deutschland ist dabei besonders großzügig, Jahr für Jahr stellt Berlin den UN-Organisationen mehr als eine Milliarde Euro zur Verfügung, 2020 und 2021 waren es jeweils 1,7 Milliarden, für 2022 wurden 1,05 Milliarden zugesagt. Damit ist die Bundesrepublik der wichtigste bilaterale Geber humanitärer UN-Hilfe für Syrien. Die Tatsache, dass es den Menschen in Syrien trotz dieser Summen so schlecht geht wie noch nie, sollte die Verantwortlichen wachrütteln.

Zugleich beherbergt Deutschland die größte syrische Exilgemeinde Europas. Mehr als 880 000 Syrerinnen und Syrer leben in der Bundesrepublik. Viele fühlen sich von den Bildern aus Mariupol, Charkiw und Butscha sowie angesichts fliehender Ukrai­ne­r:in­nen an ihr eigenes Leid erinnert, an Jahre der Bombardements und Hungerblockaden, an ihre Flucht, die Ankunft in der Fremde, die Sorge um Zurückgebliebene.

Deren Not sowie die Ungewissheit und Angst, die den Alltag in Syrien bis heute dominieren, verhindern eine Rückkehr der Geflüchteten. Gründe genug, um im Umgang mit dem Syrienkonflikt Neues zu wagen. Trotz, oder besser: wegen der Ukraine. Denn die zentrale Rolle Russlands in diesem Konflikt macht diesen besonders anfällig für die Folgen des Krieges in der Ukraine.

Offensichtlich sind die Parallelen in der russischen Kriegsführung. Seit 2015 hilft der Kreml dem syrischen Machthaber Assad, oppositionell kontrollierte Gebiete zurückzuerobern, vor allem durch den Einsatz der russischen Luftwaffe. Die dabei angewendete Dreifachstrategie – Beschuss von Wohnvierteln auch mit geächteten Waffen, gezielte Angriffe auf die zivile Infrastruktur und schamlose Propaganda, um die Gräuel zu rechtfertigen – dient jetzt als Vorlage für den Krieg in der Ukraine. Die Mittel sind vergleichbar, auch wenn die Ziele völlig verschieden sind: Während Putin in der Ukraine eine demokratisch gewählte Regierung angreift, hält er in Damaskus ein despotisches Regime an der Macht.

Assad verdankt seine Herrschaft also der militärischen und politischen Unterstützung aus Moskau. Daraus entwickelte sich im Laufe der Jahre eine Abhängigkeit, die der Kreml-Chef geschickt in diplomatisches Kapital umwandelte. Wer von Assad Zugeständnisse wollte – bei Waffenruhen, der Genehmigung von Hilfskonvois oder der „Evakuierung“ von Anwohnern (die in Wirklichkeit ihre Vertreibung bedeutete) –, brauchte den Hebel Putins.

Diesem gelang mit seinem Syrien-Engagement die Rückkehr in den Kreis der Weltmächte, nachdem der damalige US-Präsident Barack Obama Russland im März 2014 als „Regionalmacht“ degradiert und Moskau sich kurz darauf mit der Annexion der Krim ins internationale Abseits manövriert hatte. Seit 2015 galt: Der Weg zu einer politischen Lösung des Syrienkonflikts führt über Moskau.

Dieser Weg ist nun verschüttet. Durch seinen Angriff auf die Ukraine ist Putin für die Amerikaner und Europäer vom Strippenzieher zum Paria geworden – auch mit Blick auf Syrien. Damit ist der Konflikt noch unlösbarer geworden als zuvor, denn es gibt schlicht keine offiziellen Kanäle mehr, über die kreative und vertrauensvolle Diplomatie auf Augenhöhe stattfinden könnte.

2015 und 2016 starteten der damalige US-Außenminister John Kerry und sein Amtskollege Sergei Lawrow die einzige ernst gemeinte politische Initiative, um den Krieg in Syrien zu deeskalieren. Doch sie scheiterten an der Tatsache, dass das syrische Regime keine ernsthaften Veränderungen umsetzen kann, ohne daran zu zerbrechen – was Russland um jeden Preis verhindern wollte.

In das jetzt entstandene geostrategische Vakuum drängt die Türkei, die in Syrien eine ambivalente Rolle spielt. Während Ankara im Nordwesten durch die Präsenz eigener Soldaten das Assad-Regime und Russland daran hindert, eine umfassende Offensive zu starten, greift es im Nordosten regelmäßig kurdische Gebiete an. In drei völkerrechtswidrigen Militärinterventionen hat Präsident Recep Tayyip Erdoğan Teile Nordsyriens besetzt und dabei mehrere hunderttausend Menschen vertrieben – überwiegend Kurden, aber auch Jesiden und Assyrer.

Erdoğan kündigt weitere Invasion an

Diese türkischen Protektorate werden mit Hilfe islamistischer Söldnertruppen, der Syrischen Nationalen Armee (SNA), kontrolliert, die UN-Berichten zufolge plündern, Eigentum beschlagnahmen, vergewaltigen, foltern und religiöse Stätten zerstören. Seit der letzten Offensive im Oktober 2019 liefern einige EU-Staaten wie Deutschland, Frankreich und Schweden deshalb keine Waffen mehr in die Türkei.

Durch Putins Ukraine-Feldzug hat Erdoğan jedoch Oberwasser, denn Europa braucht ihn mehr denn je. Als ­Nato-Partner muss Ankara den Mitgliedsanträgen Schwedens und Finnlands zustimmen, fordert im Gegenzug aber eine Aufhebung des Waffenembargos und ein Ende der schwedischen Unterstützung für kurdische Dissidenten. Zugleich fungiert Erdoğan als eine Art Türsteher. Er lässt keine russischen Kriegsschiffe durch den Bosporus und keine Flüchtenden nach Europa. Und während Russlands Kräfte in der Ukrai­ne gebunden sind und die EU mit den Folgen von Putins Angriffskrieg beschäftigt ist, schafft die Türkei in Sy­rien Fakten.

Bei türkischen Drohnenangriffen sterben regelmäßig Angehörige der Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF). Die haben zusammen mit Amerikanern und Europäern den sogenannten Islamischen Staat (IS) bekämpft, gelten der Türkei aber wegen angeblicher Verbindungen zur PKK als Feinde.

In den türkisch besetzten Gebieten im Norden baut Ankara außerdem Unterkünfte für 1 Million Syrer:innen, die Erdoğan aus der Türkei zurückschicken will, weil sich die Stimmung dort zunehmend gegen die mehr als 3,7 Millionen syrischen Geflüchteten richtet. 57 000 einfache Häuser stehen bereits. Die damit verbundene demografische Neuordnung der Region – manche sprechen von ethnischer Säuberung, da Kurden vertrieben und Araber angesiedelt werden – ist ganz in Erdoğans Sinne. Aber sie wird die innersyrischen Konflikte weiter schüren.

Der gesellschaftliche und politische Druck nationalistischer Kräfte in der Türkei ist mittlerweile so groß, dass Er­do­ğan die Rückführung der Sy­re­r:in­nen vor den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen im kommenden Jahr beschleunigen will. Ende Mai kündigte er eine vierte Militäroperation in Nordsyrien an, die die einzelnen türkisch kontrollierten Gebiete entlang der Grenze zu einer zusammenhängenden „Sicherheitszone“ verbinden soll.

Im Mittelpunkt stünde dabei die Region um Kobani – jene Stadt, die Ende 2014 zum internationalen Symbol des kurdischen Widerstands gegen den IS wurde, als kurdische Kämp­fe­r:in­nen mit Unterstützung der US-Luftwaffe die Stadt vor einer Übernahme durch die Dschihadisten bewahrten. Sollte türkisches Militär Kobani angreifen, müsste der Westen reagieren – dieses Szenario zeigt, wie mächtig sich Erdoğan inzwischen auch gegenüber Europäern, Amerikanern und Russen fühlt. Bisher wartete Erdoğan bei seinen Syrien-Offensiven auf grünes Licht aus Washington und Moskau. Jetzt scheint er bereit, seine Interessen im Alleingang durchzusetzen.

An einer Entwicklung wird der Ukraine­krieg dagegen nichts ändern: Assads Rehabilitierung in der Region. Die Länder des Nahen Ostens vermeiden eine eindeutige Verurteilung oder gar Sanktionierung Russlands, weil sie Moskau als wichtigen Gegenpol zu Washington und Putin als Partner betrachten. Kairo, Abu Dhabi und Riad lassen bewusst alle Türen offen – zu groß ist ihre Enttäuschung über die Wankelmütigkeit und das Desinteresse der Amerikaner und die Doppelmoral der Europäer, die mit ihrer inkonsistenten Nahostpolitik Glaubwürdigkeit verspielt haben. Mit der schrittweisen Normalisierung ihrer Beziehungen zu Damaskus treiben sie Putins Plan voran, das Assad-Regime international zu rehabilitieren, um Geld für den Wiederaufbau zu beschaffen.

Im März war Assad in den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE) – sein erster Staatsbesuch in einem arabischen Land seit Ausbruch der Revolution 2011. Die Arabische Liga plant Syriens Wiederaufnahme, erste Staaten haben ihre Botschaften in Damaskus wiedereröffnet. Da Assad nicht so bald abtreten wird, will die arabische Nachbarschaft Damaskus in ihren Geltungsbereich zurückholen und nicht dem Einfluss Irans, Russlands und der Türkei überlassen.

Assad hat seine Herrschaft also gefestigt, während 90 Prozent der Sy­re­r:in­nen in Armut leben, 14,6 Millionen Menschen auf humanitäre Hilfe angewiesen sind und 7 Millionen Binnenvertriebene in zugigen Zelten und provisorischen Unterkünften ausharren. Wie er das geschafft hat? Indem er die humanitäre Hilfe zu einem Instrument des Machterhalts gemacht hat.

Geschickt missbraucht das syrische Regime die zu 80 Prozent vom Westen finanzierten UN-Gelder, um die eigenen Devisenbestände aufzufüllen, Anhänger zu belohnen und Gegner zu bestrafen. Die erschreckenden Details dieses Systems sind in dem Bericht „Rescuing Aid in Syria“ nachzulesen, den die US-Wissenschaftlerin Natasha Hall für das Center for Strategic and International Studies verfasst hat.1

Die Manipulation beginnt mit dem künstlich niedrigen Wechselkurs, den die UN beim Kauf Syrischer Pfund bezahlen müssen. Dadurch landen 51 Cent pro Dollar – also mehr als die Hälfte der Hilfsgelder – als Devisenreserven bei der Zentralbank. Der Rest wird von den UN-Unterorganisationen – UNDP, Unicef, Unesco, WHO und anderen – an syrische Partnerorganisa­tio­nen weitergegeben, die zum Machtzirkel Assads gehören, dem Sicherheitsapparat oder Militär nahestehen oder mit dem Regime verbunden sind. Dass viele dieser Partner auf der Sanktionsliste der EU und USA stehen, kümmert die UN wenig – Hauptsache, Genehmigungen werden erteilt und die Arbeit läuft.

Schätzungen zufolge gehen 60 bis 80 Prozent der Hilfe an den Syrischen Arabischen Roten Halbmond (Sarc), der zwar zur Internationalen Rotkreuz und Rothalbmond-Bewegung gehört und von tausenden Ehrenamtlichen unterstützt wird, aber auf Leitungsebene vom Regime gesteuert ist. So dürfen Sarc-Mitarbeiter Nahrungsmittelhilfen des World Food Program (WFP) nur an Bedürftige verteilen, die zuvor vom Geheimdienst überprüft wurden.

Ein weiterer wichtiger Partner ist ausgerechnet der Syria Trust For Development, die NGO der Präsidentengattin Asma al-Assad. Dass das Geld am Ende nicht bei den Bedürftigsten landet, sondern bei loyalen Regimeanhängern, nehmen die UN-Organisationen in Kauf. Zudem ignorieren sie die systematischen Versuche des Regimes, in den zurückeroberten und oft schwer zerstörten Gebieten die Bevölkerungsstruktur zu verändern. Geflohene Eigentümer und Grundbesitzer werden mit Hilfe neuer Gesetze enteignet, ihr Besitz wird versteigert oder an Regimeanhänger vergeben.

Diese Probleme sind seit Jahren bekannt, doch die UN scheinen mit der Durchsetzung ihrer eigenen humanitären Kriterien – Neutralität, Unparteilichkeit und Unabhängigkeit – überfordert. Die verschiedenen Unterorganisationen lassen sich vom Regime gegeneinander ausspielen, wer Kritik übt, bekommt das Visum nicht verlängert und muss ausreisen. Manch hochrangiger UN-Funktionär in Damaskus klingt inzwischen wie ein Bewunderer des Regimes.

Internationale Geber wie Deutschland und die EU sollten ihre Hilfe für die Regimegebiete deshalb an konkrete Bedingungen oder Empfänger knüpfen. Wenn europäische Steuergelder weiterhin bei denjenigen landen, die aus gutem Grund sanktioniert sind, müssen Hilfen zurückgehalten werden.

Dadurch würde der Druck auf die UN wachsen, dem Regime klarzumachen, dass die Milliarden entweder nach humanitären Kriterien ausgegeben werden oder gar nicht. Schließlich ist es Assad, der die UN braucht und nicht umgekehrt. Da die UN in Syrien staatliche Aufgaben übernommen haben, ist das Regime ohne die internationale Hilfe nicht lebensfähig. Die verschiedenen Unterorganisationen müssen geeint auftreten, Regime-freundliches Personal austauschen und eine Position der Stärke entwickeln, indem sie unabhängige Bedarfspläne aufstellen und diese umsetzen. Verweigert das Regime seine Zustimmung, wird das Geld zunächst nicht ausgezahlt. Zuckerbrot und Peitsche – anders wird es nicht gehen.

Eine solche Neuausrichtung der UN-Hilfe würde nicht nur die Menschen in den Regimegebieten besser versorgen, sondern müsste auch sicherstellen, dass der autonom verwaltete Nordosten die notwendige Unterstützung bekommt. Seitdem der syrisch-irakische Grenzübergang al-Jarubia Anfang 2020 durch Russlands Veto im Weltsicherheitsrat für grenzüberschreitende Hilfe geschlossen wurde, muss die gesamte humanitäre Hilfe für den Nordosten über Damaskus erfolgen.

Mit den Behörden der Autonomen Verwaltung Nord- und Ostsyrien (AANES), die im Nordosten fast ein Drittel des Staatsgebietes kontrollieren und noch immer unter einem gewissen Einfluss der PKK-nahen Partei der Demokratischen Union (PYD) stehen, dürfen die Vereinten Nationen nicht kooperieren. Dutzende NGOs versuchen, entstandene Lücken zu schließen, doch vor allem die Gesundheitsversorgung im Nordosten leidet unter dem faktischen Vetorecht des Assad-Regimes.

Während der Coronapandemie lieferte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) weder notwendiges Testmate­rial noch entsprechende Impfdosen, weil Damaskus keine Erlaubnis dazu erteilte. Sollte die WHO aus Rücksicht auf das Regime weiterhin die 3 Mil­lio­nen Menschen in Nordostsyrien im Stich lassen, müssten sich ausländische Geber lokale Partner suchen. Dafür herrschen dort gute Voraussetzungen, da die mehr als 200 ansässigen NGOs relativ frei agieren können.

Moskau könnte den letzten Grenzübergang blockieren

Selbst vorsichtige Länder wie Deutschland, die den Unmut der Türkei fürchten, weil diese das Autonomieprojekt aufgrund der Verbindungen zur PYD als „terroristisch“ bezeichnet und bekämpft, können folglich helfen. Denn sie müssten nicht direkt mit der AANES zusammenarbeiten. Das Gesundheitssystem ließe sich etwa über den Kurdischen Roten Halbmond unterstützen, eine unabhängige Organisation, die seit Jahren Geld aus Europa und den USA erhält und sich als zuverlässiger Partner erwiesen hat.

Die Entwicklung der Region ist wichtig, um dem Wiedererstarken des IS entgegenzuwirken. Dieser rekrutiert bereits erfolgreich unter den Be­woh­ne­r:in­nen des Camps al-Hol – in dem viele Angehörige ehemaliger IS-Kämpfer leben – sowie unter der verarmten Bevölkerung in den Provinzen Rakka und Deir al-Sor. Dort leiden die Menschen unter einer jahrelangen Dürre und der Tatsache, dass der Euphrat so wenig Wasser führt wie noch nie, weil die Türkei am Oberlauf mehr Wasser entnimmt, als sie einem Abkommen gemäß darf.

Der Getreideanbau im Nordosten sicherte früher die landesweite Brotversorgung, doch jetzt sind viele landwirtschaftliche Flächen unbenutzbar und der Region droht der wirtschaftliche Kollaps. 75 Prozent Ernteausfälle können, auch wegen des Ukrainekriegs, nicht so einfach durch Einfuhren ersetzt werden, die Nahrungsmittelpreise haben sich vervielfacht.

Umso dringlicher sind Investi­tio­nen in die Infrastruktur und Landwirtschaft – das haben auch die USA erkannt, die deswegen im April ihre Syrien-Sanktionen für den Nordosten aufgehoben haben. Dadurch sollen auch private Firmen und andere Regierungen zu mehr Engagement ermutigt werden. Europa sollte diese Chance nutzen, um wenigstens in einem Drittel des syrischen Staatsgebiets eine nachhaltigere Entwicklung in Gang zu setzen, die die Bewohner langfristig unabhängig von humanitärer Hilfe macht.

Bleibt das Ringen um die Versorgung der 4 Millionen Menschen in der Provinz Idlib. Die Mehrheit von ihnen sind Binnenvertriebene, die im Laufe des Kriegs mehrfach vor dem Regime fliehen mussten und seit Jahren in Zeltstädten entlang der Grenze zur Türkei oder in Bauruinen leben. Viele Kinder gehen nicht zur Schule, weil sie arbeiten müssen, ein Fünftel der Selbstmorde werden hier laut Save The Children von Jugendlichen unter 20 Jahren begangen.

Noch dürfen die Vereinten Natio­nen das letzte von Regimegegnern kontrollierte Gebiet über den Grenzübergang Bab al-Hawa versorgen – ohne Zustimmung des Regimes. Doch dem einzig verbliebenen Übergang für grenzüberschreitende UN-Hilfe droht im Juli das Aus, wenn der Weltsicherheitsrat über eine Verlängerung abstimmen muss. Sollte Russland wie zuvor sein Veto einlegen, um die gesamte humanitäre Hilfe über Damaskus zu lenken, könnte die humanitäre Versorgung im Nordwesten zusammenbrechen.

Das zentrale Problem in Idlib ist der lokale Machthaber Ha’at Tahrir asch-Scham (HTS), ein Zusammenschluss extremistischer Milizen, dem auch der frühere Al-Qaida-Ableger Nusra-Front angehört und der deshalb international als Terrorgruppe gilt. Seit 2017 hat HTS mit der „Syrischen Erlösungsregierung“ (Syrian Salvation Government) eigene Verwaltungsstrukturen aufgebaut, unter denen inzwischen 2,7 Millionen Menschen leben. Westliche Geber haben sich daraufhin zurückgezogen oder fördern nur noch NGOs, die beweisen können, dass ihr Geld nicht bei HTS landet.

Dadurch sind lokale Organisationen unter extremen Druck geraten. Einzelne NGOs könnten sich unter diesen Umständen nicht behaupten, schreibt Natasha Hall in ihrer Studie, sie fordert deshalb einen kollektiven Ansatz der internationalen Gemeinschaft. Geberländer und UN sollten sich zusammenschließen und mit HTS klare Rahmenbedingungen für die Unterstützung im Nordwesten aushandeln.

Dadurch würde der Raum für humanitäre Hilfe besser geschützt und die Macht des Salvation Governments begrenzt, meint Hall. Da HTS sich seit Längerem um mehr Anerkennung bemüht, indem seine Führung sich pragmatisch gibt, ausländische Kämpfer ausweist und radikalere Gruppen wie den IS bekämpft, ist die Gebergemeinschaft in der Position, das Verhalten der Terrorgruppe zu beeinflussen. Dabei geht es nicht darum, HTS zu legitimieren, sondern die wertvolle Arbeit von zivilgesellschaftlichen Partnern aufrechtzuerhalten – im Interesse der Menschen in Idlib.

Für diese Wende in der internationalen Syrien-Hilfe braucht es ehrliche Einsicht, detaillierte Kenntnisse und Entschlossenheit. Europäer und Amerikaner müssen verstehen, dass Sy­rien bis auf Weiteres ein geteiltes Land bleiben wird. In den vier verschiedenen Regionen – Regimegebiete, Nordosten, Nordwesten und türkische Protektorate – entwickeln sich unterschiedliche Realitäten, die entsprechende Antworten der internationalen Gemeinschaft erfordern. Sobald diese untersucht und erkannt sind, müssen mutige Schritte folgen, die die Menschen in den Mittelpunkt stellen und nicht die Interessen der jeweiligen Machthaber beziehungsweise ausländischer Akteure. Dabei gilt: Je kleiner und lokaler die Partner, desto effektiver die Hilfe.

In den vom Assad-Regime kontrollierten Gebieten dürfen sanktionierte Organisationen keine UN-Gelder mehr erhalten, für die Verteilung von Hilfe müssen die Regeln der UN und nicht die des Regimes gelten. Der Nordosten sollte nicht nur humanitär versorgt, sondern auch mit Infrastrukturmaßnahmen entwickelt und stabilisiert werden. Dadurch würde der Einfluss der PYD auf die autonome Verwaltung zurückgedrängt werden, was dabei helfen könnte, die Bedenken der Türkei zu zerstreuen.

Diese Bedenken sind in erster Linie innenpolitisch motiviert – Erdoğan braucht die Kurden als existenzielle Bedrohung, um die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen 2023 zu gewinnen. Vor diesem Hintergrund sollte sich Deutschland in Syrien nicht von Er­doğans Machtkalkül, sondern von eigenen Prioritäten leiten lassen. Gleiches gilt für den Nordwesten: Dort braucht es ein koordiniertes Vorgehen aller Geber, um gegenüber HTS Bedingungen durchzusetzen, die eine langfristige Versorgung der Menschen ermöglichen, ohne die Terrorgruppe zu stärken.

Gelingt eine solche Neuausrichtung des Hilfesystems nicht, werden die Milliardenzahlungen des Westens weiter das Assad-Regime stärken und die bedürftigsten Menschen verelenden lassen. Ohne Aussicht auf Besserung werden sich vor allem junge Menschen auf den Weg nach Europa machen oder sich extremistischen Gruppen anschließen. Wer verhindern will, dass weiterhin Menschen fliehen und sich ein IS 2.0 bildet, muss endlich dafür sorgen, dass die Hilfe in Syrien dort ankommt, wo sie am dringendsten gebraucht wird.

1 „Rescuing Aid in Syria“, CSIS, 14. Februar 2022.

Kristin Helberg ist Journalistin und Politikwissenschaftlerin. Sie berichtete sieben Jahre lang aus Damaskus und hat mehrere Bücher zu Syrien geschrieben. Zuletzt erschien von ihr „Der Syrien-Krieg. Lösung eines Weltkonflikts“ im Herder-Verlag.

© LMd, Berlin

Le Monde diplomatique vom 09.06.2022, von Kristin Helberg